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Kapitel 6

Joe wird bald 19 und ist schon extrem erwachsen, seine Mutter ist, als er noch klein war, an Krebs gestorben und sein Vater unterstützt ihn und seine Schwester wo er nur kann. Früher ist Paul Heller selber große Springen geritten. Sofie ist genau wie ich, 16 Jahre alt und geht mit mir in eine Klasse.

Die Hellers haben ihren LKW neben unserem Hänger geparkt.

„Hey Sofie“, rief ich schon aus der Ferne.

„Hey Lisa, na wie geht´s?“

„Ganz gut, und dir?“

„Kann nicht klagen.“

„Wir haben nachher ein ernsthaftes Problem. Beim M-Springen mit Joker ist Sofie mit High Hopes mit der Startnummer 13 dran, ich mit Bailando mit Startnummer 16 und dann mit Biene als 19ter Starter, mir bleibt also keine Zeit, Biene fertig zu machen. Lisa, du startest doch nicht im Joker, oder?“

„Nein ich starte erst in der nächsten Prüfung, ich mach Biene einfach fertig und reite sie ab. Falls du mir das zutraust“, verschmitzt zwinkerte ich Joe zu. Das hatten wir schon öfters so gemacht und auch bei den Hellers daheim bin ich schon eingesprungen, wenn Not am Mann war.

„Was für eine Frage? Einfach ein bisschen abreiten wäre prima.“

„Kein Problem!“

„Danke, du bist ein Schatz!“

Es war neun Uhr und das Turnier schon in vollem Gange. Das M-Punktespringen mit Joker hatte begonnen und es herrschte die gewohnte Turnieratmosphäre.

Sofie hatte High Hopes gesattelt und war auf dem Weg zum Abreiteplatz. Joe sattelte noch Bailando.

„Ich mach jetzt Biene fertig“, sagte ich zu Caro.

„Ich helfe dir.“

„Danke, das ist lieb.“

Wir gingen also zusammen zum großen LKW der Hellers. Ich öffnete die Klappe und sah mich um:

„Checker, Chianti, Karottka und Picolino. Hä, wo ist Biene?“ Laut war ich die einzelnen Pferde durchgegangen, jedem streichelte ich kurz über die Nüstern. Ich musste grinsen, Joe hatte Biene bestimmt schon draußen angebunden. Er konnte die Zügel einfach nie aus der Hand geben. Irgendwie süß. Für seine Lieben ging er durchs Feuer. Ich ging die Treppe herunter und rief: „Joe, hast du Biene draußen bei dir angebunden?“ „Warum sollte ich? Die steht noch im LKW!“, rief Joe von draußen.

„Caro, komm mal bitte.“

„Was ist denn?“

„Ich kann Biene nicht finden, sie ist auch nicht draußen bei Joe.“

„Also hier steht Checker, Chianti, Karottka und Picolino. Biene ist nicht hier.“

„Joe, Biene ist nicht hier!“

Als Antwort kam von außen ein aufgebrachtes: „Waaaaas? Das kann nicht sein. Ihr wisst schon, Biene, der wunderschöne Schimmel. Verdammt Lisa, du weißt doch wie Biene aussieht!“ seine Stimme klang genervt und ein bisschen sauer. Joe war im Stress und wenn man dann zu viele dumme Fragen stellte, wurde er genervt. Zum Glück kam das nicht oft vor. Normalerweise war er sehr ruhig, vor allem wenn er es mit Tieren zu tun hatte.

Stöhnend verdrehte ich die Augen und rief zurück:

„Man Joe, ich weiß wie Biene aussieht! Aber sie ist nicht hier.“ „Das kann nicht sein. Warte ich komm.“

Mit schnellen Schritten kam Joe in den LKW gestapft und sah sich um.

„Verdammte Scheiße! Das gibt’s doch nicht!“

„So, jetzt haben wir aber wirklich ein Problem.“ Es kann schon mal vorkommen, dass man bei sieben Pferden eines vergisst. *grins grins*

Unwillkürlich musste ich lachen, Caro schien es ebenso zu gehen. Nur Joe fand die Situation ganz und gar nicht witzig.

„Ja ja, lacht ihr nur.“, warf er verstimmt in unsere Richtung ein.

„Okay ich frag meinen Dad, ob er zu euch fahren kann und Biene bringt. Eigentlich wollten meine Eltern heute ja nicht kommen aber sie müssten zuhause sein. Soviel Zeit müsste noch sein.“ Es wurde zwar knapp werden aber das müsste klappen.

