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Tunneldurchfahrt um drei Minuten verkürzt

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Einen Mond haben wir auch. Er steht hoch am Himmel, doch immer wieder bläst der Wind ihm Wolkenschleier ins Gesicht. Hoffentlich zieht es sich während der Fahrt nicht zu, damit wir unterwegs auch etwas sehen. Denn hinter der Stadtgrenze ist unsere Strecke ziemlich finster.

Wir steigen zuerst die steile Böschung hinab.

Man darf es eigentlich nicht. Es ist Bahngelände.

Drüben auf der anderen Seite des Gleiskörpers böscht sich der Bahndamm ab. Tief unten liegt ein kleines Brachgelände. Früher, als ich noch studierte, war es deutlich größer.

Eines Tages - pass auf, hier wird es steil! - kam einer zu mir, dem ich viel verdanke. Ein seltsamer Mann. Riesengroß, zwei Doktortitel und immer gut gelaunt. Ich hatte ihn beruflich kennen gelernt, und er ermunterte mich zu studieren. Er förderte mich auch, wo er konnte. Doch er war und blieb ein seltsamer Mann.

Wir überqueren jetzt die Gleise. Hoffentlich kommt kein Zug. Es sind viele Gleise, und ganz hinten auf einem überwucherten Abstellgleis wartet die Draisine, die uns nach Belgien bringen wird.

Der Mann also kam eines Tages zu mir und sagte: „Ich habe eine Idee für dich. Eröffne doch eine Dissertationsdruckerei. Da kannst du leichter dein Geld fürs Studium verdienen.“

Er ging mit mir auf einen Parkplatz, und von dort schlug er sich vor mir in die Büsche. Auf einer Lichtung fanden wir eine verfallene Nissenhütte. Nein, das hat nichts mit Nissen zu tun, obwohl man denken könnte, wer in so einer Bude haust, schläft auch bestimmt in seinen verlausten Kleidern. Benannt sind diese Behelfswohnungen trotzdem nicht nach den Läuseeiern, sondern nach dem englischen Offizier Peter Nissen. Er hat sie erfunden. Nissenhütten haben oben ein gewölbtes Dach aus Wellblech. Nach dem 2. Weltkrieg hat man in Deutschland viele davon errichtet. Die Leute mussten ja irgendwo unterkriechen, nachdem alle Häuser zerbombt waren.

Wir stehen also vor der Nissenhütte, und er sagt: „Hier machst du deine Druckerei auf!“

„Was? In dieser verrotteten Bude? Da kriege ich ja die Krätze!“

In der Küchenecke stand ein alter Kohlenherd. Auf der Kochplatte ein verbeulter Aluminiumtopf. Und darin stak ein dicker Stapel alter Schwarzweißfotos. Ich hab’ bis heute keine Idee warum. Wozu sollte man Schwarzweißfotos kochen? Schwitzen sie dann vielleicht ihr Silber aus? Keine Ahnung. Jedenfalls, als ich die Fotos herauszog, störte ich Kakerlaken auf. Sie wischten wie irr über die Herdplatte und schossen hin und her, bis sie eine Gelegenheit gefunden hatten zu verschwinden. Da hab’ ich die Fotos unbesehen wieder in den Topf gesteckt.

In der Ecke eine Matratze mit einer Decke und Sachen in Plastiktüten, ein Berberlager. Wir wieder raus. Man will doch einem armen Mann die Wohnung nicht streitig machen.

Hinter der Nissenhütte ragte der Bahndamm auf. Der Vovorbewohner war ein Freund meines Förderers gewesen. Er hatte aus dem Bahndamm ein großes Stück ausgeschachtet, um seinen Hinterhof zu vergrößern.

Man darf es natürlich nicht. Du weißt schon, es ist Bahngelände. Das warf in meinen Augen kein gutes Licht auf den Freund meines Förderers.

Komm, wir machen es uns auf der Plattform der Draisine bequem. Bist du warm genug angezogen? Nicht dass du nachher meine Jacke haben willst, und ich friere mir unterwegs den Arsch ab.

