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Keine Arbeit ohne Leiden

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Auf den ersten Blick schien die Bar ausschließlich aus dunklem Holz zu bestehen. Holzböden, Holztische, Holzstühle und eine Holzbar. Dunkel und gemütlich. Der Ort erinnerte Julia an die Kneipen, in denen sie früher in ihrer süddeutschen Studentenstadt nach einem langen Tag in der Bibliothek oder im Labor eingekehrt war. Das Publikum war zwar um Jahre älter, doch Kleidung und Verhalten waren darauf angelegt, das nicht zu erkennen zu geben. Die Stimmung war fröhlich und entspannt. Viele hielten sich an großen belgischen Biergläsern fest, während sie sich mit ihren Freunden und Bekannten unterhielten.

„Da hinten“, rief Sebastian und zeigte auf einen niedrigen Nierentisch, den der Besitzer der Bar auf dem Flohmarkt gefunden haben musste. Darum herum saßen Thomas und seine Freunde auf Hockern und Stühlen. An einem Ende des Tisches stand ein Sofa, dessen dunkelrote Polsterung seine besten Tage längst gesehen hatte. Es war Freitag und Sebastian hatte ausnahmsweise die Bank so früh verlassen, dass er rechtzeitig mit Julia zu ihrer Verabredung gehen konnte. Er winkte Catherine zu, die sich tief in das verblichene Rot der Sofapolster hatte sinken lassen. Sie erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und hob matt die Hand, als wollte sie ausdrücken, dass sie nach einer langen Woche zu ausschweifenderen Bewegungen nicht mehr in der Lage war.

Die Tischrunde begann das umständliche Begrüßungsritual, ohne das eine französische Gesellschaft ihren gemeinsamen Abend nicht beginnt. Einer nach dem anderen stand auf, um Julia und Sebastian zu begrüßen. Neue Bekanntschaften stellten sich beim Berühren der rechten Wange vor, die Antwort erwarteten sie bei der Berührung der linken Wange. Julia kannte kein unwirksameres Vorstellungszeremoniell. Es kostete sie so viel Konzentration, Unbekannte zu küssen, dass sie sich deren Namen ohnehin nicht würde merken können. Später noch einmal nachzufragen, war unhöflich. Inzwischen hatte sie gelernt, Feste und Abendessen zu überstehen, bei denen sich alle anderen so verhielten, als verbände sie eine tiefe Freundschaft mit Julia, während sie kaum einen Namen kannte. Früher konnte sie sich an fast jedes Detail noch so belangloser Diskussionen erinnern. Heute vergaß sie manchmal Menschen, mit denen sie Mittag gegessen oder einen ganzen Abend verbracht hatte. Ihre Gehirnzellen waren wahrscheinlich degeneriert, in jungen, wilden Jahren im Alkohol ertränkt oder von biologischen Prozessen oder Vokabeln okkupiert. Beim Austausch von Küssen mit einem kleinen, schmächtigen Franzosen warf sie aus dem Augenwinkel einen neidischen Blick auf Sebastian. Der durfte sich wenigstens bei den Männern, die er nicht kannte, auf ein Händeschütteln beschränken.

Sebastian und Julia setzten sich neben Catherine auf das verlebte Polstersofa und Julia startete einen Versuch, ebenso tief in den Kissen zu versinken wie ihre Freundin. Sebastian wandte sich dem amerikanischen Studienfreund von Thomas‘ kleinem Bruder zu, der neben ihm auf einem Hocker saß, und begann eine Diskussion über den Vergleich belgischer und tschechischer Biere. Wie sich herausstellte, war der Amerikaner ein Künstler, der sich mit Zeichenunterricht über Wasser hielt. Er war seiner Freundin in ihre Heimat nach Prag gefolgt, wo er gleich zweimal seine große Liebe gefunden hatte: In Gestalt der Frau und in Gestalt der lokalen Biere. Er war klein, bärtig und hatte schon einiges Haupthaar lassen müssen, doch was ihm an Statur fehlte, glich er mit Lebendigkeit und Lautstärke aus. Julia überlegte, warum so viele Amerikaner ihre Neigung, andere zu übertönen, auch nach Jahren in Europa nicht ablegten. Vielleicht lag es daran, dass der Druck sich gegen andere durchzusetzen in den USA so enorm hoch war, bei dem unbedingten Glauben an die Fähigkeit des Einzelnen, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen.

