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Kapitel 2

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Der Beamte aus der Bow Street war angekommen. In London gab es so viele Verbrechen und so wenige, die sich mit ihnen befassten, dass nicht bei jedem Todesfall eine Untersuchung angeordnet werden konnte. Viele Straftaten blieben deshalb ungeahndet, es sei denn, ein Opfer oder ein Betroffener beauftragte auf eigene Kosten einen Detektiv. Percival Norris allerdings gehörte einer einflussreichen Familie an und war darüber hinaus Mitglied einer geachteten Anwaltskanzlei, deshalb hatte man sogleich einen Beamten für den Fall abgestellt.

Der Mann ging zuerst in das Zimmer zu dem Toten und dem Leichenbeschauer, wo er einige Zeit verbrachte, dann kam er zu den Wartenden ins Wohnzimmer.

»Officer Riley von der Bow Street«, stellte Wachtmeister Buxton ihn vor und nannte ihm gleich darauf die Namen der ebenfalls im Wohnzimmer versammelten Bediensteten: Mrs Kittleson, die Haushälterin; Marvin, der Hausknecht; und Mary Williams, das Hausmädchen. Benjamin und Mr Hardy stellte er nicht vor.

Benjamin nutzte die Gelegenheit, den unbekannten Beamten zu beobachten. Der Mann war Mitte dreißig, hatte braunes Haar, bleiche Haut, abstehende Ohren und einen langen Hals. Die Bow-Street-Beamten waren angeblich erfahren, gut ausgebildet und clever, doch dieser kleine Mann – der ihn irgendwie an ein Wiesel erinnerte – schien so gar nicht in dieses Bild zu passen.

Der Beamte, dem aufgefallen war, dass der Wachtmeister Benjamin und Mr Hardy nicht erwähnt hatte, wandte sich an sie und fragte mit dem Akzent der Arbeiterklasse: »Und wer sind diese beiden Herren?«

»Robert Hardy und Benjamin Booker, von Norris, Hardy und Hunt«, antwortete Mr Hardy.

Der Mann zog die Augenbrauen hoch und unterdrückte mit Mühe ein Feixen. »Ah … der hintergangene Booker, Bennie Benebelt? Ich habe von Ihnen gehört.«

Benjamin presste die Kiefer zusammen und wurde vor Scham und Wut tiefrot darüber, vor seinem Vorgesetzten und in Gegenwart mehrerer Fremder so bezeichnet zu werden. Bis jetzt hatte er noch nie Grund gehabt, seinen Namen nicht zu mögen. Bis er ihn jetzt in dieser unverschämten Version hörte.

Die schmalen Augen des Beamten zwinkerten. »Hat die hübsche Angeklagte Ihnen den Kopf verdreht?« Er kicherte. »Hat Ihnen einen Haufen Humbug erzählt, wette ich, und Sie haben den Quatsch auch noch geschluckt.«

Benjamin ballte die Fäuste. Mr Hardy legte ihm warnend die Hand auf den Arm und erinnerte den Beamten dann höflich an seine Pflicht: »Ein Mann wurde getötet, Officer Riley!«

»Richtig. Genau.« Der Mann blätterte eine Seite in seinem kleinen Notizbuch um und schüttelte den Kopf. Noch immer umspielte ein Lächeln seinen Mund. Doch dann wurde er ernst und fragte: »Und was hat Sie beide heute Abend hierher geführt?«

»Wir haben uns im Queen's Head getroffen, wie wir es häufig tun, und waren auf dem Heimweg, als wir den Nachtwächter schreien gehört haben. Dann sind wir den Schreien gefolgt, um zu sehen, ob wir helfen können«, erklärte Benjamin.