Willst du wissen, wie die Geschichte weitergeht? Kannst dich ja inzwischen warm einpacken.

Der Typ hatte nur kurz in der Nissenhütte gewohnt. Dann war er als Austauschstudent nach Bolivien gegangen. Dort verliebte er sich in eine Frau. Oder es war umgekehrt. Jedenfalls, nach einem Jahr und etwas mehr, er ist zurück in Deutschland und gut mit einer Frau aus der besseren Gesellschaft verlobt, steht eines Tages die Bolivianerin mit zwei Koffern vor seiner Tür. Die ganze Familie Esmeralda oder wie sie hieß hatte zusammengelegt für das Flugticket, weil man der Ansicht war, der Deutsche hätte der Frau die Ehe versprochen.

Und dieser Kerl nicht faul, muss sie ja zuerst mal aufs Eis legen. Darum hat er sie für eine Weile in dieser Nissenhütte einquartiert. Da wird sie ordentlich gefroren haben.

Jetzt aber los, wir sitzen gut, die Draisine kann endlich anrollen. Den Anstieg hinauf, in die gemauerte Brücke hinein, durch die Torbögen sehen wir im Licht der Stadt einige Nachtschwärmer links und rechts. Jetzt geht es schnell, denn wir müssen durch den kleinen Park, dann taucht die Brücke auf, mein Haus, - ich winke nicht, denn ich treibe die Draisine an.

Eine ganze Weile rollen wir geradeaus. Das sieht bei Schienensträngen einfach gut aus, vor allem, weil wir so dicht über dem Schotter entlang flitzen. Nein, unsere Räder haben keine Macke. Das Tocktock entsteht, wenn sie über Schweißnähte der Schienen rollen. Es ist ein angenehmes Geräusch, findest du nicht? Irgendwie beruhigend. Pass auf, dass du mir nicht einschläfst.

Wir rollen unter einer Brücke hindurch. Guck mal dort rechts, die Häuser erinnern mich an Pueblos, wie sie terrassenförmig am Königshügel kleben. Die Besitzer klagen schon seit Jahren gegen die Bahn. Der Lärm der Dieselloks nervt ja nicht nur, sondern mindert auch den Wert der Häuser. Die Bahn sagt: Wir waren zuerst da. Wer an einer Bahnlinie baut, darf sich nachher nicht beschweren.

Gleich nähern wir uns dem Westfriedhof. Dann wird es ein wenig unheimlich.

Wir halten mal eben an und werfen einen letzten Blick zurück auf die Stadt. Der Blick über den Aachener Kessel und hoch oben der Mond, das ist schon ein Innehalten wert. Na ja, die Wolken. Wenn sie so tief hängen wie heute, bescheint sie das Licht der Stadt von unten. Dieser milchigorange Himmel sieht ja ganz artig aus, er ist aber eigentlich kein gutes Zeichen. Der Farbe hat etwas mit den Schadstoffen in der Luft zu tun, was meinst du?

Der Turm, der alles überragt, den kennst du von gestern schon. Das ist die Jakobskirche.

Warum mein Förderer ein seltsamer Mann war? Da könnte ich dir vieles erzählen. Ein Beispiel: Am 20. Juli 1964, etwa zehn Jahre, bevor ich ihn kennen lernte, hat er mit anderen die Bühne des Aachener Audimax gestürmt und Joseph Beuys ins Gesicht geschlagen. Das geschah beim legendären Fluxus-Festival der Neuen Kunst, das, wie die Aachener Nachrichten damals freundlich vermeldeten, „einen physisch ausgetragenen Konflikt zwischen Akteuren und studentischem Publikum sowie eine Strafanzeige zur Folge hatte. Das Foto des blutenden Joseph Beuys, der mit einem Kruzifix in der Hand gegen die Menge der Studenten tritt, gehört zu den berühmtesten Dokumenten dieser Zeit.“

Als ich den Mann kennen lernte, wusste ich nichts davon. Er war längst kein Student mehr, sondern hatte bereits zwei Doktortitel, ein Diplom der Ingenieurswissenschaften und besaß eine Hochschulzeitschrift, die ihm über Anzeigen gutes Geld einbrachte. Für diese Zeitschrift zeichnete ich bald Cartoons. Ich bekam dafür kein Geld, sondern Bücher, das heißt, ich durfte mir Neuerscheinungen aussuchen, die er bestellen ließ. Die Verlage legen den Büchern „Waschzettel“ bei und erwarten, dass als Entgelt für das kostenlos zugesandte Buch eine Rezension in der jeweiligen Zeitung oder Zeitschrift erscheint.