Der Amerikaner, der sich als einziger mit jovialem Handschlag anstatt mit Luftküssen vorgestellt hatte, und zwar als Sean, sprach von Bieren wie sonst nur Weinkenner von ihren liebsten Rebsäften. Fehlte nur noch, dass er den Geschmack verschiedener Sorten mit Waldbeeren verglich. Oder musste man Biere mit Brotsorten vergleichen? Julia stellte sich vor, wie Sean mit seinem Bier gurgelte, es von einer Wange in die andere fließen ließ, und nach dem Schlucken behauptete, es habe im Abgang das Aroma eines Weltmeisterbrötchens. Sebastian hingegen schien nichts Ungewöhnliches an Seans Leidenschaft zu finden. Die beiden Männer verglichen mit dem detailverliebten Vokabular von Kunstkennern den süffigen, malzigen Geschmack belgischer Biere, mit ihrer Tendenz ins Süßliche und – tatsächlich – mitunter einer Beimischung von Waldbeerenaroma mit der herben Männlichkeit eines tschechischen oder deutschen Pils, das einfach, ehrlich und klar Gaumen, Gurgel und Geist erfrischte.

„Ich habe eher den Eindruck, dass nach drei Bieren der Geist nicht mehr ganz klar ist“, raunte Catherine in Julias Ohr. Julia ließ sich das Bier, das sie bestellt hatte, von dem Kellner reichen – belgisch, süffig, malzig – und probierte aus, ob man es ohne Überschütten gewissermaßen im Liegen trinken konnte.

„Deine Narbe verheilt gut“, sagte Julia zu Thomas, der auf der anderen Seite des Tisches auf einem Hocker saß. Sie lief quer über die Stirn, war jedoch deutlich verblasst verglichen mit dem letzten Mal, als Julia sie gesehen hatte. Zu Sebastians und Julias Hochzeit war Thomas noch mit einem Hut erschienen, um die Gäste nicht zu erschrecken.

Thomas war klein und gutaussehend mit dunkelbraunen Haaren. Sein breites Gesicht mit dem markanten Kinn strahlte so viel Ruhe aus, seine Scherze waren von solcher Leichtigkeit, dass Julia sich immer entspannt fühlte, wenn sie in seiner Nähe war. Seine hellblauen Augen hatten einen lieben, sanften Blick.

„Ja, das geht ganz gut voran.“ Thomas lachte leise. „Sogar die Haare sind fast vollständig nachgewachsen.“ Zum Beweis beugte er seinen Kopf nach vorne.

„Die Narbe geht nämlich da weiter“, Thomas malte einen Halbmond auf seinen Vorderkopf, den er immer noch Julia und Catherine entgegenhielt.

„Wie ist das denn überhaupt passiert?“, fragte seine Tischnachbarin, eine kleine Blondine, die sich Julia zuvor während des Küssens mit „Juliette“ vorgestellt hatte. Ausnahmsweise konnte sich Julia daran erinnern, wahrscheinlich, weil es sich gewissermaßen um eine Namensschwester in Verkleinerungsform handelte.

Thomas erzählte die Geschichte von seinem Unfall. Er war mit seinem Mitbewohner Robert auf der Autobahn nach Lyon zu der Hochzeit eines Freundes gefahren. Nicht weit vor ihnen war eine junge Frau mit Katze im Auto unterwegs gewesen. Das Tier hatte irgendwie verrückt gespielt. Als sich die offenbar nicht sehr erfahrene Fahrerin nicht mehr zu helfen wusste, hatte sie einfach mitten auf der Autobahn angehalten. Die Fahrer vor Thomas und Robert hatten noch ausweichen können, aber Robert hatte das Auto zu spät gesehen und so waren sie hinein gerast. Thomas war nicht einmal angeschnallt gewesen. Jetzt beschrieb er, wie er sein Blut auf den Wangen gespürt und festgestellt hatte, dass seine Kopfhaut nach vorne geklappt war. Er beugte sich leicht nach vorne und hob seine Hand vom Gesicht über den Kopf, um zu demonstrieren, wie er seinen Skalp wieder zurück geklappt hatte. Das war seine letzte Erinnerung an die Unfallszene.