„Verdammt echt. Heute Morgen hab ich sie sogar noch fertig gemacht. Sie steht komplett fertig in ihrer Box. Und ich Idiot vergesse sie!“

Ich telefonierte schnell mit meinem Dad und erklärte ihm alles ganz genau. Nach kurzem Zögern willigte er ein. Ich hatte ihm versichert, dass ihm jemand beim Einladen helfen würde. Joe und Sofie ermöglichten es drei Mädchen im Alter von 14 bis 18 bei ihnen im Stall zu helfen. Als Dankeschön bekamen sie regelmäßig Reitunterricht. Joe sagte zwar immer, dass es eine Win win Situation war und in diesem Fall die eine Hand die andere wäscht, doch jeder wusste, dass die Mädels enorm davon profitierten. Sie mussten zwar im Stall misten, füttern und so weiter helfen, lernten dabei aber unheimlich viel. Und eines dieser Mädchen sollte nun meinem Dad helfen, Biene in den Hänger zu laden. Joe hatte schon im Stall angerufen und alles veranlasst. In diesem Moment hallte die Turniersprecherstimme aus den Lautsprechern: „Als nächste Starterin im Parcours haben wir Sofie Haller, mit ihrem achtjährigen Oldenburger Wallach High Hopes. Caro, Michelle und Paul, standen am Zaun und beobachteten Sofies Ritt.

Mein Dad war zum Glück sehr schnell gewesen und so ritt ich in der Zeit am langen Zügel mit Joe auf dem Abreiteplatz. Vorhin auf der Skizze hatte ich den Parcours schon angeschaut und der hatte in der Tat ein paar schwierige Sprünge.

Der erste Sprung war ein breiter Oxer, danach kam eine enge Wendung, die direkt zu dem Wassergraben führte. Der dritte Sprung war ein Steilsprung, der vierte eine Trippelbarre, dann kam eine schwere doppelte Kombination, der sechste Sprung war ein Graben und der letzte Sprung, somit der Joker von dem alles abhing, war ein umgedrehter Regenbogen. Strahlend kam Sofie aus dem Parcours geritten. Wir beglückwünschten sie alle.

„Sofie Heller auf High Hopes führt derzeit mit 4 Fehlerpunkten und einer spitzen Zeit von 59,24 Sekunden. Als nächstes im Parcours Sarah-Marie Stiller auf ihrer Oldenburger Stute Schakiera Make Adame.“

Dröhnte der Turniersprecher über den Platz. Wir jauchzten auf. Die einzige wirkliche Konkurrenz, die Sofie am Sieg hindern könnte wäre Joe der als zweitletzter startete.

Zwei Stunden später war das L und Joker M Springen vorbei. Joe hatte das Joker Springen gewonnen und Sofie belegte den zweiten Platz. Biene stand dösend im LKW und alle waren glücklich.

„Wir beginnen mit dem M* Springen in 30 Minuten!“, verkündete der Turniersprecher. Zu dritt, also Joe, Caro und ich, liefen wir zu unserem Hänger. Sofie wollte einer Freundin noch schnell ´hallo` sagen und dann später nachkommen.

Auf dem Weg zu unserem Hänger kam uns Madeline, die ihren Trakehner Wallach unsanft am Zügel hinter sich herzog, entgegen. Sie hatte vom Helm bis zu den Stiefeln alles vom teuersten und vom Besten. Allein ihr Helm soll 800 Euro gekostet haben.

„Ihr startet aber nicht in dem L-Springen, oder etwa doch“, die Arroganz und die Überheblichkeit waren deutlich aus Madelines Stimme zu hören.

„Nein, wir starten im M* und morgen im M**. Du scheinst aber im L zu starten.“, meinte Joe ruhig.

„Nein“, lachte Madeline spöttisch, geradezu herablassend. „Ich wollte Anyway Perfect nur abreiten“ ganz lässig wollte sie weitergehen, doch Anyway Perfect blieb einfach stehen. „Komm, du… du lahmer Esel!“ Als ihr ESEL nicht mitkam, gab sie ihm einen Hieb mit der Gerte. Erschrocken sprang Anyway Perfect zur Seite, ging aber dann doch mit.

„Diese, diese, blöde Kuh!“, Joe kochte vor Wut. Er war normal die Ruhe in Person, doch wenn er sah, dass jemand einem Tier etwas antat, dann war es aus mit der Geduld. Dann wurde er wirklich wütend. Auch ich musste mich zusammenreißen um Madeline nicht eine reinzuhauen. Caro schien es ähnlich zu gehen, sie wurde ganz rot im Gesicht und bebte vor Zorn. Wie man einem Tier, einem Lebewesen, das genau wie wir Schmerz und Angst empfinden kann, so etwas antun konnte, verstand ich nicht.

