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Die Stadt in der Metro

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Es dämmerte, als Julia in der Küche ihren Kaffee trank und die Zeitung las. Vereinzelt hörte sie die Türen der Nachbarn ins Schloss fallen. Wer weit draußen in der Vorstadt arbeitete, musste sich früh dem täglichen Wettrennen um Platz und Fortkommen in der Metro stellen. Ihre rothaarige Nachbarin mit dem gewinnenden Lächeln, die eine Schule in einer der von sozialen Problemen geplagten Vorstädte im Osten leitete, verließ das Haus um halb sieben. Im Sommer nahm ihr Mann sie manchmal auf dem Motorrad mit.

Julia lag gewöhnlich im Mittelfeld des großen Heeres der Arbeiter und Büroangestellten, die täglich im Laufschritt durch die Metro-Schächte zur Arbeit eilten und sich dabei leidlich bemühten, einander nicht umzustoßen. Zwischen fünf und halb sieben war die Frühschicht unterwegs. Ein kleiner, dunkelhäutiger Menschenschlag aus aller Herren Länder, dem die Anstrengungen schlecht bezahlter Arbeit und eines in vielen Fällen ungeklärten Aufenthaltsstatus deutlich ins Gesicht geschrieben standen. Lagerarbeiter aus Indien, Personal der chinesischen Gastwirtschaft ohne Papiere und Reinigungskräfte aus ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, manche mit schwarzen Rastalocken, andere mit bunter afrikanischer Kopfbedeckung oder islamischer Verschleierung. Stumm und in ihr Schicksal ergeben glitten sie wie Schatten durch die frühen Pariser Morgenstunden. Ihr einziges Privileg war ein Sitzplatz in der Metro, von dem die meisten Büroangestellten, die zwei oder drei Stunden später losfuhren, nur träumen konnten.

Manchmal gesellte sich Julia zu den morgendlichen Schatten, wenn sie dringend einen Artikel fertig schreiben musste oder wenn ihre Sorgen sie nachts wach hielten und sie nach einem langen Kampf mit der Schlaflosigkeit schließlich entschied, dass sie die Zeit ebenso gut im Labor verbringen konnte. Sie fühlte sich immer fremd unter diesen Menschen. Was war schon ihr bisschen Schlaflosigkeit gegen die Einsamkeit, in der viele von denen sich um ihr Dasein schlagen mussten? Ihre Sorgen um die nächste Veröffentlichung gegen deren Geldnöte? Ihre Kinderlosigkeit gegen deren Papierlosigkeit? Sie mit ihrem lieben, lustigen Mann zuhause in der schönen Wohnung, mit den Reisen und den Wochenendausflügen, mit den Abendessen und den Partys mit Freunden.

Anders war das in ihrer eigenen Schicht, der in der Mitte. Da war sie unter ihresgleichen. Büroangestellte aller Industrie- und Dienstleistungszweige, Männer im Anzug und sorgfältig geschminkte und frisierte Frauen waren dann auf dem Weg zur Arbeit. Sie waren in Eile und nahmen es einander übel, dass sie sich dabei gegenseitig Platz wegnahmen. Um diese Uhrzeit waren die Straßen voller Leben. Die Stadt war erwacht und mit ihr ihre Prinzessinnen und ihre Bettler, ihre Arbeitsbienen und ihre Müßiggänger, ihre ehrlichen Kaufleute und Arbeiter ebenso wie ihre Schlitzohren, Betrüger und Diebe.

Als Julia den kleinen Weg hinter ihrem Haus hinunterlief, begrüßte sie der hünenhafte, schokoladenbraune Mann von der Stadtreinigung mit Handschlag. Beinahe täglich pflegte er hier den Sportplatz. Es musste der sauberste Sportplatz im Großraum Paris sein. Einmal hatte er ihre Hand geküsst. Ein andermal hatte er ihr ein Praktikum angeboten. Mit dem Anlernen meinte er es offenbar sehr ernst, denn gelegentlich drückte er Julia einen Mülleimer in die Hand, den sie auf ihren hohen Absätzen über den unebenen kleinen Weg zur Straße hinunter schieben sollte. Wahrscheinlich wollte er demonstrieren, dass sie ohne weiteres Training für die Stadtreinigung nicht geeignet war. Vor Weihnachten hatte er ihr eine gemeinsame Reise zu seiner Familie auf die Antillen angeboten. Irgendetwas ließ er sich immer einfallen.