Juliette verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Das ist aber nicht das Schlimmste an der Sache“, sagte Julia. „Das eigentlich Perverse war, dass er sich gefreut hat, weil er zwei Monate krankgeschrieben war und endlich wieder Zeit hatte, auszugehen oder Freunde einzuladen.“

Thomas arbeitete in der internen Unternehmenskommunikation, bis vor kurzem in einer der größten darauf spezialisierten Firmen Frankreichs. Angefangen hatte er in einem ganz kleinen Unternehmen, anscheinend ausschließlich mit Frauen als Kollegen, von denen viele noch heute eng mit ihm befreundet waren. Damals, als Julia in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung bei ihm nebenan gewohnt hatte, hatte die Arbeit ihm noch genügend Zeit gelassen, um mehrmals die Woche mit seinen Mitbewohnern für Freunde zu kochen, ins Konzert zu gehen, Picknicks zu veranstalten, und zum Aperitif einzuladen, auf seinem Balkon, der die Größe einer durchschnittlichen Pariser Single-Wohnung hatte. Solche Abende hatten nicht selten mit ausschweifenden Partys geendet. Wie oft hatte der geduldige Herr Lelius mit seinen Ringellöckchen, der jüdische Familienvater, der noch heute direkt unter der WG wohnte, in den frühen Morgenstunden geklingelt und ohne große Hoffnung versucht, der ausgelassenen Bande Vernunft beizubringen. Die Polizei hatte er nie gerufen. Das Schlimmste, was einem mit dieser gottergebenen Familie passieren konnte, war, dass Madame Lelius hochkam. Ihr fehlte die Geduld ihres Mannes.

Einmal hatte Julia die Tür aufgemacht und da stand sie, nachts um elf im rosa Morgenmantel, und beschimpfte die Feiernden mit gellender Stimme als eine Truppe von Arschlöchern. Julia war das nicht besonders gottesfürchtig vorgekommen. Auf der anderen Seite hatten sich Thomas Freunde die letzte halbe Stunde damit beschäftigt, Eis mit einem Hammer zu zerkleinern. Julia hatte einsehen müssen, dass das an die Nerven gehen konnte.

Später hatten sich mehrere Nachbarn zusammengetan und eine Petition verfasst, die entweder dem Zweck dienen sollte, Thomas und seine Mitbewohner zu nächtlicher Ruhe zu zwingen, oder sie aus der Nachbarschaft zu verjagen. Julia war das nie ganz klar geworden. Wie dem auch sei, die Nachbarn hatten nicht mehr viel Anlass zur Klage. Thomas war die Karriereleiter hochgeklettert und seither dauernd müde. Er verließ morgens um halb sieben das Haus und kam abends selten vor neun Uhr zurück. Meistens arbeitete er mindestens einmal die Woche bis in die frühen Morgenstunden. Abendessen und Feiern fanden in seiner Wohnung nur noch einmal im Quartal statt.

„Am meisten stört mich an all dem, dass Thomas einfach viel zu schade ist, um sein Leben an seinen Arbeitgeber zu verkaufen“, räsonierte Catherine aus den Tiefen ihrer Polster. „Es gibt genug Leute, die nichts mit sich anzufangen wissen. Die können von mir aus auch im Büro sitzen. Aber keiner macht so erstklassige Konzerte ausfindig, kocht so gut und hat so viele Ideen für ausgefallene Partys. Du musst dringend einen radikalen Wechsel einleiten“, schlussfolgerte sie, und richtete sich dabei kurz auf, wahrscheinlich, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.

Julia dachte an den Sommer, als Thomas arbeitslos gewesen war und eine Hitzewelle über Frankreich gelegen hatte. Damals hatte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihm klingeln können. Er hatte sie auf seinem Balkon bewirtet oder ihr ein interessantes Kulturprogramm vorgeschlagen. Am Wochenende waren sie morgens zum Bois de Vincennes gejoggt und hatten danach auf einem Arabermarkt voller Trubel ihre Einkäufe zusammen erledigt.

Julia fiel auf, dass seine Haut jetzt beinahe transparent wirkte. Es lagen Welten zwischen dem unverwüstlichen Kerl mit der frischen Sommerbräune und den langen, unbändigen Haaren von damals und seinem Erscheinungsbild heute.