Zu dieser Zeit begann ich mein Studium, das ich durch allerlei Arbeiten finanzierte. Da hatte ich keine Zeit, die Bücher sorgsam zu rezensieren, auch nicht die Qualifikation, denn wie gesagt, ich war noch jung. Also nahm ich die Texte der Waschzettel, strich sie zusammen, und so wurde die Rezension dann in der Zeitschrift abgedruckt. Der Mann sagte mir, dass es alle so machen. Doch koscher war es nicht.

Ich weiß nicht, warum er mich förderte. Wir hatten nicht die gleichen Ansichten über die Welt. Eine ganze Weile ließ ich mir helfen von dem Mann, der Joseph Beuys ins Gesicht geschlagen hat, was mir heute seltsam erscheint.

Wie auch immer. Reiß dich los, meine Liebe, wir fahren jetzt weiter. Die Draisine rollt an. Hoffentlich wird sie bald schneller, denn am Westfriedhof ist es ein bisschen gruselig. Das erste Stück geht, da haben wir zwischen uns und dem Friedhof noch die Bleiberger Straße. Leider endet sie an der Brücke über die Vaalser Straße, und dann rücken die Gräber bis nah an den Gleiskörper. Das einsame Haus dort war vielleicht einmal ein Bahnhofsgebäude, doch wenn du genau hinguckst, siehst du auf den Ziegeln der Hausfront die blasse Aufschrift „Friedhofsgärtnerei“.

Das Gebäude steht leer, seit ich in Aachen bin. Ich kenne es nicht anders. Die Leute sparen ja immer mehr bei der Friedhofskultur. Das habe ich letztens im Fernsehen gehört, da ging es um Pappsärge aus Holland. Man will sie eventuell auch in Deutschland genehmigen.

Hör mal, zu Rosenmontag war ich einmal in einer Kneipe im Kölner Severinsviertel. Da lernte ich einen Mann kennen, der eine Kalenderdruckerei hatte. Er ließ irgendwie die Nase hängen, was aber nichts mit den Kalendern zu tun hatte, sondern mit seiner Frau. Jedenfalls war er nicht recht bei der Sache, was karnevalistische Fröhlichkeit betrifft. Und weißt du, wann er dann endlich auftaute und so richtig lebendig wurde? Als er mir von seinem Begräbnisverein erzählte.

„Wie kommt man darauf, einen Begräbnisverein zu gründen?“, habe ich gefragt.

„Wir haben uns gesagt, aus dem Alter, dass wir Hochzeiten und Kindstaufen feiern können, sind wir raus. Was jetzt noch kommt, sind Beerdigungen. Darum haben wir den Begräbnisverein gegründet.“

„Und was macht ihr so?“

„Wir besichtigen Friedhöfe, und letztens haben wir ein Krematorium besucht“, hat er gesagt und sein Kölsch gekippt. Und wie er sich so erinnert hat an die ganze Technik in einem Krematorium und dass nach der Leichenverbrennung in der Asche noch die Knochen rumliegen, da konnten ihm auch die Karnevalswagen vor den Kneipenfenstern die Laune nicht mehr verderben, hehe.

Hör mal, ich will mich gar nicht über ihn lustig machen. Vielleicht fühlt man sich wirklich erst so richtig lebendig, wenn man das Thema Tod nicht verdrängt. Man kann ja eine Sache am besten genießen, wenn man auch das Gegenteil vor Augen hat. Wenn du zum Beispiel einen freien Tag hast, dann ist die Freude am größten, wenn du weißt, dass die anderen an deinem freien Tag arbeiten müssen.