Auf der rue de Belleville traf Julia meistens auf ihre nächste Bekannte, eine Frau mit lederner, grauer Haut und öligen, aschblonden Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Jeden Morgen empfing sie Julia mit der gleichen Frage: „Sie hätten wohl keine Münze für mich?“ Ihr Tonfall war wie ihr Gang, mit dem sie Tag für Tag die Straße auf und ab schlich: einförmig, ohne jede Akzentuierung. Manchmal fügte die Frau hinzu, dass sie schließlich nicht gleich um Scheine bitten könnte. Dann deutete sich in ihrem Gesicht etwas an, was an ein Lächeln erinnerte, Schalk. Doch das war selten. Wenn Julia länger stehen blieb, um ihr Portemonnaie in der Tasche zu suchen, erzählte die Frau von ihrer Familie oder von Ärzten, die sie mit einem bösem Zauber belegen wollten, wenn sie ihr nicht gleich nach dem Leben trachteten. Heute war sie nicht da. Wenn Julia so recht darüber nachdachte, war sie schon eine ganze Weile verschwunden. Manchmal schien diese Stadt ihre Bewohner einfach zu verschlucken.

Heute hatte eine Bürgerin sich aufgerufen gefühlt, der Stadtreinigung bei der Müllabfuhr behilflich zu sein. Die Frau schob geschäftig Abfalltonnen über die Straße, während ein grün gekleideter Müllmann nervös neben ihr herlief. Eine heftige Diskussion entstand zwischen den beiden. Um sie herum liefen Chinesen eilig zur Arbeit, transportierten auf hohen, länglichen Gestellen Waren in ihren Laden oder brachten ihre Kinder zur Schule. Als Julia in den Metroeingang einbog, wo mehrere Zeitungsausteiler und die Zeugen Jehovas um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlten, war es zwischen dem Müllmann und seiner Helferin zum Handgemenge gekommen. Die verschmähte Reinigungskraft schrie laut ihre Wut in die Straßen von Belleville hinaus.

Ein kleiner Junge mit Schulranzen auf dem Rücken war im engen Korridor der Zeitungsleute und Missionare plötzlich stehen geblieben und blickte durch seine dicken Brillengläser fasziniert um sich. Er schien die Vielfalt des Angebots um sich herum kaum fassen zu können. Julia hätte ihn um ein Haar überrannt. Im morgendlichen Pendelverkehr war es nicht vorgesehen, dass jemand stehen blieb. Sie wartete geduldig, bis der Kleine sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, und widerstand dabei der Versuchung, sein dichtes Haar zu streicheln. Die versierteren Pariser hinter ihr hatten das Hindernis deutlich schneller erkannt als sie und waren ausgewichen, indem sie einen zackigen Bogen um den Informationskorridor geschlagen hatten.

Als Julia es endlich in den Metro-Schacht geschafft hatte, hielt ihr ein Anfang Dreißigjähriger im Anzug und leichtem Mantel die Tür hinter dem Drehkreuz auf, wie es in Paris üblich war. Er nickte ihr ohne ein Lächeln zu, bevor er im Laufschritt weiterlief, als gelte es, die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Die Bewohner der Metro-Station schliefen noch. Einer lag auf den roten Plastiksitzen, mit einem schmutzigen Schlafsack zugedeckt. Der andere hatte sich quer über dem Bahnsteig ausgestreckt, seine Decke bedeckte weder seinen entblößten Rücken, noch die zerrissenen Strümpfe. Julia fragte sich, wie viele Frauen auf hohen Absätzen und Männer in teuren Anzügen heute noch über seine Beine steigen würden, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

Einmal war sie den beiden Obdachlosen am Abend begegnet. Der Mann, der heute den eiligen Parisern seinen entblößten Rücken entgegenstreckte, hatte sich auf seinem Plastiksitz gekrümmt, die Hand auf dem Magen. Sein Bahnsteigmitbewohner hatte mit schwerer Zunge auf ihn eingeredet. Julia hatte etwas hilflos angeboten, einen Notarzt zu rufen. Der Mann, der die Rolle des Trösters übernommen hatte, hatte sie aus seinem zerfurchten Gesicht verständnislos angesehen.