Der Beamte verzog ironisch den Mund zu einem dünnen Strich. »Ganz die verantwortungsbewussten Bürger! Höchst uneigennützig von Ihnen. Selbstverständlich hatten Sie keinerlei Hintergedanken, vielleicht einen wohlhabenden neuen Klienten zu gewinnen oder einen lukrativen Fall zu ergattern?«

»Ganz und gar nicht!«

»Kennen Sie das Opfer?«

Hardy nickte. »Percival Norris war ein Gründungsmitglied unserer Kanzlei. Er hat sich im Laufe der letzten Jahre allerdings fast ganz aus dem Geschäft zurückgezogen, da seine Tätigkeit für den Wilder-Besitz fast seine ganze Zeit in Anspruch genommen hat.«

Das Hausmädchen verdrehte die Augen, als es das hörte, doch außer Benjamin schien es niemand zu bemerken.

Officer Riley drehte sich zu den drei Bediensteten um, die beim Kamin standen – die noch immer in Tränen aufgelöste Haushälterin, der gleichmütige ältere Hausknecht und das aufmerksame Hausmädchen.

Er begann mit der Haushälterin, die den Toten gefunden hatte.

»Wie sind Sie mit Ihrem Herrn ausgekommen?«

»Er war nicht mein Herr – nicht wirklich. Miss Rose Lawrence ist meine Herrin und vor ihr war das ihr Großvater, Mr Wilder – Gott hab ihn selig. Mr Norris war nur der Verwalter und Vormund von Miss Rose.«

»Sie mochten ihn also nicht?«

»Nein.« Mrs Kittleson warf einen raschen Blick zu dem Hausdiener hinüber. »Ich glaube, nur Marvin hat ihn wirklich gemocht.«

Der ältere Mann antwortete mit schnarrender Stimme: »Es ging so. Er hat hin und wieder ein Glas mit mir getrunken und mir immer rechtzeitig meinen Lohn ausgezahlt. Ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen.«

Der Beamte wandte sich an das junge Hausmädchen, die Brauen erwartungsvoll hochgezogen, den Stift in der erhobenen Hand.

Sie fuhr bereitwillig fort: »Ich bin erst seit einem Jahr hier. Ich mache meine Arbeit und halte mich raus.«

Der Hausknecht Marvin grunzte. »Hältst das Ohr ans Schlüsselloch, meinst du.«

Der Beamte ignorierte das und fragte: »Keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen, stimmt das?«

»Ja«, antwortete die Haushälterin. »Die Hintertür war unverschlossen. Sie führt in den Garten, nicht auf eine öffentliche Straße. Das machen wir schon jahrelang so. Ich hätte nie gedacht …« Wieder kamen ihr die Tränen und sie presste hastig ihr Taschentuch abwechselnd an das linke und an das rechte Auge.

»Haben Sie irgendjemanden hereinkommen hören oder gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Da müssen Sie Mary fragen. Marvin und ich waren gar nicht hier. Wir haben das Haus um vier Uhr nachmittags verlassen und sind zu einer kleinen Feier bei den Adairs in der York Street gegangen. Mr Norris hat uns extra dafür freigegeben – das war übrigens das einzige Mal, dass er uns gegenüber nett war. Aber immerhin war es die Verlobungsfeier unserer Miss Rose.«

Der Beamte verzog ungläubig den Mund. »Sie und Marvin waren zu einer Feier bei ihrer Herrschaft eingeladen?«

»Nicht als Gäste. Aber ich kenne die Köchin dort und habe angeboten, ihr zu helfen. Sie war sehr dankbar und hat uns daraufhin zum Dinner für die Dienstboten eingeladen. Es gab sogar Kuchen und Champagner. Wir haben auch heimlich einen Blick in den Festsaal geworfen und unser wunderschönes Mädchen bewundert. Sie sah schöner aus als je zuvor. Und sie hat ihrer verstorbenen Mutter, Gott hab sie selig, so ähnlich gesehen!« Sie schnäuzte sich in ihr Taschentuch.