Was da zwischen den Bäumen und Büschen blinzelt, sind übrigens die Grablichter, das kannst du dir denken. Es dauert jetzt eine Weile, bis wir den Westfriedhof hinter uns haben. Wusstest du eigentlich, dass Fasane nachts aufbaumen? Wirklich, diese großen plumpen Vögel fliegen zum Schlafen auf die Bäume. Da können wir nur hoffen, dass sie sich unseretwegen nicht erschrecken. Denn wenn sie aus den schwarzen Fichten auffliegen, das macht einen höllischen Flatterlärm. Falls dir das Angst macht, kannst du ja ein bisschen näher heranrücken und wenn nötig für einen kurzen Moment in mich hineinkriechen.

Ah, das tat gut.

Was ist, meine Liebe? Brauchst doch nicht gleich ängstlich zu ducken, wenn so ein Federvieh sich erschreckt. Guck, da rechts auf dem neu bebauten Hügel soll irgendwo der Oberbürgermeister von Aachen wohnen. Das finde ich besser, als würde er an dem anderen Tunnel der Stadt wohnen. Denn dort ist der Geldadel von Aachen zu Hause.

Gott, jetzt wird es finster. Hier gibt es nur Wiesen und Büsche. Bist du auch so nass im Gesicht? Kein Wunder, bei dieser Luftfeuchte. Ein Glück, dass du meine Jacke nicht brauchst.

Was da so bedrohlich vor uns aufragt? Da versperrt uns ein stattlicher Berg den Weg. Keine Angst, es gibt ein Durchkommen. Wir sagen gleich den Lichtern des Bauernhofs tschüss, tauchen in einen Hohlweg ein und sausen auf den Tunneldurchstich zu. Der Tunnel reißt das finstre Maul auf, und schon sind wir drin.

Wir sind unter der Erde. Jetzt drückt uns der höchste Berg der Niederlande auf die Ohren. „Drielandenpunt“ heißt er. Drei Länder stoßen dort oben aneinander.

Weißt du, was ich vergangene Nacht getan habe? Ich konnte nicht schlafen, und irgendwann habe ich den Fernseher eingeschaltet. Auf dem Ersten Programm fuhr man wie ein Lokführer über eine der schönsten Eisenbahnlinien der Welt. In Österreich war es, glaube ich.

Einmal tauchte die Lok in einen langen Tunnel. Zu sehen war nix. Als ich dachte, och, hier ist es aber finster, da tauchte eine Schrifteinblendung auf:

„Tunneldurchfahrt um drei Minuten gekürzt“

Und dann kam Licht in den Tunnel und man fuhr wieder hinaus in die Landschaft. Ich dachte, das ist die Qualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Von den Schlaflosen vor der Glotze hätte doch keiner gemerkt, dass die Tunneldurchfahrt verkürzt war. Dass sie es trotzdem einblenden …, und da sagst du immer, es gibt keine journalistische Sorgfalt mehr.

Wie, das hast du nie gesagt?

War ja auch nur ein Spaß.

Wir machen es jetzt genauso, meine Liebe, verkürzen die Tunneldurchfahrt um drei Minuten. Denn wir wollen endlich raus aus der Finsternis. Man sieht ja die Hand hinterm Rücken nicht. He! Brauchst nicht gleich wieder zu zucken. Du hast keine Hand hinter deinem Rücken. Es war nur eine spaßhafte Wendung.

Da, das Ende des Tunnels. Wir sausen hinaus. Es ist wie eine kleine Neugeburt, findest du nicht? Gut, der Wald ist ziemlich dunkel. Doch bald machen wir Station im belgischen Moresnet. Dort sehen wir einen Kalvarienberg und daneben eine Wallfahrtskapelle. Die gucken wir uns in der kommenden Nacht an. Und wir gehen auch hinüber in ein uriges Café.

Kommst du wieder mit morgen Nacht?

Dann kriegen wir jetzt den Dreh. Sagen uns Tschüs und gute Nacht, ein trockener Kuss geht hin und her. Deine Lippen sind kalt. Fühlt sich trotzdem gut an.

Mindestens so gut, dass man davon träumen kann.

Gute Nacht, meine Liebe

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