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Ich verstehe meinen Jungen nicht mehr

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Die Ratlosigkeit von Eltern, deren Sohn so ganz

anders ist

„Nein, Mutti! Du kannst nicht schon wieder in die WG kommen, auf gar keinen Fall! Lisas vier Schwestern haben sich angemeldet, eine davon ist schwanger, also zusätzlich viereinhalb Leute! Und Alex' Großeltern wollen mit ihren drei Enkeln auch mal vorbeischauen. So viele Fußabtreter haben wir doch gar nicht im Vorderhaus Luisenstraße 44! Ich melde mich, wenn's wieder klappt. Also, bis dann und putz’ nicht so wenig!“

Ob es Ben Baff interessiert, wie schwer dieses kurze Telefonat die Seele seiner Mutter wieder erschüttert? Bärbel Baff weiß einfach nicht mehr weiter, sie ist mit ihrem Latein und den Nerven komplett am Ende. Ihr Junge, das ängstigt sie so stark, ist auffällig verhaltensgestört. Er benimmt sich nicht wie normale Mädchen und Jungen in seinem Alter. Andere 25-Jährige schlafen bis mittags, hausen in unaufgeräumten, verkeimten Zimmern und vögeln sich lustig durchs Leben. Ben aber ist das krasse Gegenteil - er steht stets gegen 7 Uhr 30 auf, macht seine Morgenübungen für Bizeps und Flachbauch, spült nach dem Frühstück sofort das Geschirr und fegt alle Krümel vom Boden. Auch sonst ist seine studentische Lebensweise ohne Fehl und Tadel. Und zu allem Übel, so muss Bärbel Baff schweren Herzens eingestehen, hat sich ihr Sohn auch noch mit Gleichgesinnten zusammengetan! Lisa und Alexander haben ebenfalls dieses untypische Verhalten. Mit Grauen erinnert sich Bärbel Baff an ihren letzten WG-Besuch vor vier Tagen. Nachdem sie ihre Schuhe vor der Eingangstür ausgezogen hatte, bürstete ihr Ben mehrmals kräftig über die Fußsohlen, ehe sie unter heftigstem Fußschütteln endlich in die Gästepantoffel schlüpfen durfte. Dann wies ihr Ben mit streng ausgestrecktem Arm den Weg zum Badezimmer, wo sie ein antibakterielles Vollbad mit Virenschutzschaum nehmen sollte. Dank ihrer verbal stark bildhaften Sprache konnte sie ihren Sohn und die Mitbewohner schließlich doch dazu bewegen, sich mit zweimal heiß und dreimal kalt gebürsteten Händen zufrieden zu geben. Kaum hatte Bärbel Baff dann das Badezimmer wieder verlassen, begann Lisa auch schon mit der Reinigung dieses Feuchtraumes, den sie zweimal intensiv durchwischte, um anschließend die Bodenfliesen gründlich vor- und nachzupolieren.

„Macht ihr das wirklich bei jedem so?“, fragte Bens Mutter damals irritiert.

„In der Regel schon“, antwortete Lisa.

Bärbel Baff atmete erleichtert auf.

„Ach so!“, sagte sie. „Verstehe! Ich kenne das auch noch aus meinen fruchtbaren Tagen! Da gibt es so bestimmte Zeiten, da befällt einen regelrecht der Putzfimmel. Sehr nett, dass ihr Jungs da mitzieht! Ich wusste ja gar nicht, dass mein Benny so ein Frauenversteher ist“, meinte Bärbel Baff kichernd und kniff ihrem Jungen mit zappelndem Griff fest in die linke Wange.

„Mama, das ist ja eklig“, wehrte der, peinlich berührt, ab.

Bärbel Baff unterbricht ihren Erinnerungsfilm und beschließt, dass es so auf gar keinen Fall mehr weiter gehen kann. Der Junge rutscht ihr noch vollkommen ab und macht sich bei anderen Gleichaltrigen, Lisa und Alexander mal ausgenommen, zum absoluten Klops! Hastig fasst Bärbel Baff erneut zum Telefon. Sie braucht jetzt ganz dringend ein aufmunterndes Gespräch mit ihrer Freundin Susi Rupps.

