Читать книгу Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen - Страница 10

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Kapitel 3


Isabelle Wilder war sich vage bewusst, dass sie träumte, doch ihr Traum war so realistisch! Sie hatte ein Ballkleid aus fließend roter Seide an – ein Kleid wie Carlota es trug, wenn sie am Theatre Royal auftrat. Sie fühlte sich wunderschön darin und konnte, während sie die Stufen ihres Londoner Stadthauses hinunterschritt, kaum erwarten, dass das Fest begann.

Evan Curtis stand am Fuß der Treppe. Er trug die Uniform der Infanterie und sah umwerfend darin aus. Mit vor Leidenschaft leuchtenden Augen blickte er zu ihr empor. Ihr Herz raste. Offenbar hatte Onkel Percival seinen Sinn geändert und ihn doch noch eingeladen.

In ihrer Eile, zu ihm hinunterzugelangen, trat Isabelle auf den Saum ihres Kleides. Sie spürte, wie sie stolperte und den Halt verlor. Langsam, fast schwerelos, fiel sie. Ihr Rock bauschte sich wie ein Vorhang und trug sie sanft nach unten.

Evan streckte die Hände aus und sie flog in seine Arme wie ein Vogel in sein Nest. Sie schlang einen Arm um seinen Hals und legte den anderen auf das Revers seiner Uniform, versuchte, seinen Herzschlag zu fühlen, doch sie fühlte … nichts. Einen Augenblick lang drückte er sie fest an sich und sie blickten einander in die Augen.

Dann ließ er sie plötzlich fallen.

Sie landete hart auf der Treppe. Die unterste Stufe kollidierte schmerzhaft mit ihrem Steißbein, ihr Ellbogen krachte gegen den Treppenpfosten.

Vor Schmerz schrie sie auf, doch niemand eilte ihr zu Hilfe. Verwirrt spähte sie den langen, leeren Flur entlang, der völlig still blieb. Inzwischen hätten die Gäste längst bei ihr sein müssen.

Wo waren Rose und die Diener? Und Onkel Percival?

Percival. Isabelle rümpfte die Nase. Er würde sich wohl kaum fröhlich unter die Gäste mischen. Nein, viel eher würde er schmollend in seinem Büro sitzen und über die Rechnungen meckern.

Isabelle kroch auf Händen und Knien die kurze Strecke zu seinem Büro. Onkel Percy hatte das Morgenzimmer, das gleich neben der Hintertür lag, zum Büro umfunktioniert, weil er sich hier mit Geschäftsleuten treffen konnte, ohne mit ihnen durchs ganze Haus gehen zu müssen. Die Tür war unverschlossen. Sie stieß sie auf. Eine leere Weinflasche, die auf dem Boden lag, rollte weg. Sie ging in die Hocke, sah sich in dem Zimmer um … und sog scharf die Luft ein.

Onkel Percy saß vornübergesunken da, sein Kopf lag auf dem Schreibtisch, die Arme waren weit ausgebreitet. Er hatte eine Pistole in der Hand. Ein Auge war geöffnet, doch der Blick war leer. An seiner Stirn klebte Blut.

Isabelle blinzelte. Blinzelte noch einmal in dem Versuch, das entsetzliche Bild loszuwerden, doch vergeblich, es blieb da, wie ein Fleck. Ein Blutfleck.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie fiel zu Boden.

Mit dem Gefühl, ihr hätte jemand auf den Kopf geschlagen, wachte sie auf und unterdrückte ein Stöhnen. Erleichtert stellte sie fest, dass alles nur ein Traum gewesen war, auch wenn die Kopfschmerzen durchaus real waren. Es war nur ein Traum, sagte sie sich, doch das schreckliche Bild ließ sie nicht los. Ihr war übel.

Sie war natürlich nicht in London, sondern in ihrem Bett auf Belle Island, meilenweit von ihrem Londoner Stadthaus, das sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, entfernt. Was für ein Traum! So lebendig und absonderlich. Wie seltsam, dass sie Carlotas rotes Kleid getragen hatte. Und Evan Curtis hatte sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen.

Sie schlug die Augen auf, doch das helle Tageslicht verstärkte ihren Kopfschmerz und sie schloss sie rasch wieder. Jetzt stöhnte sie doch noch auf.

»Miss?«, fragte Carlota. In ihrem weichen spanischen Akzent klang es wie Mies. »Sind Sie wach?«

»Mhm«, murmelte Isabelle.

»Der Arzt war hier.«

»So früh?«

»Eigentlich … ist schon ein Uhr vorbei.«

Isabelle riss die Augen auf. »Nachmittags?«

Carlota kicherte. »Ja.«

Isabelle schlug die Bettdecke zurück. »Oh nein! Ich wollte doch vormittags in den Betrieb. Der Korbmacher wollte heute kommen.«

»Ich habe versucht, Sie zu wecken, aber Sie haben mich rausgeworfen. Aber keine Sorge, ich habe für Sie mit Mr Linton gesprochen.«

Isabelle stand mit steifen Gliedern auf. Sie dachte an ihren mürrischen, aber fähigen Vorarbeiter. »Was hast du ihm gesagt?«

»Ich sagte ihm, dass Sie unpässlich sind, und bat ihn, den Korbmacher an Ihrer Stelle in Empfang zu nehmen. Anscheinend hat seine Kutsche Verspätung. Mr Linton murrte etwas von Frauenbeschwerden, was ich weder bestätigte noch abstritt. Mrs Philpotts und ich haben das Mittagessen aufgetragen. Die Weber essen jetzt, während sie warten.«

»Danke, Lotty. Du bist ein Schatz.« In den meisten Häusern wurden die Zofen mit dem Nachnamen angeredet, doch Carlota Medina war keine gewöhnliche Zofe.

Lotty fügte hinzu: »Der Doktor ist zuerst zu Abel und den Howtons gegangen und schaut später noch einmal vorbei.«

»Gut.« Isabelle rieb sich den Ellbogen, dann lief sie zur Ankleidekommode. Sie schlüpfte in frische Wäsche. Carlota brachte ihr neue Strümpfe und ein Korsett.

»Schlimm, dass ich an einem so wichtigen Tag nicht da war, zumal die Weber sich extra Zeit für ihn genommen haben.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte Carlota, während sie das Korsett schnürte. »Es ist spät geworden gestern. Und es war nicht leicht für Sie.«

Isabelle presste die Finger an die schmerzenden Schläfen. »Erinnere mich nicht daran.«

Gestern Abend … der Abend der Verlobungsfeier ihrer geliebten Nichte, und sie war nicht dabei gewesen. Dummerweise hatte sie versucht, ihren Kummer im Alkohol zu ertränken – jetzt musste sie dafür bezahlen.

Als Carlota ihr das Kleid überstreifte, kam Isabelle plötzlich eine schöne Erinnerung. Wie sie zusammen mit ihren Eltern die Brücke zur Insel überquerte, um an der Hochzeit ihrer Schwester in der Dorfkirche teilzunehmen, umgeben von Freunden und Nachbarn. Nach dem Gottesdienst waren sie alle zusammen zum Hochzeitsfrühstück gegangen, lachend und glücklich, voller Freude, einfach nur zusammen zu sein. Was würde sie darum geben, diese Erinnerung noch einmal lebendig werden zu lassen und dabei zu sein, wenn Rose in der Dorfkirche heiratete, im Kreise von Freunden und Nachbarn, und sie dann alle zu einem freudigen Hochzeitsfrühstück auf Belle Island zu empfangen!

Doch dieser Traum, dachte Isabelle, war unerfüllbar.

Das Geheimnis von Belle Island

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