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Ich kann nicht stehlen

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Die Lebensbeichte der Tochter eines Finanzbeamten, die keine Langfinger machen kann und sich damit an den Rand der Gesellschaft bringt

Mein Name ist Anne Bandt (Name geändert). Ich bin 29 Jahre alt (Alter auch) und hatte noch bis vor wenigen Jahren ein Riesenproblem. Ich fühlte mich als totale Außenseiterin, schmerzlich Ausgegrenzte und völlig Unverstandene. Der Grund: Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas getan, was andere anscheinend andauernd machten - gestohlen. Deshalb vertraute mir leider auch keiner und niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Ich war die absolute Nummer Eins auf der out-Liste! Meine Bekannten und angeblichen Freunde munkelten Sprüche wie:

„Die ist doch nicht ganz richtig im Kopf.“

„Die weiß noch immer nicht, wo der Bauer seinen Mist herholt.“

„Die gehört unter Naturschutz, so was gibt’s in unserer freien Marktwirtschaft doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr.“

Dass ich so starke Hemmungen aufgebaut habe gegen diese Massentätigkeit Stehlen, liegt in der Kindheit begründet. Da muss ich also ein bisschen ausholen.

Ich wuchs als Einzelkind recht wohlbehütet in einem grünen Berliner Stadtbezirk auf. Wie gern hätte ich noch Geschwister gehabt, dann müsste ich vielleicht nicht mit diesem schweren Defizit durchs Leben gehen. Jedenfalls hat mir mal jemand erzählt, dass sich zuerst die Geschwister untereinander beklauen, aber wie gesagt, diese Erfahrungen durfte ich leider nicht machen. Mein Vater, ein ehrgeiziger Finanzbeamter, war nämlich der Meinung, mehr Kinder, das rechne sich nicht in dieser Republik. Sonst aber tat er sehr viel für sein Land. Er ging zum Beispiel abends gern zu den Leuten nach Hause und guckte in deren Besenkammer, ob sich dort auch Besen AZV 931 befand - genau der, der auf dem Rechnungsbeleg stand, der beim Finanzamt zur Minderung der Steuerschuld von einem Selbständigen eingereicht wurde. Wenn mein Vater strahlend nach Hause kam, dann wussten meine Mutter und ich: In der Besenkammer hatte gar kein Besen gestanden oder eine billigere Ausführung mit anderer Kennzeichnung und nicht das stabile Starkhaarprodukt AZV 931. Mein Vater freute sich dann diebisch und rief in solchen Fällen euphorisch:

„Wieder einem kleinen stinkigen Steuerklauer auf die gierigen Langfinger gekloppt!“

Trat er dagegen schweigend ins Haus, dann war uns klar: Rechnungsbeleg und Besenkammer-Besen hatten übereingestimmt, er war diesen Abend also völlig umsonst unterwegs gewesen für den Finanzhaushalt unseres klammen Landes. Meine schöne Mutter, eine gepflegte, anspruchsvolle Hausfrau mit einer sehr hohen Singstimme, hatte für solche Fälle immer ein paar wirksame Massagegriffe für den Hinterkopf meines Vaters parat. Während er sich dann unter ihren Händen hingebungsvoll entspannen durfte, musste ich mir seine eindringlichen Sprüche anhören. Sprüche, die mir mein Vater schon seit meiner frühesten Kindheit einbläute:

„Ännchen! Du musst immer nach außen hin ehrlich tun und nie etwas nehmen, was dir nicht zusteht! Stell’ dir mal vor, du lässt einen Mickymausradiergummi oder eine gelbe Büroklammer mitgehen und das in meiner Position! Es gibt genug Leute, die mich gern wegschaufeln würden, weil ich so gut aufpasse, dass sie unser Land nicht bestehlen. Und wenn du dann also so etwas Böses machen würdest, dann müssten Mutti und ich ganz weit auswandern, verstehst du?“

Ich hatte furchtbare Angst, dass meine Eltern dann einfach irgendwohin gehen - ohne mich. Richtige Alpträume hatte ich deshalb. Ich sah meinen Vater auf einem Esel reiten, irgendwo in Afrika. Mutti tanzte quietschvergnügt und singend als Bauchtänzerin um ihn herum und ich? Ich saß allein in unserer Berliner Wohnung und keiner vermisste mich. Ach, das war so schrecklich, das kann nur einer begreifen, der auch schon mal so etwas Ähnliches durchmachen musste.

