Читать книгу Stillen mit (herz-)krankem Kind - Julia Berg - Страница 9
1.1.1 Muttermilch: Ein Wunder der Natur …
ОглавлениеWeshalb die Empfehlung der WHO so lautet, ist schnell erklärt: Muttermilch ist das natürliche, artgerechte und gesunde Nahrungsmittel für Neugeborene und Säuglinge. Sie enthält neben Wasser über 100 verschiedene andere Stoffe, genau genommen sogar über 1000, wenn man bedenkt, dass in Muttermilch allein mehr als 200 verschiedene Arten Mehrfachzucker und über 700 verschiedene Arten Bakterien zu finden sind. Künstliche Säuglingsnahrung (Formula) hingegen enthält neben Wasser nur etwa 50 verschiedene Inhaltsstoffe. Eine schöne Übersicht über die Inhaltsstoffe von Muttermilch im Vergleich zu Formula findet ihr unter www.hebammenverband.de → Hebammenforum → Materialien zum Herunterladen → „Was ist eigentlich in Muttermilch und in Formula?“
Muttermilch ist in ihrer Zusammensetzung variabel und immer genau auf die Bedürfnisse des wachsenden Kindes abgestimmt. Die Milch für ein Neugeborenes unterscheidet sich in ihrer Zusammensetzung von der für einen älteren Säugling. Jede Mutter bildet die für ihr eigenes Baby passende Milch. Neben einem für den kindlichen Stoffwechsel optimalen Nährstoffangebot enthält Muttermilch eine Vielzahl lebender Zellen (rund 4000 allein in einem Tropfen!), unter anderem Stammzellen mit ähnlichen Eigenschaften wie embryonale Stammzellen sowie spezifische, immunologisch wirksame Substanzen und Mikroorganismen, darunter eine Vielzahl von Bakterien wie Milchsäure- und Bifidobakterien, Staphylokokken, Streptokokken und Pseudomonas. Etliche von denen tragen zur Entwicklung eines kompetenten, kindlichen Immunsystems bei.
Wissenschaftler, die sich mit der Zusammensetzung der Muttermilch beschäftigen, finden immer neue Bestandteile – die meisten haben mehrere Funktionen für den kindlichen Organismus, kooperieren miteinander und ergänzen einander in ihren Wirkmechanismen. Für seine Entwicklung braucht das kindliche Immunsystem mindestens zwei Jahre. Muttermilch enthält viele Stoffe, die das Kind während dieser Zeit vor schweren Infektionen schützen und gleichzeitig helfen, sein Immunsystem aufzubauen. Bereits während der Schwangerschaft wird das Kind passiv immunisiert, und zwar durch den Transfer von Immunglobulin-G-Zellen (IgG) aus dem mütterlichen Blut ins kindliche über die Plazenta. Nach der Geburt übernimmt die Brust diese Aufgabe zum Teil.
Kolostrum, die Muttermilch der ersten Stunden und Tage, hat beispielsweise großen Einfluss auf die Besiedelung des kindlichen Magen-Darm-Traktes mit gesunden Mikroorganismen. Dadurch haben es krankmachende Erreger schwer, sich im Darm zu vermehren. Zudem legen sich bestimmte Stoffe in der Muttermilch wie ein Schutzfilm auf die noch unreife und durchlässige Darmschleimhaut des Neugeborenen. So verhindern sie, dass potenziell schädliche Zellen eindringen. Studien zeigen: Je länger die Mutter ausschließlich stillt, desto umfassender ist der Schutz vor Infektionen2.
Die Ernährung mit Muttermilch von Anfang an stellt wichtige Weichen für die Zukunft des Immunsystems – also auch für die spätere Gesundheit des kleinen Menschen. Warum das so ist, das können Wissenschaftlerinnen noch immer nicht genau sagen. Jedoch haben zahlreiche Studien gezeigt, dass gestillte Kinder (im Vergleich zu nicht gestillten) ein geringeres Risiko für Infektionskrankheiten, plötzlichen Kindstod, Allergien und die Entwicklung von Übergewicht, Diabetes Typ-1 und Typ-2 haben3. Zudem erfolgt die Immunisierung des Kindes durch die Milch seiner Mutter dynamisch: Die Mutter hat über die Brustwarze Kontakt zum Keimspektrum im Gesicht und Mund ihres Kindes. Ihr Immunsystem erkennt potenziell schädliche Bakterien und Viren und reagiert sofort mit der Bildung von Immunstoffen, die diese bekämpfen. Diese Abwehrstoffe werden über den Darm der Mutter (wie genau dies funktioniert, ist noch nicht vollständig geklärt) oder deren Blut in die Muttermilch geschleust. Somit schützt die Mutter mit ihrer Milch das eigene Kind vor genau den Keimen, die in seiner direkten Umgebung vorhanden sind4. Dieser Mechanismus ist vor allem für Kinder wichtig, die im Krankenhaus betreut werden. Genauso erhöht sich bei einer Infektion der Mutter die Zahl der Immunzellen und anderer Abwehrstoffe in ihrer Milch, um das Kind vor einer Ansteckung zu schützen. Damit der Keimaustausch zwischen Mutter und Kind möglich ist, bedarf es des direkten Körperkontakts zwischen beiden. Stillhütchen oder ausschließliches Pumpen oder Ausstreichen von Milch verhindern dies. Deshalb sollten auch sehr kranke Neugeborene und Säuglinge, die vielleicht zu schwach zum Trinken an der Brust sind, immer mal wieder die Möglichkeit bekommen, an der mütterlichen Brust zu lecken oder zu saugen5.
Seit langem ist in der Medizin bekannt, dass Frühgeborene in besonderem Maße von einer Ernährung mit Muttermilch profitieren. Muttermilch hat für sie – zusätzlich zur nährenden – eine besonders schützende Funktion. Sie schützt vor lebensbedrohlichen Komplikationen wie der nekrotisierenden Enterokolitis (NEC, das ist eine schwere Entzündung des Dickdarms), die bei mit Muttermilch ernährten Frühgeborenen viel seltener vorkommt als bei mit künstlicher Säuglingsnahrung (Formula) ernährten. Zudem hilft Muttermilch, diese Kinder vor einer Frühgeborenen-Retinopathie (einer Schädigung der Netzhaut des Auges) sowie der Entwicklung einer bronchopulmonalen Dysplasie (einer Schädigung der Lunge) zu schützen und sie fördert die strukturelle Vernetzung verschiedener Regionen im Gehirn des zu früh geborenen Kindes6.
Die Konzentration an Immunzellen ist im Kolostrum am höchsten, sinkt in den folgenden Wochen und Monaten, um ab dem sechsten Lebensmonat des Kindes wieder anzusteigen – eben zu einer Zeit, in der das Kind aktiver wird, Dinge greift und mit dem Mund erforscht. In der es seine Umgebung robbend und krabbelnd erkundet. Viele Abwehrstoffe erreichen sogar bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes Werte ähnlich dem Kolostrum7. Noch ein Argument für eine lange Stillzeit.