„Das bringt nichts“, hatte er kurz befunden. Dann war Julias Metro gekommen. Der Impuls war so stark gewesen, dass sie sich nur kurz bei den Männern entschuldigt hatte und dann hinein gesprungen war. Beim Sambakurs danach war Julia die Reflektion ihrer runden Armbewegungen im Spiegel wie das Flügelschlagen eines Todesengels vorgekommen.

Auf dem Rückweg hatte sie Mineralwasser und Schokolade aus dem Automaten gezogen. Sie hatte sich bei dem Mann mit dem zerfurchten Gesicht nach seinem Freund erkundigt, der inzwischen auf dem Boden eingeschlafen war. Sein Helfer schien die Episode schon längst wieder vergessen zu haben. Das Mineralwasser und die Schokolade hatte er mit einem knappen Kopfnicken entgegengenommen. Immer, wenn Julia den Männern jetzt begegnete, spürte sie sich wieder mit einem Satz in die einfahrende Metro springen. Dann sah sie die Flügel des Todesengels in dem zerkratzten Spiegel einer Mehrzweckhalle schlagen.

Irgendwann, wenn der Sommer endgültig Einzug gehalten hatte, beendeten die Obdachlosen ihr Schattendasein in der Metro und verschwanden. Niemand wusste wohin. Sie schienen sich einfach in Luft aufzulösen. Doch im nächsten Winter waren sie wieder da. Die, die überlebt hatten. Julia fragte sich, wie groß die Chance für diese Menschen war, den Weg von der Straße in eine warme Wohnung zu finden. Und wo kamen sie wohl her? Was hatte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie auf dem Bahnsteig leben mussten? Julia nahm sich vor, freiwillige Arbeit in einer Suppenküche zu leisten, anstatt jeden Tag so lange im Labor zu bleiben. Vielleicht würden dann auch die Flügel eines Tages aufhören zu schlagen.

Während die Metro einfuhr, grüßte Julia den Mandolinenmann. Er kam jeden Morgen, etwa um die Zeit, wenn Julia zur Arbeit fuhr, packte seine Mandoline aus und hielt sie auf dem Schoß. Manchmal schien er sie zu stimmen. Einmal hatte Julia sich zu ihm gesetzt und ihn um ein Lied gebeten. Er hatte eine kurze, orientalische Melodie gespielt. Danach hatte Julia ihn nie wieder spielen sehen. Trotzdem warfen immer wieder Passanten Münzen in seinen Hut. Er lebte in erster Linie von seinem sanften, schüchternen Lächeln und seinem Blick, der so treu war, dass die gelbe Färbung seiner Augäpfel kaum störte. Julia war nicht die einzige Frau auf dem Bahnsteig, die ihn begrüßte wie einen alten Bekannten.

Die einfahrende Metro war voll. Die Fahrgäste schienen sich Bauch und Gesicht an den Fenstern der Tür platt zu drücken. Das hielt die echten Pariser nicht davon ab, solange „pardon“ zu murmeln und zur Not ein bisschen mit den Händen nachzuhelfen, bis sie sich aus dem Nichts eine Lücke geschaffen hatten, die es ihnen erlaubte, ihre eigenen Nasen an der Tür plattzudrücken, während die Massen von hinten ihren Brustkorb zu zerdrücken drohten. Julia entschloss sich, auf die nächste Metro zu warten, die eine Minute später kommen sollte. Wenn zwei Züge so dicht aufeinander folgten, war der zweite fast immer viel leerer. Die Leute aber hatten es eilig. Sie drängelten sich lieber in den ersten Zug und haderten gleichzeitig mit ihrem Transportschicksal.

Julia fuhr zwei Stationen mit der nächsten Metro, in der vergleichsweise humane Zustände herrschten, und stieg dann um. Neben ihr tastete sich ein blinder Mann mit seinem Stock durch die Menschenmenge und fing sich verärgerte Blicke ein, wenn er die Hacksen einer feinen Dame berührte, oder die Waden eines geschäftigen Herrn. Er strebte geradewegs auf das Romamädchen mit dem Kindergesicht zu, das jeden Morgen auf der Treppe am Bahnsteigausgang saß und ihrem Zweijährigen die Brust gab oder ihm beim Spielen und Schlafen zusah.