„Da braucht sie sich nicht wundern, wenn Anyway Perfect nachher nicht mehr springen kann, wenn die den jetzt schon abreitet, muss der ja KO sein wenn es losgeht.“ Mit einem Blick auf die Uhr, sah ich, dass wir noch reichlich Zeit haben. Wir schlenderten also weiter Richtung Hänger. Finesse wieherte schon von weitem. Ich musste grinsen. Caro führte Star Light aus dem Hänger, ich tat es ihr nach. Star Light musste man draußen anbinden, sonst würde er sich aus dem Staub machen, ehe man Piep sagen kann. Finesse war da ganz anders, sie konnte ich ohne Bedenken zu haben draußen stehen lassen, und sie noch ein bisschen grasen lassen. Wir putzten noch mal über das Fell, sattelten und trensten die Pferde. Joe ging noch kurz zum LKW um ein paar Unterlagen zu holen. Als ich fertig war, zog ich meine Jogginghosen aus, meine Stiefel, Jackett und Handschuhe an und setzte zum Schluss noch meinen Helm auf. Ich war tierisch aufgeregt. Obwohl ich jetzt schon so oft auf Turnieren gewesen bin, war ich jedes Mal mega aufgeregt. Zu zweit ritten wir zum Abreiteplatz. Madeline trabte und galoppierte schon seit einer halben Ewigkeit. Anyway Perfects Zunge hing aus seinem Maul und er schwitzte stark, es hatten sich schon weiße Schaumkronen an seinem Hals gebildet.

Auf dem Platz ritten Caro und ich eine Weile schweigend im Schritt nebeneinander her.

Meine und Caros Eltern waren zu Hause geblieben, so oft, wie wir in letzter Zeit auf Turnieren waren, zogen unsere Eltern es vor, sich zu Hause einen gemütlichen Tag zu machen. Nur mein Dad war kurz vorbeigekommen und hatte Biene gebracht. Danach war er gleich wieder gegangen weil es daheim Essen gab.

Nach einer halben Stunde war Finesse abgeritten, ich war die Probesprünge, die auf dem Platz standen, gesprungen und war mehr als zufrieden. Finesse sprang vorsichtig und war aufmerksam wie immer, somit war ich fertig zum Start.

Wie immer hatten Caro und ich gewettet, wer die bessere Leistung erbringen wird. So machten wir das auf jedem Turnier, natürlich nur aus Spaß und um ein Eis oder einen Kaffee. „Als nächstes im Parcours Lisa Breitner auf ihrer 7-jährigen Hannoveraner Stute Madame Finesse.“

Hallte die Stimme durch die Lautsprecher. ´Viel Glück´, ´Das schaffst du schon´ oder ´Zeig´s ihnen´ kam es von allen Seiten. Im Trab ritt ich ein.

Noch bevor Finesse beim letzten Sprung wieder auf dem Sandboden aufkam, scholl tosender Beifall über den Parcours. Ich war außer Atem und schwitzte fast ebenso sehr wie meine Stute, doch ich wusste, dass sie gut gesprungen war. Nach dem Start war meine Nervosität wie von selbst verschwunden. So war es immer. Am Anfang war ich immer ein Nervenbündel das vor Aufregung fast starb, aber sobald ich Finesse das Zeichen zum angaloppieren gab, war die Aufregung verschwunden und ich konnte mich voll und ganz auf die Sprünge vor uns konzentrieren. Ich fühlte mich auf Finesse´ Rücken so sicher wie selten zuvor und kam wie von selbst in den fließenden Rhythmus der Sprünge. Die Zügel lagen leicht in meiner Hand, die Ohren meines Pferdes waren aufmerksam nach vorne gespitzt und die Stute ging weich und flink über die Hindernisse, als gäbe es nichts Anderes auf der Welt. Ein einziges Mal touchierten wir die Stange, so dass es hinter mir kurz polterte, aber selbst den Wassergraben, vor dem ich mich am meisten fürchtete, absolvierten wir ohne Probleme.

Die Lautsprecherdurchsage konnte ich nicht verstehen, doch am Abreiteplatz liefen mir Caro, Joe und Sofie voller Freude entgegen.

„Mensch Lisa, das war super!“ Joe strahlte über das ganze Gesicht.