»Miss Lawrence ist noch nicht wieder zurück?«

»Nein.«

»Dann werde ich sie später befragen.«

Als Nächstes wandte der Beamte sich an das Hausmädchen. »Aber zuerst – waren Sie den ganzen Abend hier, Miss?«

»Nein.«

»Wo waren Sie?«

Das Mädchen zuckte die Achseln. »Ich war mit meinem Verehrer aus, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Der Alte hat uns heute Abend freigegeben und ich hatte keine Lust, mich an einem freien Abend für die feinen Pinkel abzuschuften.«

Die Haushälterin runzelte die Stirn. »Hüte deine Zunge, Mary. So spricht man nicht über die Herrschaften.«

»Die verdienen auch nicht mehr Respekt als ich. Und was den Alten betrifft, sogar weniger. Er hat bekommen, was er verdient, das ist meine Meinung.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Riley.

Erneut das verächtliche Schulterzucken. »Nur, dass es wohl keinen gibt, der es mehr verdient hätte.«

Der junge Wachtmeister wandte ein: »Meiner Ansicht nach war es ein Dieb, der die Gelegenheit der unverschlossenen Tür ausgenützt hat. Das Haus wirkte verlassen, deshalb ist er eingedrungen, in der Hoffnung auf ein paar wertvolle Stücke, und wurde dabei von Mr Norris überrascht. In dieser Gegend kam es in letzter Zeit zu mehreren Einbrüchen.«

Riley überlegte. »Fehlt irgendetwas aus dem Büro?«, fragte er.

Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts aufgefallen. Aber was seine Papiere und das angeht, kenne ich mich natürlich nicht aus.«

»Und sonst im Haus?«

»Ein paar von den Silbersachen scheinen zu fehlen – ein Krug und zwei Armleuchter, soweit ich bis jetzt sehen kann. Ich muss aber noch die Bestandslisten durchgehen.«

»Dann tun Sie das bitte«, sagte Riley. »Im Büro liegt ein zerbrochenes Glas auf dem Boden. Pflegte Mr Norris mit Gläsern zu werfen? Vielleicht, wenn er … aufgebracht war?«

»Nein, Sir« antwortete Mrs Kittleson.

Das Hausmädchen fügte hinzu: »Aber er hat uns angeschrien und beschimpft, wenn er sich über etwas geärgert hat, nüchtern oder nicht. Und jetzt – wo Sie es erwähnen – ich habe, als ich hinausging, gehört, wie ein Glas zerbrach, habe aber nicht gewartet, bis man mich rief, um sauber zu machen. Ich war schon in Ausgehkleidung und mein Verehrer stand draußen vor der Tür.«

»Ah ja. Ich brauche noch den Namen des betreffenden Gentlemans; er muss mir bestätigen, wo Sie waren.«

Mary schnaubte. »Gentleman. Ha! Guter Witz. Das erzähle ich ihm. Der wird lachen!«

Der Beamte runzelte die Stirn und schrieb den Namen und die Adresse des Mannes in sein Notizbuch.

Benjamin warf ein: »Mir ist aufgefallen, dass die Karaffe auf dem Schreibtisch leer war.«

»Wir hatten keinen Gin mehr«, erklärte der Hausknecht. »Ich war – äh – nicht dazu gekommen, welchen zu kaufen.«

»Der Leichenbeschauer hat Orangenduft an dem Verstorbenen wahrgenommen«, fuhr Benjamin fort.

»Ich habe ihm keine Orangen serviert«, meinte die Haushälterin verwirrt.

»Keinen … Orangenwein?«

Marvin schien zu zögern. »Nun, es war Wein in …«

»Er zog Gin vor«, fiel die Haushälterin ihm ins Wort. »Aber zur Not hat er alles getrunken, oder, Marvin?«

Der sah sie einen Moment an, dann nickte er langsam. »Das stimmt.« Wieder zögerte er. »Steht eine … Weinflasche im Zimmer?«

»Nein.«

»Ah. Na dann …« Er zuckte die knochigen Achseln. »Dann muss ich mich wohl irren.«

In Bezug worauf?, fragte sich Benjamin stirnrunzelnd, doch der Beamte kritzelte etwas in sein Notizbuch und wechselte dann sofort das Thema.