Vor Julias geistigem Auge entstanden Szenen einer unheilvollen Karambolage der Benachteiligten. Blinder stürzt über Kinderkarre und landet auf zwei Zigeunerkindern. Chaos und Geschrei. Entnervte Pariser versuchen schleunigst vom Katastrophenort zu fliehen. Einer fühlt sich am Ende doch verpflichtet, den Notarzt zu rufen. Heimlich ärgert er sich, dass er nun warten muss, anstatt weiter so schnell seine ihn Beine tragen durch dunkle, stinkende Metroschächte laufen zu können.

Julia sah das als die Gelegenheit an, beherzt einzugreifen und die drohende Katastrophe abzuwenden. Sie bot dem Blinden an, ihn zu seinem Ziel zu führen. Es folgte ein ungeschicktes Armehakeln mit dem Ergebnis, dass er schließlich von oben auf Julias angewinkelten Unterarm fasste. Julia ließ sich die Unbequemlichkeit der Lage nicht anmerken. Sie führte ihren Galan zur nächsten Metro als wäre sie ein hochrangiger Diplomat auf dem Wiener Kongress, der eine Dame zur Tanzfläche geleitet. Zufällig hatten der Mann und sie den gleichen Weg. Er erklärte Julia auf dem Bahnsteig, dass er ans andere Ende der Stadt wollte, dabei sah er sie aus einem totem und einem anscheinend noch ein wenig funktionstüchtigem Auge aufmerksam an. Julia verbarg ihr Schaudern und erwiderte standhaft seinen zerstörten Blick.

In der Metro führte Julia ihn zu einem Klappsitz, der noch frei war, und setzte sich selbst daneben, um ihr Buch zu lesen. Am anderen Ende des Wagens schimpften zwei Frauen. Eine war der anderen auf den Zeh getreten und die Entschuldigung hatte zu lange auf sich warten lassen.

Der Rest der Fahrt verlief disziplinierter. Die Fahrgäste lasen Bücher und Zeitungen, lösten Kreuzworträtsel und hörten Musik. Die Klappstuhlinhaber standen widerwillig auf, um Platz zu machen, wenn die schiere Masse der neu herein strömenden Fahrgäste solidarisches Verhalten gebot. Alle gemeinsam ignorierten sie so gut sie konnten das Geschehen um sich herum. Julia nannte ihrem blinden Begleiter vorsichtshalber die Haltestelle, als sie schließlich ausstieg. Damit er Bescheid wusste.

Während Julia die Metro verließ, begann langsam die dritte Schicht, die privilegierteste, das Haus zu verlassen. Einige von ihnen rekelten sich vielleicht noch im Bett. Das waren die hohen Beamten, die Banker und die Unternehmensberater, deren Status es nicht vorsah, dass sie sich vor zehn Uhr im Büro zeigten. Sie hatten üppige Gehälter und Sitzplätze in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn sie sich endlich an ihren Schreibtischen installiert hatten, surften sie erst einmal im Internet oder plauderten mit Kollegen. So richtig hektisch wurde es bei ihnen erst am Abend, nachdem ihre wichtigsten Arbeitstreffen stattgefunden hatten und die dringenden Anfragen und Aufträge der Kunden und der Geschäftsleitung eingetroffen waren.

Der Himmel hatte ein helles, mattes Blau angenommen, als Julia aus den Metro-Schächten auf die Straße trat. Die Sonne ließ die Zinkdächer der Haussmann-Gebäude funkeln und tauchte die obersten Stockwerke in ein warmes Ocker. Auf den Straßen gingen die Menschen ihren morgendlichen Verpflichtungen nach. Eine dunkle Schönheit mit Tuch im Zebramuster auf dem Kopf schritt mit sinnlich wiegenden Hüften über die Straße und zog dabei einen kleinen Jungen hinter sich her, der aufmerksam das Geschehen hinter sich betrachtete. Die blondierten Mütter auf dem Weg zur katholischen Privatschule trugen Haarreifen in dem gleichen Marineblau wie die Hosen und Pullover ihrer Kinder. Ein kleiner, dünner Vater im dunklen Anzug und mit konservativem Seitenscheitel trieb zwei Kindergartenkinder zur Eile an, die weiße Hemden mit steifem Kragen unter ihren Wollpullovern trugen. Gleichzeitig versuchte er mit seiner etwa zehnjährigen Tochter Schritt zu halten, die auf ihrem Roller die Führung übernommen hatte.

Julia bog mit einem Heer von Technikerinnen, Ingenieuren und Forschern auf das Gelände des Forschungsinstituts ein.

Stadt und Gespenster

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