„Nur vier Fehlerpunkte und eine klasse Zeit, das könnte vielleicht für den zweiten Platz reichen!“, meinte Sofie strahlend. Joe riss mich vor Begeisterung fast vom Pferd, was ich umso liebenswerter fand. Sofie selbst war mit vier Abwürfen und einer Verweigerung leider auf den letzten Rängen gelandet. Ich konnte mein Glück kaum fassen, sollte ich es wirklich bis ganz nach vorne geschafft haben? Mein Gesicht glühte und ich konnte gar nicht mehr aufhören Finesse den Hals zu klopfen. Die Stute schnaubte zufrieden, als ob sie genau wüsste, dass sie heute eine gute Leistung abgeliefert hatte.

„Wann bist du dran?“ fragte ich Caro.

Sie schaute auf die Uhr, dann auf die große Anzeigetafel. „Letzte Starterin, aber wie heißt es so schön: Die Letzten werden die Ersten sein!“

Sie grinste breit während ich in der Zwischenzeit abgesessen war und Finesse´ Zügel locker in der Hand hielt.

„Erst musst du mein Ergebnis toppen, bevor du hier große Töne spuckst!“ rief ich Caro hinterher, die bereits losgeritten war. Natürlich konnte ich das leicht sagen, jetzt wo ich schon durch bin.

„So jetzt heißt es Daumen drücken.“, meinte Joe.

Ich brachte Finesse zum Hänger. Danach drückten wir uns alle an die Bande um Caros Ritt beobachten zu können. Diese Prüfung konnten wir zum Glück alle verfolgen, weil nach dieser Prüfung eine Pause sein würde.

Eine halbe Stunde später war alles vorbei.

Mir kam es im Nachhinein so vor, als wäre alles hinter einem Dunstschleier. Caros fröhliches Winken beim Einreiten in den Parcours, bevor sie ihrem Schimmelwallach das Startsignal gab, der Applaus der Zuschauer und die Stimme im Lautsprecher. Star Light galoppierte an und nahm den ersten Sprung in kraftvollem Bogen, flog geradezu hinüber. Ich vergaß völlig, dass wir ja gewettet hatten, so perfekt wirkte Caros Ritt. Sie passierten Hindernis um Hindernis, als wären sie miteinander verschmolzen. Nichts schien sie am Sieg hindern zu können. Wie es dann passierte, konnte ich später nicht sagen.

Verweigerte das Pferd?

Oder hatte den Wallach irgendwas erschreckt?

Jedenfalls kam Star Light vor dem Doppeloxer mit einem Mal aus dem Tritt. Caro trieb ihn energisch an, doch der mächtige Wallach warf den Kopf hoch. Als er schließlich viel zu früh absprang, stöhnte die Zuschauermenge auf. Ich – zu Eis erstarrt und zu keinem Laut fähig – sah, wie sich Ross und Reiter mit einer machtvollen Kraftanstrengung am Hindernis emporarbeiteten, doch es war aussichtslos.

Mit einem schrecklichen Krachen prallten die beiden mitten in den Oxer. Holz splittete, Balken polterten und für einen langen quälenden Moment vermochte vor lauter Staub und fliegenden Beinen keiner zu unterscheiden, was Mensch und was Pferd war. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Dann wurde es totenstill, als sich der große Schimmelwallach endlich hoch gekämpft hatte und schnaubend mit bebenden Flanken dastand. Sein Sattel war leer, die Zügel hingen schlaff herab. Für mich schien sich die Erde aufgehört zu haben zu drehen. Vermutlich dauerte es nur wenige Augenblicke, bis der erste Helfer heraneilte. Doch mir kam es vor, als seien Stunden vergangen. Ich wollte zu Caro rennen, ich wollte bei ihr sein. Ich wollte sehen, dass es ihr gut ging. Bestimmt stand sie gleich auf und winkte fröhlich um zu signalisieren, dass alles okay war. Aber sie stand nicht auf. Ich wollte rennen. So schnell rennen, aber ich konnte nicht.

Ich vermochte mich nicht zu bewegen, stand nur da und merkte, wie es eiskalt in mir emporstieg.

Dann begann ich zu zittern.

Jemand ergriff meinen Arm, ich hörte die Stimmen von Joe, Sofie und, da war noch eine Stimme, die so bekannt war, so vertraut, es war Lucas. Lucas war hier, bei mir. Alles war wie durch einen Schleier von mir getrennt. Und plötzlich gaben meine Füße unter mir nach, irgendjemand fing mich auf.

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