Wissen Eltern eigentlich, dass sie mit ihren Erziehungssprüchen schwere psychische Spätfolgen zu verantworten haben? Ich glaube nicht!

Eines Tages nun geschah in unserer Familie etwas, das mir jegliches Urvertrauen und den Respekt vor meinen Eltern raubte.

Ich lag schon im Kinderzimmer, konnte aber nicht schlafen, weil ich wieder einmal große Angst hatte, Mutti und Vati könnten ohne mich auswandern. Mein Vater war gerade von einem seiner zahlreichen Hausbesuche zurückgekommen und hatte, wie ich durch die Tür vernahm, wieder einem kleinen stinkigen Steuerklauer auf die gierigen Langfinger gekloppt. Verächtlich warf er meiner Mutter zu:

„Stell’ dir vor, der teure Kugelschreiber Kuckuck 114 A/G 0 für Neunvierundvierzig lag gar nicht in seinem Arbeitszimmer, er ging angeblich verloren!“

Ich hörte meine Mutter mit ihrer hohen Singstimme höhnisch lachen und dann sagen:

„Immer wieder die gleichen üblen Machenschaften auf Kosten der Steuerzahler. Aber du hast dem Kriminellen ja zum Glück das Handwerk gelegt.“

Dann sprach mein Vater wieder in häuslichem Ton:

„Ach, damit ich’s nicht vergesse: Hier ist das Klopapier aus dem Finanzamt, du wolltest doch heute deshalb nicht extra außer Haus. Ist übrigens viel besser als das, was wir uns hier leisten, fünffach und extrem weich, probier’s doch gleich mal aus!“

Meine Mutter freute sich riesig:

„Danke, dafür können wir Ännchen glatt ein Eis spendieren.“

„Richtig!“, bestätigte mein Vater. „Das rechnet sich schon!“

Ich hörte, wie meine Mutter zur Toilette lief und lag wie erstarrt auf meiner schönen buntkarierten Kinderliege. Hatte ich richtig gehört? Vati brachte Toilettenpapier aus dem Finanzamt mit? Für uns hier zu Hause? Aber war das nicht geklaut? Müssten wir das nicht selber kaufen und mit Geld bezahlen? Ich wollte nicht glauben, was ich da eben gehört hatte. Immer und immer wieder spulte ich die Worte meines Vaters vor mir ab: „Ach, damit ich’s nicht vergesse: Hier ist das Klopapier aus dem Finanzamt, du wolltest doch heute deshalb nicht extra außer Haus. Ist übrigens …“

Nein, es wurde nicht anders und nicht besser. Mein Vati war ein Dieb und selbst einer dieser kleinen stinkigen Steuerklauer mit den gierigen Langfingern. Meine schöne heile Kinderwelt war in diesen Minuten wie ein Kartenhaus in sich zusammen gebrochen. Meine Eltern klauten Klopapier, waren Komplizen und fanden das auch noch normal!

Aber vielleicht hatte ich ja doch etwas falsch verstanden, das musste ich sofort wissen. Hastig sprang ich von der Liege und rannte ins Wohnzimmer, wo mein Vater im Fernsehen gerade gespannt Spartipps guckte.

„Du, Vati? ...“, druckste ich herum. „Warum hast du denn das Klopapier von deiner Arbeit mitgebracht? Bist du jetzt auch so ein kleiner stinkiger …?“

Mein Vater sprang so heftig auf, dass mir die weiteren Worte im Hals stecken blieben. Er lief auf mich zu, beugte sich zu mir herab und sprach mit langsamer, inhaltsschwerer Stimme:

„Aber Ännchen! Was erzählst du denn da für einen hanebüchenen Unsinn? Hast du schlecht geträumt? Vati hat natürlich nicht …“

In diesem Augenblick lief meine Mutter über den Flur und schwärmte beim Gang ins Wohnzimmer:

„Phantastisch! Georg, du solltest in Zukunft immer …“

Sie war ins Wohnzimmer gekommen und sah unsere betretenen Blicke. Mein Vater unterrichtete sie:

„Mutti, unser Kindchen denkt, ich hätte das schöne Klopapier, das du eben so lobend erwähnt hast, aus meinem Amt mitgenommen, sozusagen gestohlen!“

Nun beugte sich auch meine Mutter zu mir herunter und sagte mit ihrer hohen Singstimme:

„Aber Mäuschen! Du hast ganz böse wilde Phantasien in deinem kleinen Köpfchen. Vati ist doch selbst wie ein Irrer hinter den kleinen stinkigen Steuerklauern mit den gierigen Langfindern her. Warum sollte er dann stehlen?“

„Na, wegen dem Eis für mich!“, antwortete ich. „Vati hat doch gesagt, dass sich das rechnet.“

Mein Vater stellte sich wieder aufrecht vor mich, meine Mutter tat es ihm nach. Dann holte er ganz tief Luft, wobei sich seine Stirnfalten noch etwas tiefer in die Furchen gruben.

„Vati ist jetzt aber ein bisschen enttäuscht von seiner kleinen Tochter!“, sagte er streng.

Mich schuldig und ratlos fühlend, wollte ich schnell in mein Zimmer und auf meine schöne buntkarierte Kinderliege zurück, doch Vati packte mich am Arm.

„Nein, das ist wirklich nicht richtig, Ännchen! Es ist nicht richtig von dir, dass du versuchst, deine Eltern zu belauschen. So etwas tut man nicht. Und weißt du, warum nicht?“

Ich schüttelte hilflos den Kopf.

„Das dachte ich mir!“, sagte Vati und blickte Mutti an, die heftig nickend demonstrierte, dass ihre Überlegungen sich mit denen von Vati vollkommen deckten.

„Weil man“, wie mein Vater mit seinem rechten, steif nach oben gerichteten Zeigefinger unterstrich, „in so einem Fall immer irgendetwas völlig falsch versteht. Es ist doch eine Tür dazwischen, man sieht sich nicht in die Augen, vielleicht mischt sich von draußen noch ein Motorengeräusch mit unter oder es dringen von nebenan irgendwelche Küchenklänge herüber. Da ist es schließlich ganz verständlich, dass du in diesem Geräuschewirrwarr etwas völlig falsch verstehst. So kann man Menschen sehr schnell etwas Böses unterstellen, obwohl sie eigentlich ganz, ganz liebe Personen sind. Verstehst du, was ich dir damit sagen will, mein Kind?“, gurrte Vati.

Ich war sehr müde und wollte schlafen, deshalb nickte ich nun auch so heftig wie vorhin Mutti und wurde befreit. Vati ließ meinen Arm los und wünschte mir noch eine schöne geruhsame Nacht, Mutti auch.

Am nächsten Tag taten wir alle, als sei nichts geschehen, aber von da an packte mein Vater, so bald sich die Gelegenheit ergab, das Thema Toilettenpapier mit ins Gespräch. Am nächsten Wochenende zum Beispiel kam Vatis Bruder Holger mit seiner Frau Petra und meinem Cousin Tobias zum Kaffee. Als Tante Petra gerade in ein Stück Erdbeertorte beißen wollte, sagte mein Vater:

„Ach, Petra! Ich habe gestern dieses teure, fünflagige Toilettenpapier zu Einsdreiundreißig in unserem Discounter ‚Nimm’s mit!’ gekauft, das übertrifft doch wirklich alles.“

Vati kramte einen Kassenzettel aus seiner Hosentasche und legte ihn sorgfältig auf den Tisch.

„Ja, Einsdreiunddreißig, hier steht’s, schau hin! “, sagte er stolz und musterte mich wie beifällig.

„So was kaufen wir gar nicht“, sagte mein Cousin, Torte kauend. „Mutti bringt immer mal eine Rolle aus ihrem Büro mit.“

Tante Petra lief ganz rot an und Onkel Holger gab seinem Sohn Tobias eins hinter die Ohren, das tat man früher noch.

„Was redest du denn da für einen Schmarren!“, schimpfte er. „Du weißt doch, dass dein Onkel beim Finanzamt einen sehr anstrengenden Beruf ausübt. Was soll er denn von uns denken?“

Tobias zuckte nur mit den Schultern und rief:

„Weiß nicht, kann ich jetzt mit Anne spielen gehen?“

Wir konnten! Als ich dann mit Tobias auf dem Teppich in meinem Kinderzimmer saß, zeigte er mir den Aufkleber „Honigwurzel“ aus der Reihe „Waldabenteuer“, die wir wie verrückt sammelten.