»Die nächstliegende Frage lautet: Wer könnte von Mr Norris' Tod profitieren? Wer ist sein Erbe?«

Die Dienstboten wechselten ratlose Blicke. Mr Hardy sagte: »Ich glaube, Miss Lawrences unverheiratete Tante, Isabelle Wilder, war ursprünglich als Erbin eingesetzt, da sie seine nächste Verwandte ist. Allerdings könnte Percival sein Testament bei einem anderen Anwalt zwischenzeitlich geändert haben. Ich könnte seine Papiere für Sie durchgehen, wenn Sie möchten.«

»Ich gehe sie selbst durch, vielen Dank«, antwortete der Beamte kühl.

»Verstehe. Aber Sie haben schließlich gefragt«, sagte Hardy.

Officer Riley kratzte sich hinter dem Ohr und runzelte unsicher die Stirn. »Wahrscheinlich wären die Unterlagen nur juristisches Kauderwelsch für mich. Es kann wohl nicht schaden. Aber erst, wenn der Leichenbeschauer hier fertig ist. Und Sie müssen mir sofort Bescheid geben, wenn Sie etwas finden, das in Zusammenhang mit seinem Tod stehen könnte.«

»Natürlich. Darum geht es ja schließlich.«

Der Beamte blickt auf und hob seinen Stift. »Und wo ist Isabelle Wilder jetzt?«

Mrs Kittleson antwortete: »Auf Belle Island. Dem Landgut der Wilders in Berkshire.«

»War sie kürzlich hier zu Besuch?«

»Gute Güte, nein!«, rief die Haushälterin. »Miss Isabelle war seit Jahren nicht mehr in London. Was für ein Gedanke!«

Der Beamte drehte sich wieder zu Mr Hardy. »Besteht Grund für die Annahme, diese Miss Wilder, abgesehen von der Erbschaft, zu verdächtigen?«

Bevor Hardy antworten konnte, sprang die Wohnzimmertür auf und eine junge Frau im Abendkleid stürmte ins Zimmer. Helle Seide umwehte ihre Gestalt, ihr hellbraunes Haar war zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt. Erschrocken über den Anblick der vielen Menschen machte sie abrupt einen Schritt rückwärts und stieß dabei mit dem jungen Mann zusammen, der hinter ihr das Zimmer betreten wollte. Er streckte beide Hände aus, um sie zu stützen, und warf ihr einen besorgten Blick zu, bevor er den Rest der Anwesenden musterte. Hinter ihm trat eine weitere, aber ältere Frau in Schwarz ein. Miss Lawrences Gesellschafterin oder Gouvernante, vermutete Benjamin.

»Was geht hier vor?«, fragte der Gentleman. Er trug Abendkleidung, war schlank, hatte helle, sommersprossige Haut und war fast genauso hübsch wie seine Begleiterin.

Officer Riley ignorierte ihn und fragte: »Miss Lawrence?«

»Ja«, antwortete die jungen Frau. »Und das ist mein Verlobter, Mr Adair. Und Miss O'Toole.« Als sie den Seniorpartner erkannte, sagte sie: »Oh, guten Abend, Mr Hardy. Ich habe Sie gar nicht gesehen. Wollten Sie Onkel Percy besuchen?«

»Diesmal nicht.« Er hielt inne und fügte behutsam hinzu: »Er ist leider verstorben, meine Liebe.«

Ihre behandschuhte Hand fuhr erschrocken zum Mund.« »Oh nein! Ist er im Schlaf gestorben?«

Hardy schüttelte den Kopf. »Im Büro.«

Der Beamte fügte hinzu: »Er wurde getötet. Vielleicht von einem Eindringling.«

»Getötet?« Ihre dunklen Augen wurden groß.

»Während wir auf dem Fest waren«, bemerkte Mr Adair. »Wie tragisch.«

Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen. »Onkel Percy hätte mit uns kommen sollen. Ich hatte ihn so darum gebeten.« Sie schüttelte den Kopf. »So überfallen zu werden, im eigenen Haus. Hat ihn jemand erschossen oder …?«

»Erschlagen«, antwortete der Beamte.