„Wenn er die Krankschreibung nicht gehabt hätte, hätte er auch nie Zeit gehabt Cécile kennen zu lernen“, fuhr Catherine ihre Schmährede fort. Da sie wieder in ihre Kissen versunken und kaum zu sehen war, war nicht ganz klar, an wen sie das Wort richtete. „Man braucht schließlich Zeit, um einen Menschen zu erobern. Siehst du die überhaupt noch?“, rief sie, während sie andeutungsweise ihren Kopf in Thomas' Richtung drehte.

„Aber du hast doch gewechselt“, sagte Julia, ohne die Antwort auf Catherines indiskrete Fragen abzuwarten. „Sind die Arbeitszeiten bei der neuen Firma denn immer noch so schlimm?“

„Schlimmer“, kommentierte Catherine aus den Tiefen ihres Sofas. „Was auch nicht verwunderlich ist. Er hat einen neuen Job gesucht, der ihn mehr interessiert und ihm ein bisschen mehr Freizeit lässt. Und was macht er? Nimmt eine Beförderung auf dem gleichen Gebiet an, auf dem er vorher schon gelitten hat. Noch mehr Verantwortung, noch weniger Freizeit.“

„Ist es denn wenigstens interessant?“, fragte Julia.

„Interessant?“, Thomas überlegte. „Interessant ja, aber die Arbeitsbedingungen sind unmöglich. In der Branche stellen sie grundsätzlich zu wenige Leute ein. Das ist in diesem Unternehmen nicht anders als in dem davor.“

„Das ist die Lohnmasse“, sagte Juliette mit einem wissenden Nicken. Sie arbeitete in Thomas altem Unternehmen und war eng vertraut mit dem Diskurs der Arbeitgeber. „Die wollen sie niedrig halten, um die Rentabilität zu erhöhen. Deswegen sollen wir immer mehr mit immer weniger Leuten machen.

„Kannst du nicht ein bisschen mehr delegieren?“, fragte Julia. „Oder einfach oberflächlicher arbeiten, wenn sie dir so unmögliche Dinge abverlangen?“

Thomas sah sie einen Moment lang nachdenklich an. Inzwischen kamen seine Augen ihr fast genauso transparent vor, wie seine Haut. „Ich glaube, das kann ich nicht“, befand er schließlich. „Ich liebe meine Arbeit und ich möchte sie gut machen. Sonst befriedigt mich das nicht.“

„Und danken sie dir das?“

„Ich danke es mir.“ Er lächelte so gut gelaunt, wie es ihm seine Müdigkeit erlaubte. „Ich sehe mich als Kunsthandwerker. Das Produkt meiner Arbeit muss gut sein, gelungen. Nur dann bin ich zufrieden.“

„Audrey hat erzählt, dass er noch nicht einmal Zeit zum Mittagessen hat“, schaltete sich Catherine erneut in das Gespräch ein. „Sie wohnt direkt nebenan, fünf Minuten zu Fuß von seiner Arbeit. Hat ihm schon vor Wochen angeboten, für ihn zu kochen, damit sie wenigstens schnell eine halbe Stunde zusammen essen können, aber er ist noch nie gekommen.“

Thomas stand auf, stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab, und hielt mit der anderen Catherine den Mund zu. Sie hatte ein paar Monate in Thomas WG gelebt, nachdem die ersten Mitbewohner aus seinem Heimatdorf ausgezogen waren, weil sie ins Ausland gingen, einen Job in einer anderen Stadt annahmen oder mit einer Frau zusammenzogen. Wie so viele Frauen hatte Catherine in der kurzen Zeit eine innige Freundschaft zu Thomas entwickelt, aus der sie heute das Recht ableitete, sich hemmungslos in sein Leben einzumischen.

„Mittags muss ich Feuer löschen“, erklärte er, immer noch in seiner akrobatischen Stellung. „Die Kunden schaffen es fast jeden Tag, um halb zwölf mit einem riesigen Problem anzurufen, das unbedingt bis zwei gelöst sein muss. Dann esse ich eben schnell ein Brötchen am Computer.“

„Klar, die rufen dich vor ihrer Mittagspause an – die machen nämlich eine“, rief Catherine, nachdem sie in einem rüden Gerangel ihren Mund befreit hatte. „Sie treffen sich mit Geschäftspartnern in einem schicken Restaurant und wenn sie wieder an den Arbeitsplatz kommen, mit mindestens einer Flasche feinstem Bordeaux intus, dann sollst du ihr Problem gelöst haben.“

