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Ich bin süchtig nach Gesundheitstipps

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Das anonyme Bekenntnis einer Frau, die von der Psychosomatischen Naturhörigkeit (PsNa) befallen ist

Bis vor wenigen Jahren war mein Leben sozusagen problemfrei - meine vierjährigen Zwillinge rauchten, tranken und kifften nicht, meine zwölfjährige Tochter war noch niemals schwanger und meine Schwiegermutter mischte sich auch nicht in unser Leben ein, da sie mit ihrem Wanderverein „Rentner mobil, Deutschland gehört uns!“ ein recht eigenständiges Leben führte. Nur diese Migräneattacken jeden Monat zum 15. wurden immer lästiger, da halfen auch die auf der Stirn liegenden kalten Hände meines lieben Ehemannes nichts. Umsonst auch der von mir erzeugte Gegenschmerz – schwerster Kater nach Alkoholrausch vom 13. auf den 14. des Monats. Pünktlich zum 15. kam die gewohnte Attacke. Da beschloss ich von heute auf morgen, mich selbst naturheilkundlich zu informieren und zu behandeln.

Ach, hätte ich nur ahnen können, dass mich dieses Verlangen regelrecht verschlingen würde! Es begann mit dem harmlosen chinesischen Heilöl, mit dem ich der Migräne beim nächsten Aufflackern entgegensteuerte. Und schon der erste Versuch faszinierte mich. Die brennenden Augen ließen mich über lange Zeit den Migräneschmerz völlig vergessen. Ich war gefesselt und entdeckte das Internet als Schatzkästchen für Gesundheitstipps. Den Computer verließ ich von nun an nur noch für ganz dringende Toilettengänge. Beim Chatten schlürfte ich Vitamindrinks mit gemischten Gartenkräutern und selbstgezüchtetem Kefir, dabei knabberte ich fritierte Brennnesselblätter, Kekse mit Anissamen und Vogelmieretaler. Zu Ostern bat ich, ein Dutzend farbige Ordner zu verstecken - gelbe zur Ablage für akute Gesundheitsbeschwerden, rote zur Ablage für chronische Gesundheitsbeschwerden und schwarze zur Ablage von Listen mit Lebensmittelzusatzstoffen, geordnet nach dem Grad der Gefährlichkeit der E-Stoffe. Am Muttertag bekam ich mehrere Tintenpatronensets für meinen Drucker, am Valentinstag ein neues Bücherregal für die Ordner und auf meinem Geburtstagstisch lagen nun statt Parfüm und Geschirrtüchern Bücher wie „Du denkst, es ist Unkraut?“ und „Ich bin mein eigener Arzt - ohne lästige Quartalsabrechnung“. Ich war wie ausgewechselt, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte! Noch nie in meinem Leben empfand ich einen so hohen Grad der Entspannung wie beim Archivieren meiner Gesundheitsblätter.

Mein Mann kam nun abends mit Unmengen von Illustrierten, die ich nach Gesundheitstipps abgraste, während er ungestört den Western sah. Mit meinem neuen Hobby gab es nie mehr Diskussionen um das Fernsehprogramm, da ich ja recherchierte, archivierte und sortierte. Meine Lieblingspflanze wurde die heimische Brennnessel (Urtica dioica). Mit ihr harmonisierte ich sogar eine leichte Sehschwäche, eine bisher nicht veröffentlichte Heilwirkung. Ich machte Brennnesselsüppchen, -röllchen, -spinat, -aufläufe, -grütze, -chips, -bier und -brühen. Meine Kinder verloren zu dieser Zeit ihren Babyspeck und aßen öfter außer Haus. Mein Mann machte alles mit und schlief viel. Dass etwas mit mir nicht mehr stimmte, fiel mir zum ersten Mal auf, als wir unsere Freunde Vivien und Swen besuchten. Wir kamen etwas früher und Swen machte sich auf seinem tollen Zierrasen gerade mit dem Spaten über ein paar arme Gänseblümchen her. Hysterisch rannte ich auf ihn zu, rüttelte am Spaten und schrie:

„Swen, bitte, bitte tu’s nicht! Denk doch an die ätherischen Öle, Schleime und Bitterstoffe in den Rosettenblättern! Gib sie Vivien für den Wildkräutersalat!“

Vivien strich mir liebevoll über den Arm und sah mich beunruhigt an:

„Nun setz’ dich doch erst mal und komm’ zur Ruhe! Kaffee ist gleich fertig.“

Als wir auf der Terrasse saßen, glitt Swens Blick genervt über seine Obstbaumwiese.

„Dieser Giersch jedes Jahr macht mich noch ganz fertig!“, schimpfte er. Ich strahlte über das ganze Gesicht.

„Mensch, Swen, da bist du ja mit deinen Hämorrhoiden fein raus. Ein paar Umschläge und Bäder damit …“

Mein Mann sah mich verlegen an.