Miss Lawrence zuckte zusammen, dann fragte sie: »War er … betrunken?«

»Das wissen wir noch nicht. Warum?«

»Ich denke, nun ja, ich hoffe, dass er bewusstlos war, als er gestorben ist. Dass er keine Schmerzen hatte.«

»Der Leichenbeschauer hat keinen Gin-Geruch an dem Mann wahrgenommen. Nur Orangen, auch wenn die Haushälterin dabei bleibt, dass sie ihm nichts dergleichen serviert hat«, erklärte Officer Riley kühl.

Rose warf dem jungen Mann, der hinter ihr stand, einen bedeutungsvollen Blick zu, den er erwiderte. Sie wollte etwas sagen, doch er fasste sie am Arm.

Der Beamte, der gerade wieder etwas in sein Notizbuch kritzelte, bemerkte die kleine Szene nicht, aber Benjamin und Mr Hardy hatten es gesehen und wechselten ebenfalls einen vielsagenden Blick.

»Jetzt versuchen Sie mal, sich zu erinnern«, forderte der Beamte die Hausangestellten auf. »Hat einer von Ihnen etwas gehört oder gesehen, das von Bedeutung sein könnte?«

Das Hausmädchen trat vor. »Ich habe gehört, wie er sich mit jemandem gestritten hat, bevor ich aus dem Haus ging, aber ich habe nicht an der Tür gestanden und habe gehorcht, ganz gleich, was manche Leute von mir denken.« Sie warf dem Hausknecht einen vorwurfsvollen Blick zu.

»War das, bevor oder nachdem Sie das Glas splittern hörten?«

»Kurz davor.«

»Wissen Sie, mit wem er gestritten hat?«

Der Blick des Mädchens wanderte durchs Zimmer, dann sah sie wieder ihren Befrager an. »Ich … nein, Sir. Ich habe nicht gehört, dass er einen Namen genannt hätte.«

Hatte sie Mr Adair angesehen oder hatte Benjamin sich getäuscht?

Der Beamte hatte nichts bemerkt und wandte sich als Nächstes an die würdevolle ältere Dame in Schwarz. »Sind Sie ebenfalls ein Hausmädchen?«

Die Frau versteifte sich und antwortete unwillig: »Ich bin Miss Lawrences frühere Gouvernante und gegenwärtig Gesellschafterin und Anstandsdame.«

»Ah. Und hatten Sie etwas gegen Percival Norris?«

»Mir gefiel nicht, wie er meine junge Herrin behandelte. Aber sonst gab es nichts, nein.«

Officer Riley sah die Anwesenden der Reihe nach an. »Kennen Sie irgendjemanden, der Grund hatte, Mr Norris etwas anzutun? Der ihn womöglich lieber tot sehen wollte?«

Die Menschen im Raum wechselten betretene Blicke. Schließlich sagte Miss Lawrence: »Vermutlich nur ich.«

»Rose …«, warnte Mr Adair sie leise.

»Warum soll ich es nicht sagen? Die Dienerschaft wird es ohnehin erzählen. Er soll es lieber von mir hören.«

Sie wandte sich an Officer Riley. »Ich war wütend auf ihn, das ist kein Geheimnis. Er legte mir ein Hindernis nach dem anderen in den Weg. Er wollte nicht, dass ich Mr Adair heirate, kürzte mein Taschengeld und verlangte einen völlig widersinnigen Ehevertrag. Ich hatte also durchaus Grund, ihm böse zu sein. Aber ich habe ihm nichts getan. Ich hätte es auch nicht tun können, selbst wenn ich gewollt hätte. Seit dem Nachmittag war ich bei den Adairs – wir sind gerade eben erst von dem Fest nach Hause gekommen.«

Ihre ältere Gesellschafterin nickte. »Das stimmt. Ich war die ganze Zeit mit ihr zusammen.«

»Ich auch«, ergänzte Mr Adair.