„Deswegen arbeitet er auch regelmäßig bis in die frühen Morgenstunden.“ Catherine zog die Schultern hoch und breitete die Armen aus, als wollte sie ihrem Auditorium ihre Hilflosigkeit verdeutlichen. „Die Kunden rufen abends an und fordern irgendwelche Artikel, Berichte oder Vorträge an, alles muss natürlich am nächsten Morgen fertig sein. Sie selber gehen nachhause und genießen ihren Feierabend.“

Julia dreht sich zu Catherine und musterte sie eine Weile mit zusammengekniffenen Augen. „Du bist heute also die Sprecherin für die Arbeitnehmer aus der Privatwirtschaft?“ Thomas hatte sich inzwischen einer Gruppe auf der anderen Seite des Tisches zugewendet, die seine Meinung zu dem diesjährigen Programm eines Musikfestivals hören wollte.

„Mir war das gar nicht klar, dass Thomas so viel arbeitet“, sagte Thibault, sein kleiner Bruder, der kerzengerade auf seinem Holzstuhl sitzend die ganze Zeit still die Debatte verfolgt hatte. „Ich kann mir so etwas gar nicht vorstellen. Bei mir ist es genau anders herum. Ich habe ein ganz kleines Gehalt, dafür aber sehr viel Zeit.“ Thibault lächelte sein Mona-Lisa-Lächeln. Er wirkte noch ausgeglichener als sein Bruder. Manchmal hätte Julia gerne die Eltern kennen gelernt, die zwei so perfekte Kombinationen aus Bonvivant und Buddha großgezogen hatten. Allerdings passten Thibaults Werke – er war Maler – ganz und gar nicht zu seinem ruhigen, zurückhaltenden Auftreten. Die meisten Bilder waren Feuerwerke in schrillen Farben, von einer bemerkenswert aufgewühlten, fast schon aggressiven Sexualität. Die letzte Auktion mit Thibaults Bildern, die Julia besucht hatte, hatte passenderweise in einem Strip-Club stattgefunden. Julia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Thibault zu solchen Kreationen kommen konnte, ohne ein Leben voller Exzesse, Drogen, Alkohol und Orgien zu führen. Doch jedes Mal, wenn sie ihn traf, beschränkte er sich auf ruhige, höfliche Konversation zu einem vereinzelten Bier. Er hielt sich mit kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser, anscheinend ohne größere Mühe, was in dieser sündhaft teuren Stadt an ein Wunder grenzte.

„Das ist eben das große Dilemma“, sagte Catherine. „Man kann einfach keine Arbeit finden, die interessant und anspruchsvoll ist und von der man eine Pariser Miete zahlen kann, ohne gleich seine gesamte Freizeit zu verkaufen. Die Jobs hingegen, bei denen dir Zeit für ein eigenes Leben bleibt, sind schlecht bezahlt und meistens langweilig. Thomas hat die schlechteste aller Welten gewählt. Er bekommt noch nicht einmal anständiges Schmerzensgeld dafür, dass er sich zum Leibeigenen macht.“

„Wenn du so viel arbeiten musst, hilft es auch nicht mehr, wenn sie dir viel Geld zahlen“, warf Julia ein. „Mit Sebastians Gehalt können wir im Geld baden, aber in Berlin war unsere Lebensqualität viel besser. Er war zwar immer unzufrieden, weil er dachte, er verdient nicht genug für seine Qualifikationen, hat keine Entwicklungschancen, hat nichts aus sich gemacht, aber damals konnten wir abends noch etwas unternehmen oder zusammen kochen. Jetzt findet das gemeinsame Leben nur noch am Wochenende statt und dann können wir meistens keine Ausflüge machen, weil er so kaputt ist, dass er bis mittags schlafen muss. Oder er muss auch am Wochenende ins Büro. Was ist der ganze Verdienst wert, wenn man keine Zeit hat, zusammen sein Leben zu genießen? Wenn man sich nur noch gegenseitig den Rücken stärkt für ein Arbeitsleben, das keinen Raum mehr für etwas anderes lässt?“

„Sei nicht so indiskret“, flüsterte Sebastian. Er war inzwischen mit dem Amerikaner bei einer Diskussion über die wirtschaftlichen Aussichten im Rustbelt angekommen, den alten Industriestaaten im mittleren Westen der USA.

