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4 Ticktack

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Früher war mehr los in der Stadt, das wusste Henk noch. Da gab es samstags auf dem Großen Markt Kasperletheater. Vater war oft mit ihm dorthin gegangen, und manchmal aßen sie hinterher noch Pfannkuchen an dem Stand vor der Sankt-Bavo-Kirche. Das musste aber ein Geheimnis bleiben, sagte Vater dann mit einem breiten Grinsen – also durfte Henk es Mutter nicht verraten. Trotzdem kam Mutter jedes Mal wieder dahinter. Henk hatte keine Ahnung, woran das lag, und dann mussten sie alle drei lachen. Inzwischen wusste er, dass er hinterher immer ganz weiß im Gesicht war von dem Puderzucker und dass Mutter gar nicht solch eine Hellseherin war, wie er befürchtet hatte.

Aber der Pfannkuchenstand war verschwunden, denn die Zutaten waren nicht mehr erhältlich. Der Mann mit dem Kasperletheater wagte nicht mehr aufzutreten, weil er Angst hatte, dass Kasper und Gretel den Führer beleidigen könnten.

Liese hatte sich bei Henk eingehakt und schien sich keine Gedanken darüber zu machen, dass es kein Kasperletheater und keinen Pfannkuchenverkäufer mehr gab. Es machte ihr auch nichts aus, dass die Schaufenster leer und viele Fenster zugenagelt waren. Sie lief einfach langsam neben ihm her und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die auf ihr Gesicht fielen. Ein bisschen zu langsam nach Henks Geschmack. Er hatte noch mehr Pläne für heute Nachmittag. Er konnte die ganze Zeit über nur an eines denken: an seinen raffinierten Freund Jaap, der irgendetwas im Schilde führte.

„Komm, Liese, wir gehen heute hier entlang.“ Henk zeigte auf die kleine Gasse auf der linken Seite.

„Nee, nich da.“ Ihre Zöpfe schaukelten wild vor ihrem Gesicht herum, während sie mit aller Entschiedenheit den Kopf schüttelte.

„Aber das ist auch eine hübsche Straße, und ich glaube, da gibt’s sogar ’nen Bäcker.“

Liese blickte mit ihren großen braunen Augen zu ihm auf. „Ticktack?“

Bei ihren Spaziergängen kamen sie oft an einem großen Uhrengeschäft vorbei und sahen sich dann die Uhren im Schaufenster an. Wenn es auf der Straße sehr ruhig war, konnte man durch das Schaufenster hindurch hören, wie sie tickten.

„Nein, jetzt gehen wir nicht zum Uhrengeschäft. Wir gehen heute mal in diese Richtung.“

Wieder flogen die Zöpfe hin und her. „Ticktack.“

„Ich will heute nicht so weit laufen, Liese.“ Henk schaute seine Schwester an und sah an ihrem Blick, dass er diesen Kampf verlieren würde.

„Ticktack?“, wiederholte sie leise.

„Na gut, gehen wir.“

Liese legte die Hand auf Henks Brust und lächelte. „Lieb“, murmelte sie. Henk zupfte sie sanft an einem Zopf und nahm ihre Hand. „Liese ist auch lieb.“

Gerade, als sie in die Barteljorisstraat einbiegen wollten, hörte er Motorengebrumm. Er kannte das Geräusch der deutschen LKWs inzwischen nur allzu gut. Liese hatte den Schauer gespürt, der ihm über den Rücken lief, und schob sich noch ein bisschen näher an ihn heran.

Die Lastwagen brausten in hohem Tempo durch eine kleine Seitenstraße heran.

„Komm, Liese.“ Henk zog sein Schwesterchen auf die Seite und fand einen Eingang, in dem sie sich in Sicherheit bringen konnten. Sie waren nicht die einzigen, die auf diese Idee gekommen waren.

Eng aneinandergedrückt starrten die Schutz suchenden Leute auf die Fahrzeugkolonne. Henk wollte eigentlich nicht hinschauen, die LKWs einfach ignorieren, aber sein Blick wanderte unwillkürlich zum Führerhaus eines Lastwagens. Er sah den entschlossenen Blick in den Gesichtern der Soldaten und wusste, dass das für viele Menschen nichts Gutes heißen würde. Manchmal gelang es ihm, nicht weiter darüber nachzudenken und einfach mit dem weiterzumachen, was er gerade tat. Aber in Momenten wie diesem ging das nicht. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, wollte sich jedoch nichts anmerken lassen, denn Liese war bei ihm, und es standen lauter Fremde um ihn herum.

Er fragte sich, ob es den anderen ebenso ging wie ihm. Sie schwiegen, genau wie er selbst. Die dunklen Wagen fuhren polternd an ihnen vorbei wie ein Heer großer, schwarzer Käfer und verschwanden kurz darauf aus ihrem Blickfeld. Langsam ebbte das Motorengeheul ab. Die kleine, dichtgedrängte Gruppe von Passanten löste sich wieder auf. Für sie war die Bedrohung vorbei, sie konnten wieder weiter.

„Die armen Menschen“, hörte Henk einen alten Mann flüstern.

„Ja, wen werden sie wohl diesmal holen? Ob sie weitermachen, bis es keine Juden mehr gibt?“ Eine etwa fünfzigjährige Frau streckte die Hand aus, um dem Mann aus dem Eingang zu helfen.

„Gott wird über sie richten. Wir wollen froh sein, dass wir das nicht machen müssen.“

Die Frau blieb stehen. „Was meinst du damit, Vater?“

„Diese armen Soldaten. Sie helfen mit, das geliebte Volk Gottes zu vernichten. Lass uns dafür beten, dass Gott ihnen gnädig ist.“

„Also weißt du, Vater …“

Henk verstand das nicht. Der alte Mann schien tatsächlich Mitleid mit den deutschen Soldaten zu haben.