„Susi? Hier ist Bärbel! Du, ich mache mir ja solche Sorgen um meinen Jungen, der ist so eigenartig! Hast du nicht mal paar Minuten Zeit zum Quatschen? ... Okay, Danke! Ich komme gleich rüber.“

Kurze Zeit später steht Bärbel Baff in der Tür ihrer Freundin Susi Rupps. Bevor Bens Mutter in die Gästepantoffeln schlüpft, schüttelt sie ihre Füße heftigst nach allen Seiten.

„Hast du Fußkrämpfe? Ist dir was eingeschlafen?“, fragt Susi Rupps besorgt.

Bärbel Baff schlägt sich erschrocken gegen die Stirn.

„Mensch, ich dreh’ schon durch. Das muss ich bei meinem Jungen in der WG immer machen, nachdem er mir schon mehrmals die nackten Fußsohlen abgebürstet hat. Ich werde noch vollkommen verrückt!“

„Ich mache uns erstmal einen sündhaft süßen Kakao mit Zimt und schöner fetter Sahne, für die Serotoninproduktion in deinem leidgeplagten Kopf, ja?“, versucht die Freundin zu trösten.

Bärbel Baff nickt dankbar, ihre Augen schwimmen in Tränen. Neidisch sieht sie auf die Fotosammlung in Susis Schrankwand. Ihr lachender Sohn Toben inmitten einer Spielzeugwüste, ihr lachender Sohn Toben unter einem riesigen Berg Schmutzwäsche, ihr lachender Sohn Toben bäuchlings bei der Suche nach Schulbüchern.

„Ach, bei dir ist alles so schön normal, Susi!“, ruft Bärbel Baff schwer seufzend und nimmt die dampfende Kakaotasse entgegen.

„Ja!“, stellt Susi erleichtert fest, „mein Junge hat nicht so eine starke Wesensveränderung durchlebt wie dein armer Ben.“

„Kann ich mal in sein Jugendzimmer schauen?“, fragt Bärbel Baff vorsichtig.

„Natürlich! Aber es muss unter uns bleiben, sonst geht das Urvertrauen meines Jungen auch noch flöten. Er hat jetzt übrigens gerade Sport!“

Behutsam und milde lächelnd öffnet Susi Rupps das Jugendzimmer von Toben Rupps. Die aufgewühlte Bettdecke liegt mit dem Kopfkissen innig verklumpt. T-Shirts mit nach innen gewendeten Ärmeln und zerknitterte Hosen mit großflächigen Schmutzflecken zieren das Jugendbett. Auf dem Teppich kämpfen Socken, Basecaps, Computermaus, Badetuch, Hefte, Blöcke, Geschirr und jede Menge anderer Krims Krams um Bodenberührung. Obenauf thront ein linker Turnschuh, der rechte baumelt lustig von der Blumenbank herunter.

Bärbel Baff nickt.

„Ja, genau so sieht ein alterstypisches Jugendzimmer aus. Dein Junge ist ganz normal, der lebt seine Jahre charaktergemäß voll aus. Was hab’ ich nur falsch gemacht, Susi? Kannst du mir das sagen?“

Susi Rupps schließt die Jugendzimmer-Tür wieder sanft und geht mit ihrer Freundin zurück zum Kakao-Tisch.

„Nun mach’ dich mal nicht fertig, meine Liebe!“, tröstet Susi Rupps. „Fehler machen wir doch alle, keiner ist perfekt. Und außerdem, als dein Junge noch zu Hause wohnte, da sah es in seinem Jugendzimmer doch auch so aus wie bei meinem Toben - oder etwa nicht?“

„Vielleicht noch schlimmer!“, entgegnet Bärbel Baff mit einem Hoffnungsschimmer in den traurigen Augen.