Miss O'Toole warf ihm einen empörten Blick zu. »Nicht mit ihr, Mr Adair! Achten Sie auf Ihre Worte, Sie vermitteln den Männern ja ein völlig falsches Bild.«

»Natürlich nicht während sie sich zum Essen umkleidete, aber mit ihr im Haus. Ich verbrachte die Zeit mit meinem Vater und einer schönen Flasche Bordeaux und hörte mir seine Ratschläge für eine lange und erfolgreiche Ehe an.« Sein liebevoller Blick ruhte auf Miss Lawrence; er nahm ihre Hand.

»Wissen Sie vielleicht von jemandem, der einen Groll gegen Mr Norris hegte?«, fragte Officer Riley.

»Du meine Güte«, antwortete Miss Lawrence, »ich glaube, es gibt nicht viele Menschen, die ihn mochten. Verzeihung, Mr Hardy. Ich weiß, dass er Ihr Freund und Geschäftspartner war. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass ihm wirklich jemand etwas angetan hat. Außer …«

»Außer?«

Sie runzelte die Stirn. »Kürzlich war ein Geschäftsmann hier. Die Tür war geschlossen, deshalb habe ich ihn nicht gesehen, aber ich habe ihn gehört. Er war ganz eindeutig sehr verärgert und hat die Stimme erhoben.«

»Worüber war er verärgert?«

»Er wollte, dass Onkel Percy in irgendetwas investierte. Ich habe nur zugehört, weil er Belle Island erwähnte.«

»Kennen Sie den Namen dieses Mannes?«

»Nein.«

»Hat Ihr Onkel einen Terminkalender geführt?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Ich werde trotzdem seinen Schreibtisch durchsuchen.« Officer Riley notierte sich etwas, dann wandte er sich an die Diener: »Einer von Ihnen muss gesehen haben, wie dieser Mann gekommen ist. Können Sie mir seinen Namen sagen oder ihn beschreiben?«

Die Haushälterin, das Hausmädchen und der Hausknecht schüttelten die Köpfe.

»Oder den Namen irgendeines anderen Menschen, der etwas gegen Percival Norris hatte?«

Wieder allgemeines Kopfschütteln. Nur Mr Hardy rührte sich nicht; seine Augen, fiel Benjamin auf, waren plötzlich hell geworden, als hätte er eine Idee oder einen Verdacht.

Er sagte: »Ich rede nur sehr ungern schlecht über jemanden, der sich nicht verteidigen kann, aber Percival war kürzlich auf Belle Island und hatte dort wohl einen Streit mit Miss Wilder. Er hat mir mit einiger Besorgnis davon erzählt.«

Officer Riley drehte sich erwartungsvoll zu Miss Lawrence um.

Die junge Frau zuckte die Achseln. »Möglich. Sie stritten sich manchmal über die Verwaltung des Anwesens. Aber Tante Belle war seit Jahren nicht in London und würde außerdem keiner Seele etwas zuleide tun.«

»Das stimmt, Sir«, beteuerte die Haushälterin.

Officer Riley dachte nach. »Gut, ich notiere es mir. Allerdings werde ich vorläufig wohl nach einem etwas wahrscheinlicheren Übeltäter suchen.«

Er blätterte seine Notizen durch und schien recht zufrieden. »Ich glaube, Wachtmeister Buxton hat recht. Ein Dieb ist durch die unverschlossene Gartentür eingedrungen, hat ein paar Silbersachen eingesteckt und kam dann ins Büro, wo er Mr Norris vorfand. Norris griff nach einer Pistole, die er in der obersten Schreibtischschublade aufbewahrte, doch bevor er schießen konnte, erschlug der Eindringling ihn mit einem harten Gegenstand, möglicherweise mit einem der Beutestücke, die er bei sich hatte.«

Damit klappte er sein Notizbuch zu und blickte ernst in die Runde. »Ich werde in Erfahrung bringen, ob die fehlenden Silbersachen bei einem Pfandleiher versetzt wurden. Vielleicht finden wir unseren Dieb und Mörder auf diese Weise. Sie können jetzt gehen. Ich behalte mir aber vor, Sie bei Bedarf erneut zu befragen. Haben Sie das verstanden?«

Alle nickten feierlich, dann verließen die Diener das Zimmer.