„Nicht meinen Eltern petzen!“, flüsterte mir mein Cousin zu. „Den Aufkleber hab’ ich Stella aus meiner Klasse geklaut! Die ist doch so doof!“

„Du klaust?“, rief ich entsetzt. „Man muss doch nach außen hin immer ehrlich tun und darf nichts nehmen, was einem nicht zusteht“, rief ich.

Mein Cousin lachte.

„Man, du bist ja auch doof! Nach außen hin tu ich doch immer ehrlich, denkst du denn, das hat einer mitgekriegt? Und zustehen tut mir der klasse Aufkleber schon lange, hundertprozentig pro!“

„Ich hab’ noch nie was gestohlen!“, sagte ich kleinlaut.

Mein Cousin sah mich an, als ob ich die Krätze hätte.

„Hä? Du hast noch nie …? Nicht mal deiner Mutter einen Fünfer aus dem Portemonnaie oder deinem Vater einen Einer aus der Hosentasche?“, fragte er völlig verdattert.

„Mein Vater hat keinen Einer in der Hosentasche“, sagte ich.

Tobias’ Miene hellte sich wieder auf:

„Na, siehst du! Hast also doch mal drin gesucht, sonst kannst du ja nicht wissen, dass er da nichts hat.“

„Ich weiß es von Mutti, die lobt das immer“, entgegnete ich.

Tobias rückte ein Stück weg von mir.

„Ganz schön traurig!“, meinte er. „Da hat man schon 'ne Cousine und dann ist die nicht mal normal. Alle klauen doch! Unser Hund die Wurst, die Amsel die Kirschen, die Katze die Maus … Und meine Eltern regen sich auch jeden Tag auf, wie die Politiker uns beklauen. Die haben dafür sogar Gesetze gemacht, dass die das dürfen, sagen meine Eltern.“

Ich war überrascht, so klug hatte ich meinen Cousin noch nie reden hören. Aber von da an hatte ich auch das sichere Gefühl, dass unsere Freundschaft nicht mehr so eng war. Tobias vertraute mir nichts Geheimes mehr an, er saß nun lieber länger am Kaffeetisch, statt mit mir zu spielen und kam dann später gar nicht mehr mit. Das machte mich traurig, denn auch mit Freundinnen sah es eng aus bei mir. Später erzählte mir mal Cora aus meiner Klasse, dass sie sich wegen Vati nicht mit mir abgeben durfte. Ihre Eltern hatten Angst, dass Cora mir etwas erzählen könnte, was mein Vati dann in seiner Arbeit gegen sie verwenden würde. So dachten ganz viele und machten deshalb einen großen Bogen um mich.

Von anderen dagegen bin ich selbst reichlich bestohlen worden. So gingen in meiner Schulzeit vier Uhren, sechs Paar Turnschuhe, 13 Füllfederhalter, zwei Federtaschen, neun Bücher, vier Portemonnaies und dutzende Lineale und Zeichenutensilien flöten. Das meiste sah ich dann irgendwann bei meinen Schulfreunden wieder, aber ich konnte ja nichts beweisen und Einzelstücke waren das auch nicht gewesen, sondern Dutzendware. Vati legte immer großen Wert darauf, sich so zu geben wie die Masse. Vielleicht lebten wir auch deshalb zeitlebens in einer kleinen Dreiraumwohnung, obwohl wir uns doch ganz locker hätten ein Reihenhaus leisten können, die Beamten kriegen da ja viele Vergünstigungen.

Meinen Schulfreunden wurde natürlich auch immer viel gestohlen, aber sie holten es sich doppelt und dreifach zurück. So kamen Cora auch sieben Füllfederhalter abhanden, dafür aber organisierte sie sich zwölf andere, richtig schöne Stücke waren dabei. Cora ging später in die Immobilienbranche und soll dort groß Karriere gemacht haben. Den Kontakt zu mir brach sie ganz fix ab.

Vati wollte dann, dass ich Finanzbeamtin werde, aber Mutti favorisierte den Beruf der Sängerin für mich, obwohl ich gar nicht musikalisch war. Ich entschied mich schließlich für eine Lehre im technischen Dienstleistungsbereich.