„Na, bitte!“, fängt Susi Rupps sie auf. „Und wer weiß, möglicherweise kommt der Junge ja noch mal zurück und zieht wieder bei euch ein. Also, ich kenne einige Eltern, bei denen die jungen Leute wieder ins Hotel Mama gekommen sind.“

„Ach, da mache ich mir absolut keine Hoffnung mehr“, wehrt Bärbel Baff entmutigt ab. „Dazu ist der Junge zu gefestigt in seiner extremen Haltung. Und ich dachte immer, das kommt erst, wenn er mal Familie hat oder vielleicht noch später. Ich hätte doch so gern ein bisschen aufgeräumt und geputzt bei den jungen Leuten. Man weiß dann auch immer gleich Gesprächsstoff. Und man sieht so einiges, was sie einem sicher nicht freiwillig zeigen würden. Aber das alles ist ja nun nicht, meine Lebensplanung wird vollkommen über den Haufen geworfen“, jammert Bärbel Baff.

„Ja, da kann ich dich gut verstehen. Man hat schließlich so seine festen Vorurteile und Schubladen. Aber darauf nehmen die jungen Leute heute doch sowieso keine Rücksicht mehr. Die sind halt viel weniger tolerant als wir.“

Bärbel Baff nickt zustimmend und wird dann besonders nachdenklich.

„Weißt du, Susi, die WG ist so blitzeblank sauber, also, das macht doch auch tierisch viel Arbeit! Und wenn ich da an meinen Mann Klaus in seinem Ordnungsamt denke, also ein Bein hat der sich noch nie ausgerissen. Als ob Ben gar nicht sein richtiges Kind ist ...“

Susi Rupps verschluckt sich vor Schreck am Kakao.

„Also, Bärbel! Hattest du denn zu der Zeit damals einen …?“

„Nein, nein!“, wehrt Bärbel Baff entschieden ab, „das war rein platonisch, wirklich! Praktisch ist das gar nicht möglich. Aber da der Junge so weit wegdriftet vom Vater, da drängen sich doch automatisch Fragen auf.“

Susi Rupps klopft ihrer Freundin herzlich auf die Schulter.

„Verlier’ mal nicht die Hoffnung, Süße! Irgendwie kriegt dein Ben schon wieder die Kurve, da bin ich mir ganz sicher. Die Gene von Klaus kommen schon noch durch.“

Bärbel Baff erhebt sich nachdenklich von ihrem Platz und bemüht sich um ein Lächeln.

„Danke, Susi! War schön mit dem Kakao und dir. Hat mir auch ein bisschen geholfen, aber irgendwie muss ich da alleine mit klar kommen.“

„Das schaffst du schon, Bärbel, besprich doch alles noch mal in Ruhe mit Klaus.“

Bärbel Baff geht schweren Schrittes zur Tür.

„Ach, Klaus!“, winkt sie schlaff ab. „Mit dem will ich über solche Probleme gar nicht reden, der hat mit seiner Arbeit im Ordnungsamt genug um die Ohren. Stell’ dir mal vor, Susi, die bezahlen die Beamten neuerdings auch nach Leistung, ohne Altersbegrenzung! Da fällt Klaus natürlich voll mit drunter.“

In Susi Rupps Augen spiegelt sich das blanke Entsetzen.

„Das ist ja ein Skandal, so eine bodenlose Frechheit! Das können die doch nicht auf einmal so machen! Nach den vielen Jahrzehnten …!“

„Ein Unglück kommt eben wirklich selten allein, mach's gut, meine Liebe!“, wendet sich Bärbel Baff ab. „Bis bald, Susi!“

„Bis bald, Bärbel!“

In dieser Nacht findet Bärbel Baff alles andere als Ruhe und das liegt keinesfalls am Vollmond, denn da ist gar keiner. Der Kummer um ihren Sohn Ben raubt ihr den erlösenden Schlaf, den sie so dringend gebraucht hätte, damit ihr Unterbewusstsein an einer Problemlösung arbeiten kann.

