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Fastenspeise der Buddhisten
ОглавлениеDer Mond scheint uns auf den Rücken, denn wir gehen am Fuß des Langen Turms vorbei, bis zum Ende des Grüns und dann über die Straße.
Auf der Brücke hier stehe ich gern. Vor mir die Stadt und unter mir die Bahngleise des nahen Westbahnhofes. Sie kommen mehrgleisig unter der Brücke hervor und schwingen in einem großen Bogen aus dem Blickfeld. Im Hintergrund siehst du die angestrahlte Jakobskirche. Ihr Dach ist aus Kupfer und mit Grünspan überzogen.
Besonders eindrucksvoll ist der Blick auf die Gleise, wenn ein Güterzug und ein Personenzug gleichzeitig fahren. Sie bleiben eine Weile parallel, dann kreuzen sie, denn eine Trasse schwingt nach Süden, Richtung Hauptbahnhof, die andere nach Westen zur Stadt hinaus. Dazu müssen die beiden Strecken übereinander geführt werden. Ein Gleis überquert das andere und führt durch eine aus Bruchsteinen gemauerte Brücke mit großen Fensterbögen.
Schon oft habe ich mir gewünscht, einmal auf der Güterbahnlinie zu fahren. Denn wo wir sie aus den Augen verlieren, schwingt sie in eine Grünanlage, dann über eine Straße hinweg … kurz gesagt, sie führt genau an den südlichen Fenstern meiner Wohnung vorbei.
Es ist ohrenbetäubend, wenn du unten am Haus stehst und zwei dicke belgische Dieselloks hintereinander brausen über deinem Kopf vorbei. Sie müssen Gas geben, die Strecke steigt an und führt längere Zeit über einen gemauerten Damm.
Die Güterzüge kann ich leicht an ihrem Geräusch unterscheiden. Man müsste taub sein, das nicht zu hören. Die belgischen Dieselloks kommen zu zweit und drehen auf, wenn sie den leichten Anstieg über den Damm bewältigen müssen. Du kannst dir zwei Finger in die Ohren stecken, sie fahren trotzdem durch deinen Kopf. Die deutsche Bahn schickt E-Loks. Manchmal schiebt auch eine deutsche E-Lok eine belgische Güterlok an. Sie kann aber nur bis in den Gemmenicher Tunnel und kommt alleine zurück.
Ich hasse und liebe diese Züge. Es ist immer wieder aufregend, wenn sie vorbeiziehen. Doch die südlichen Fenster kann ich nachts nicht öffnen. Tja, diese schöne lichtdurchflutete Altbauwohnung mit einem Erkerfenster und so, die konnte ich mir woanders nicht leisten. Bald werde ich umziehen, mein Schlaf ist zu unruhig. Trotzdem werde ich die Eisenbahnen vermissen.
Jetzt aber zur Fahrt auf der Güterbahnlinie...
Noch mal zurück an den Westbahnhof, auf die Gleisstrecke geschaut, der Mond schön am Himmel neben dem Turm der Jakobskirche … es wäre doch blöd, mit einer fauchenden Diesellok zu fahren. Nein, ich fände gut, da unten auf dem Gleis hätten wir eine Draisine. Eine offene Plattform auf vier Eisenbahnrädern. Und wie sie angetrieben wird, ist egal. Hauptsache, man hört es nicht. Nur das Rollen der Räder auf den Schienen.
Eisen auf Eisen rollt sich ab,
Rad und Schiene gibt sich den Kuss.
Mal geht es hinab, dann wieder hinauf,
Hier fremder Wille, dort freier Lauf.
Kannst du dir vorstellen, auf der Plattform der Draisine sitzt man zu zweit, dick eingepackt und braust über das Gleis gen Westen? Man hat den kalten Nachtwind im Gesicht, sitzt gut und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein? Dann geht es zuerst den Damm hinauf, damit wir die andere Strecke kreuzen können, und dann hinein in die Schwärze der gemauerten Brücke. Durch die Fensterbögen blinken und flackern die Lichter der Stadt, du siehst Nachtschwärmer über eine Kreuzung gehen. Doch wir sind nicht wie sie, denn wir sind rasende, sausende Nachtschwärmer, wir rollen Eisen auf Eisen Richtung Grün.
Dann ist auch schon die Straßenbrücke erreicht, du siehst mein Haus und Licht hinter meinem Erkerfenster. Ich sitze nämlich gerade dort und schreibe diesen Text. Ist das nicht verrückt?
Ja, du kannst einmal winken, vielleicht schaue ich zufällig raus. Das tue ich auf jeden Fall, bevor ich zu Bett gehe. Dann klemme ich zum Lüften nämlich das Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Herrn Sick in den Fensterrahmen, damit das Fenster nicht zufällt, während ich im Bad bin.
Der Titel ist eigentlich ein bärtiger Linguistenwitz. Und inhaltlich stimmt er nicht. Das Schwinden des Genitivs ist ein Märchen, gilt allenfalls für die Umgangssprache.
Sprachpfleger sind mir nicht geheuer. Sie kommen wir vor wie Kleingärtner, die den Regenwald jäten wollen. Sprache muss leben. Und damit sie lebt, muss es auch Wildwuchs geben.
Sollen wir ein Stück weiter fahren auf dieser feinen Güterbahnlinie?
Na gut, bis zur nächsten Brücke. Wir halten an der Unterführung, damit ich noch nach Hause laufen kann.
Kannst du dir vorstellen, wie du den Fahrtwind im Gesicht hast und wie der Schotter des Gleiskörpers dicht unter dir vorbeiflitzt? Etwas Ähnliches habe ich einmal erlebt, als nicht viel Licht in meiner Welt war. Ich hauste dunkel, mir ging es schlecht.
Natürlich gab es auch in dieser Zeit glückliche Momente, und von einem erzähle ich.
Ich ging so trüb die Straße entlang, da bremst neben mir ein altes Seitenwagengespann. Und wer hält den Lenker? Mein alter Freund Nebenmann.
Er sagt: „Willst du nicht mitkommen? Ich treffe mich gleich mit meinem Sohn, wir wollen indonesisch essen.“
Ja, gut, aber wie?
„Du kannst im Seitenwagen sitzen“, sagt er. „Ist nur leider keine Sitzbank drin.“
„Wenn’s weiter nichts ist“, sage ich und klettere hinein.
Da sitze ich am Boden, hab ne dicke Plane vorm Bauch, und er braust los. Das war vielleicht ein Erlebnis! Die Haare flogen mir, sie holten mich kaum mehr ein, und direkt unter meiner Nase hatte ich den flitzenden Asphalt. Und dann die Fliehkräfte. So ein Gespann fährt starr um die Kurven. Da hast du im Seitenwagen mindesten 2G.
Jedenfalls hatte ich ordentlichen Hunger, als wir mit Nebenmanns Sohn im indonesischen Restaurant saßen. Ich habe, glaube ich, die „Fastenspeise der Buddhisten“ gegessen.
Sie war gut.
Gute Nacht, meine Liebe!