„Früher war das anders“, behauptete Julia. „Meine Eltern sind immer zum Mittagessen nachhause gekommen. Und sie haben Mittagsschlaf gehalten. Stell dir das mal vor. Jeden Tag, zwanzig Minuten lang. Sogar Adenauer hat Mittagsschlaf gehalten. Das ist unvorstellbar heute, ein Kanzler der mittags schläft. Aber damals ging das. Und das wird doch nicht einfacher gewesen sein als diese Finanzkrise, Deutschland aus dem Kriegssumpf zu ziehen, mit den Nachbarn zu versöhnen, mit Israel, und die Wirtschaft wieder aufzubauen. Das sind wir, die etwas falsch machen heute, wenn wir keine Zeit mehr haben zu leben. So muss man eine Gesellschaft nicht organisieren.“

„Das Gute an dem neuen Leben ist, dass ihr bei uns seid“, warf Catherine ein, hob dabei bedeutsam ihren Zeigefinger.

„Das stimmt. Das ist ein echtes Plus, und ein großer Trost“, sagte Julia. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Bierglas, während sie Sebastians Hand drückte.

„Aber Julia hat recht“, sagte Catherine. „Wenn man sich eine Wohnung leisten kann und ab und zu eine schöne Reise, dann bringt alles zusätzliche Geld keine weitere Lebensqualität mehr. Da kannst du nur noch anfangen, dir Designerklamotten zu kaufen, obwohl es viel schönere Sachen für ein Zehntel des Preises gibt. Du kehrst in Luxushotels ein, obwohl es in der Rucksackabsteige viel lustiger ist, oder du fährst Geländewagen in der Innenstadt. Das bringt überhaupt nichts. Das Problem ist, dass sie inzwischen schon versuchen, deine gesamte Freizeit zu stehlen, wenn du nur die Wohnung und den Rucksack willst. Selbst wenn sie dich nicht ununterbrochen im Büro oder im Labor halten, rauben sie dir deine Zeit damit, dass sie dich zwingen, dir alle halbe Jahre einen neuen Sechsmonatsvertrag zu organisieren. Und dass muss sich ändern.“ Catherine schlug auf den Tisch.

„Genau“, sagte Julia. Sie schlug ihrerseits so heftig auf den Tisch, dass die Biergläser bedenklich wackelten. „Wir brauchen eine neue Arbeiterbewegung. Nachdem die Gewerkschaften mehr als ein Jahrhundert für kürzere Arbeitszeiten gekämpft haben, gefallen sich die Arbeitskräfte mit hohen Löhnen heute darin, sich gegenseitig mit der Länge ihrer Arbeitszeit zu überbieten. Wider das Rattenrennen!“

„Auf die neue Arbeiterbewegung!“, rief Catherine, hob ihr Bierglas und stieß mit Julia, Sebastian und Thibault an. „Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber aller Qualifikationen.“

„Wir stoßen auf eine neue Massenbewegung an, die dafür sorgen wird, dass du weniger arbeiten musst“, erklärte Catherine Thomas.

„Und dann gehen wir tanzen“, rief Julia und hob ihr Glas erneut.

Thomas schüttelte den Kopf. „Ich muss nachhause. Ich bin kaputt.“

Julia beobachtete schon eine ganze Weile, wie ihm immer wieder die Augen zufielen, während er versuchte den Erzählungen von Juliette zu folgen.

„Ich bin zwar lange nicht so zerstört wie er“, flüsterte Catherine hinter vorgehaltener Hand, „aber ich hätte jetzt auch nichts gegen ein Schlümmerchen.“

„Siehst du, da hast du es“, beklagte sich Julia. „Die Arbeit hindert uns daran zu leben.“

„Ach komm“, sagte Sebastian. „Wir machen morgen etwas Schönes. Am Freitag darf die arbeitende Bevölkerung müde sein. Selbst die, die sich nicht versklavt haben.“

Julia seufzte. Schließlich schloss sie sich Catherine, Sebastian und Thibault an, die aufgestanden waren, um ein umständliches Verabschiedungsritual zu veranstalten mit gehauchten Luftküssen für all jene, die in der Bar zurückblieben.

Stadt und Gespenster

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