Bärbel Baff spürt, wie ihr Mann Klaus sich ebenfalls unruhig von einer Seite auf die andere wälzt.

„Ist es wegen der Bezahlung nach Leistung?“, fragt sie leise. „Wir können uns doch auch einschränken!“

Klaus Baff fasst nach der Hand seiner Frau.

„Ach, Bärbel! Das krieg’ ich schon in den Griff! Wenn du mich ganz aus der Hausarbeit raushältst, kann ich im Amt eventuell noch was zulegen.“

„Du machst doch sowieso schon nichts, das behalten wir einfach so bei“, sagt Bärbel Baff einfühlsam in die dunkle Nacht.

„Ich wusste, dass du so verständnisvoll reagierst“, antwortet ihr Mann erleichtert. „Aber es ist unser Ben, um den ich mir Gedanken mache. Ich habe ihn neulich überraschend in seiner WG besucht. Ich verstehe den Jungen einfach nicht! Das geht entschieden zu weit!“

Bärbel Baff umfasst kraftspendend die Hand ihres Mannes.

„Ich habe mir heute wegen unserem Jungen ein bisschen Trost von Susi geholt. Und weißt du was, Klaus? An das Schütteln der Füße habe ich mich eigentlich schon fast gewöhnt, das ist mir beinahe in Fleisch und Blut übergegangen. Und ein Vollbad musst du nicht nehmen, das können sie von dir nicht verlangen! Aber ich weiß schon, was du meinst. Irgendwie fühlt man sich dreckig, wenn man in der WG ist.“

„Wie man so leben kann!“, entrüstet sich Klaus Baff. „Wir waren ja auch mal jung, aber das ist entschieden übertrieben. Das soll mein Sohn sein? Ich schäme mich! Und dabei bin ich im Ordnungsamt!“

Klaus Baff muss husten, er hatte sich wegen der großen Aufregung verschluckt.

„Am besten, wir gehen erst mal nicht mehr hin, damit die jungen Leute ein bisschen zur Ruhe kommen“, schlägt Bärbel Baff vor. „Ich für meinen Fall werde die Gegend um die Luisenstraße erst einmal meiden, damit ich ja nicht in die Versuchung komme.“

Klaus Baff stutzt.

„Wieso Luisenstraße? Unser Junge wohnt im Hinterhaus vom Kaspermanndamm! Ich hab’ ihn doch heute dort überraschend besucht.“

„Und ich“, wirft Bärbel Baff ein, „ich habe meinen Sohn Ben bereits mehrmals angemeldet in der Luisenstraße 44 besucht.“

„Das gibt es doch nicht! Der Junge wohnt in zwei Sauställen, weil er einen nicht genug vermüllen kann! Mann, das hättest du sehen sollen, Bärbel! Wie in alten Zeiten in seinem Jugendzimmer, ein richtiger Ekelpott.“

Bärbel Baff atmet auf.

„In der Luisenstraße 44 herrscht peinlichste Sauberkeit, mein Lieber! Aber jetzt, wo du’s sagst, natürlich! Bei meiner Ankündigung hat der Junge immer fix die WG gewechselt, gehört wahrscheinlich einem Freund. Richtig zuhause ist unser Ben natürlich im Kaspermanndamm. Ach, Klaus, ich bin ja so was von beruhigt! Dein Sohn ist also doch normal!“

Klaus Baff sieht ratlos in das nächtlich umfinsterte Gesicht seiner Frau Bärbel und murmelt:

„Den Jungen verstehe ich nicht, die Frau verstehe ich nicht und wenn ich an mein Amt denke … Ach, Bärbel!“

Bärbel Baff nimmt ihren Mann Klaus ganz zärtlich in den Arm und knuddelt ihn liebevoll.

„Aber ich verstehe dich, mein Schatz! Und jetzt kann ich Susi wenigstens wieder auf gleicher Ebene begegnen.“

Und dann wird die Nacht für Klaus Baff doch noch sehr, sehr schön …

Was tust du?

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