„Nicht beim Kaffee, Schatz!“

Ich verstand ihn nicht und protestierte:

„Na, hör’ mal! Weißt du, wie teuer die Hämorrhoiden-Präparate in der Apotheke sind? Alle natürlich von der Bezahlliste gestrichen! Ach, Vivien, da fällt mir ein: Die böse Zehen-Gicht von deinem Vater - dafür ist doch das Doldengewächs auch bestens geeignet.“

Vivien stand auf und sagte hastig:

„Ich hol’ dann mal die restliche Schlagsahne aus dem Eisschrank.“

Swen beugte sich über den Kaffeetisch und flüsterte uns zu:

„Seid ihr schon lange in Hartz IV? Mensch, das hättet ihr doch sagen können, wozu sind Freunde denn da?“

Ich kam mir vor wie unter Außerirdischen. Da saßen wir nun mitten in der Natur und ignorierten all ihre gesundheitsfördernden Schätze. Ich durfte doch meinen Wissensvorsprung nicht egoistisch für mich behalten, Freunden wünscht man schließlich nur das Beste! Wie gut, dass ich die beiden mit meinem schönen Geschenk nicht gleich überfallen hatte, so konnte ich es jetzt gut und stilvoll platzieren. Mit spannungsvoller Geste setzte ich ein Glas braunen Inhalts auf den Kaffeetisch.

„Für eure tolle Gastfreundschaft, liebe Vivien, lieber Swen!“, sagte ich genüsslich.

Vivien nahm das Glas in die Hand.

„Süß, der Streifenkarostoff hier oben und die niedliche Schleife! Ein selbst gemachter Kräuteressig? Ganz vielen Dank!“

Vivien drückte mich inniglich.

„Eigentlich ist das für eure Gemüsepflanzen, sie werden dadurch noch gehaltvoller und gesünder“, korrigierte ich. „Eine hochkonzentrierte, ganz natürliche Pflanzenjauche, kann 1:10.000 verdünnt werden.“

Mein Mann erstarrte:

„Schatz! Das ist doch viel zu stark, das ätzt einem ja alles weg!“

Vivien zitterte und ließ das Glas schreiend fallen. Laut scheppernd zerbrach es auf dem steinigen Terrassenboden, auf dem sich eine trübe und stark übel riechende Flüssigkeit verteilte. Die rötlich-braunen Klinker änderten ihre Farbe augenblicklich in gelblich-weiß. Wo sich vorher noch kleine niedliche Grashalme aus den Fugen schoben, krümmten sich nun armselig verschrumpelte Stängel.

„Oh, schade um die vielen schönen Wildkräuter, die auf eurer Terrasse wachsen wollten“, hörte ich mich sagen. Dann spürte ich einen harten Griff am Arm und mein Mann rief:

„Ach, wir hätten doch fast vergessen, dass die Zwillinge gleich vom Kindergeburtstag zurückkommen. Da muss ich ihnen ja fix noch einen Kamillensud kochen. Ihr wisst doch, der viele Süßkram zu solchen Geburtstagen, das gibt immer übelste Magen- und Darmbeschwerden.“

Vivien und Swen nickten heftig und begleiteten uns stumm zum Gartentor.

„Das nächste Mal bei uns, ja? Ich hab’ da ein paar ganz neue Rezepte, alles urgesunde Sachen“, sagte ich, während mich mein Mann nach draußen schubste.

„Wir melden uns“, erwiderte Swen.

„Alles Gute für euch!“, stammelte Vivien.

Seitdem haben wir leider nie wieder etwas von unseren Freunden gehört, dafür aber den Tag genauestens ausgewertet. Ich musste schmerzlich erkennen, dass ich um eine Therapie wohl nicht mehr herumkommen würde, wollte ich mich wieder normal fühlen. Nach vielen Recherchen fand ich dann schließlich auch einen speziell ausgebildeten Therapeuten, der sich ausschließlich der Sucht nach Gesundheitstipps widmete. Endlich erfuhr ich, dass ich doch keine Außenseiterin war. Was für eine großartige Erleichterung! Sogar ein Fachname existierte für dieses Leiden schon – Psychosomatische Naturhörigkeit, kurz PsNa. Seitdem tauschen wir Betroffenen in den Therapiestunden unsere Rezepte und Tipps und lachen uns über die vielen dussligen E-Stoff-Fresser halb tot. Lachen ist bekanntlich die beste Medizin.

Der Therapeut lässt sich auch nicht mit Bargeld oder Schecks abspeisen, sondern besteht auf unsere Tinkturen, Kekse und Jauchen. Leider zahlen die Krankenkassen die aufwändige Therapie noch nicht, dabei nimmt sie uns PsNa-Betroffenen doch jede Menge Druck. Und wir sind außerordentlich kreativ. Demnächst kommt unsere selbstproduzierte Doppel-CD „Bärenklau und Wiesenwinde, Hits ganz natürlich“ auf den Markt. Ein Hörbuch steht kurz vor der Fertigstellung und soll unter dem Titel: „Hopfensprossen und gekochte Kletten - die anderen Wiesengeschichten“ die Bestsellerliste erobern.

Ich habe auch einen ganz neuen Freundeskreis, die Kinder allerdings wollten nach unserer Scheidung zum Vater. Aber das alles habe ich mit meiner regelmäßigen Johanniskraut- und Baldriankur sehr gut im Griff.

Ich bin wieder mitten im Leben!

Was tust du?

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