Schon in der Berufsausbildung schnitten mich meine Mitschüler, da ich nicht bereit war, unserem Ausbilder, Herrn Hörnig, das Tagebuch zu stehlen, das er in seiner Aktentasche trug. Auch als meine Mitstreiter aus Herrn Hörnigs Portemonnaie das Passfoto seiner Frau entwendeten und stattdessen ein Bild des deutschen Hausschweins hinein legten, war ich nicht mit von der Partie. Meine Mitschüler versuchten alles, um mich des Diebstahls zu überführen. Sie legten mir Geldscheine vor die Füße, Schokolade in die Tasche und Schmuck in die Jacke. Doch ich machte all das postwendend als mein Nicht-Eigentum öffentlich und fragte mit eindrucksvollen Aushängen überall nach dem wirklichen Besitzer. Irgendwann gaben sie schließlich genervt auf.

„Du bist nicht von dieser Welt“, riefen alle und auch, dass ich einmal ganz elendig enden würde. Jedenfalls hat man mich dann nach meiner Ausbildung in den Kundendienst, Abt. Reklamation, gesteckt.

Und dort sind mir schließlich ganz außerordentlich wichtige Dinge passiert. Ich lernte Norbert kennen, einen schüchternen, feinfühligen jungen Mann, mit dem ich mich sofort seelenverwandt fühlte.

„Norbert, du hast gestohlen!“, sagte ich ihm eines Tages mutig auf den Kopf zu. Er sah mich völlig fassungslos an und erwiderte verstört:

„Verzeihung! Aber ich habe noch niemals in meinem Leben gestohlen.“

Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.

„Mein Herz hast du gestohlen!“, sagte ich anschließend nahezu atemlos. Norbert sah mich glücklich an und hauchte zärtlich:

„Danke, ebenfalls!“

Das war der schönste Augenblick in meinem Leben, aber es wurde noch besser. Norbert und ich standen am Dienstleistungstresen und versuchten, eine Kundin zu beruhigen, die ihren defekten Müslischüttler gerade zum dritten Mal reklamierte. Sie schimpfte ununterbrochen, ließ uns nicht zu Wort kommen und rief schließlich:

„Sie Dumpfbacken, Sie stehlen mir meine wertvolle Zeit!“

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte und sah Norbert fassungslos an.

„Sie hat gesagt, wir stehlen ihr …“

Weiter konnte ich nicht sprechen, denn die Dame unterbrach mich wutschnaubend.

„Nicht nur die Zeit stehlen Sie mir, Sie rauben mir auch noch meine letzten Nerven!“

Mir wurde heiß und kalt zu gleich. Endlich! Ich hatte es wirklich noch geschafft! Wenn ich anderen schon kein Geld und keine Gegenstände stehlen konnte, dann wenigstens Zeit und Nerven. Und dafür wurde ich auch noch bezahlt! Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, der Kreis zu Vati schließt sich. Von da an erfasste mich das gute Gefühl, meine innere Mitte gefunden zu haben und von der Außenseiterposition zum typischen bundesdeutschen Bürger aufgestiegen zu sein.

Norbert stahl mir dann auch noch meine Unschuld und meine drei Kinder raubten mir die schöne Illusion, immer eine gute Mutter sein zu können. Endlich war alles perfekt und so wie bei allen anderen auch. Und das ist bis heute so geblieben! Norbert scheint ebenfalls glücklich zu sein und mag auch meine Eltern. Vati sammelt nun schon seit 15 Jahren Kassenbons, auf denen Toilettenpapier als gekauft gebongt ist. Nur Mutti hat sich wohl im Geheimen was Besseres als Schwiegersohn gewünscht, aber nachdem Norbert ein paar Mal ihre hohe Singstimme ausführlich gelobt hat, scheint sie sich mit meinem Mann abgefunden zu haben.

Und ich, ich wurde trotz meines Gendefektes und meiner schweren traumatischen Kindheit endlich ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft, auch wenn mir Diebstahl im direkten Sinne des Wortes bis heute kein dringendes Bedürfnis geworden ist. Aber da gibt es ja so viele wichtige Leute in unserem Land, von denen können mein Norbert und ich in dieser Sache noch richtig viel lernen!

Was tust du?

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