Liese zog ihn am Arm. „Ticktack“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

„Ja, wir gehen gleich hin“, raunte Henk ihr zu.

Noch einmal flüsterte sie „Ticktack“ – in einem Ton, den er nicht begriff. Er schaute sie an und sah, dass ihr Blick auf den alten Mann gerichtet war.

„Was meinst du denn?“

„Is Ticktack!“ Liese strahlte, als hätte sie soeben ein großes Geheimnis entdeckt.

Henk schaute den alten Mann an, der sich bei der Frau eingehakt hatte. Mit seinem langen grauen Bart und der runden Brille erinnerte er ein bisschen an einen Opa aus einem Märchenbuch oder an den Propheten aus der biblischen Geschichte, die Lehrer van Soest kürzlich erzählt hatte.

„Ticktack!“, rief Liese, und die beiden Leute drehten sich zu ihnen um.

„Liese!“ Was hatte sie denn nur? Henk wollte seine Schwester wegziehen, aber es war schon zu spät.

Auf dem Gesicht der Frau erschien ein breites Lächeln, und sie kam direkt auf Liese zu.

Was sollte das nun wieder bedeuten?

„Hallo, hübsches Mädchen!“, sagte die Frau und nahm Lieses Hände. Henk fand das seltsam. Hübsches Mädchen – das sagte niemand über Liese. Man sah ihr schließlich an, dass sie behindert war. Kannte diese Frau sie? Das konnte kaum sein.

„Du bist doch das Mädchen, das immer mit seinem Bruder vorbeikommt, um dir unsere Uhren anzuschauen, stimmt’s?“

Liese nickte begeistert. Da begann Henk ein Licht aufzugehen. Das meinte sie also. Das waren die Leute vom Uhrengeschäft, und Liese hatte sie erkannt.

„Deine Schwester kann nicht so gut sprechen, oder?“ Die Frau sah ihn an. Ihm wurde warm. Sie schienen in Ordnung zu sein, diese Leute, aber die Sache war ihm doch ein bisschen unangenehm. Was ging sie das an?

„Du brauchst keine Angst vor uns zu haben“, sagte die Frau freundlich und tätschelte seinen Arm.

„Nein, das …“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendwie peinlich, dass er sich so hilflos fühlte. Er ärgerte sich über sich selbst.

Die Frau wandte sich wieder an Liese. „Du kannst gern mal zu uns reinkommen und Opas Uhren angucken. Er hat so viele Wanduhren und Standuhren und Armbanduhren. Sie ticken alle anders, jede auf ihre Art. Und meine Schwester Betsie hat immer irgendwas Leckeres da, was sie unseren Gästen anbieten kann.“

Der Opa nickte zustimmend und setzte hinzu: „Vielleicht möchte die Kleine auch mal sonntags zu deinem Kindergottesdienst kommen, Corrie.“

Henk nahm seine Schwester energisch an der Hand. „Ich glaube, wir müssen jetzt weiter.“ Aber Liese ließ sich nicht vom Fleck bewegen.

„Das wäre sehr schön, aber es geht nur, wenn ihre Eltern damit einverstanden sind.“ Wieder sah die Frau ihn an. „Du kannst sie ja mal fragen. Wie heißt du eigentlich?“

„Henk“, sagte er. Warum nannte er der Frau einfach so seinen Namen?

„Also, Henk, am Sonntagnachmittag haben wir immer so eine Art Gottesdienst für Behinderte. Dann singen wir miteinander, und ich erzähle eine Geschichte aus der Bibel. Vielleicht gefällt das deiner Schwester?“

Obwohl Henk eine christliche Schule besuchte, gingen sie nicht oft zur Kirche. Seit Vater zur Zwangsarbeit nach Deutschland eingezogen worden war, wollte Mutter überhaupt nicht mehr hingehen. Als Henk sie nach dem Grund gefragt hatte, hatte sie ihm keine Antwort gegeben, und er hatte sie nicht mehr darauf angesprochen. Er blieb sonntagmorgens auch gern ein bisschen länger im Bett liegen.

Er hatte keine Ahnung, was Mutter von dieser Idee halten würde. Er sah Liese an, aber er konnte nicht erkennen, ob sie begriff, worum es ging. Er zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht.“

„Na, du kannst deine Mutter ja einfach mal fragen. Du weißt ja, wo wir wohnen. Ihr müsst wirklich mal herkommen, um Betsies Plätzchen zu probieren! Kommt doch morgen Nachmittag einfach mal vorbei.“

„Pätzen!“, rief Liese fröhlich. Das hatte sie auf jeden Fall begriffen. Sie mussten lachen, weil die Kleine so begeistert war.

„Ja, die finden wir alle lecker. Gut, dann sehe ich dich vielleicht morgen, Liese? Deinen großen Bruder bringst du dann auch mit, ja?“

Das werden wir noch sehen, dachte Henk. Es kam ihm klüger vor, darauf jetzt nicht zu antworten. Man konnte sich doch nicht einfach mit einer wildfremden Person verabreden?

Die Frau ließ Lieses Hand los und klopfte dem alten Mann auf den Rücken.

„Sollen wir uns jetzt wieder auf den Heimweg machen, Vater?“ Der Mann tippte zum Abschied kurz an seinen Hut. „Vielleicht bis bald, Kinder. Möge der Herr euch segnen.“

„Das hast du schön gesagt, Vater“, nickte die Frau, und dann gingen die beiden langsam weiter.

Liese war anscheinend ebenso verblüfft wie Henk, denn sie vergaß völlig, dass sie noch keine Ticktacks gesehen hatte, als er ihre Hand nahm und mit ihr nach Hause ging.

Das Versteck im Uhrmacherhaus

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