Miss Lawrence schenkte dem Beamten ein betörendes Lächeln. »Wir … wir wollten morgen eigentlich nach Berkshire fahren, in die Nähe von Maidenhead.«

»Sie wollten die Stadt verlassen? Warum?«

»Meine Tante konnte nicht an unserer Verlobungsfeier teilnehmen, deshalb wollten wir sie besuchen. Wir brauchen unsere Reise doch nicht zu verschieben?« Sie sah den Beamten mit großen, bittenden Augen an und fragte mit Kleinmädchenstimme: »Dürfen wir morgen nach Belle Island fahren?«

Der Beamte zögerte, sein Blick ruhte auf dem hübschen jungen Gesicht. »Warum nicht?«, meinte er dann. »Berkshire ist nicht weit weg, falls ich Sie noch einmal kontaktieren muss.«

»Wunderbar.« Rose Lawrence strahlte. »Meine Tante würde sich Sorgen machen, wenn wir nicht kommen.«

Er erwiderte ihr Lächeln, verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Benjamin folgte ihm auf den Flur. »Ihre Theorie hat eine Schwachstelle, Officer Riley. Ich habe Hinweise auf eine Vergiftung gesehen, aber ein Dieb würde sich nicht die Mühe machen, sein Opfer zu vergiften.«

Der Beamte drehte sich um. »Wenn die Untersuchungen des Leichenbeschauers tatsächlich auf ein Gift als Todesursache schließen lassen, werde ich dem natürlich nachgehen.«

Sie gingen über den Flur, um sich noch einmal den Schauplatz des Verbrechens anzusehen. Dabei bemerkte Benjamin einen kleinen, glänzenden Gegenstand auf dem Teppich und bückte sich, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Es war ein Granatohrring. Der kleine, blutrote Stein war in zarte Goldblätter gefasst. Wahrscheinlich hatte er nichts zu bedeuten, doch er wies Riley dennoch darauf hin.

»Bestimmt hat Miss Lawrence ihn verloren.« Der Beamte bückte sich ebenfalls und hob ihn auf. »Aber ich werde ihn dem Leichenbeschauer zeigen, nur für den Fall.« Er öffnete vorsichtig die Bürotür. Drinnen hörte Benjamin seinen Bruder mit leiser Stimme dozieren.

Riley trat in die Haustür, drehte sich um und flüsterte: »Gute Nacht denn« – er zwinkerte ihm zu – »Bennie Benebelt.«

Ben, froh, den Riley endlich los zu sein, ging weiter zur Hintertür, wo er stehen blieb und überlegte, was er jetzt tun sollte. Dort fand ihn Mr Hardy. Sie sahen zu, wie die Dienstboten sich in verschiedene Richtung entfernten. Vermutlich nahmen sie ihre Pflichten wieder auf oder gingen einfach zu Bett.

Mr Adair geleitete Miss Lawrence in den Flur. »Du solltest heute Abend lieber zu uns kommen, Rose. Hier bist du womöglich nicht sicher«, sagte er freundlich.

Miss Lawrence brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Vielen Dank.«

Ihre Gesellschafterin nickte zustimmend und ging zur Bedienstetentreppe. »Ich packe ein paar Sachen für Miss Rose zusammen. Es dauert nur fünf Minuten.«

Als die Anstandsdame außer Sicht war, stahl der junge Mann sich einen Kuss.

Benjamin wandte den Blick ab und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm nicht recht, untätig hier herumzustehen. »Sollen wir das Haus durchsuchen? Uns noch einmal das Büro anschauen?« Er deutete auf die geschlossene Tür.

Mr Hardy hob eine Hand. »Das würde Ihrem Bruder gar nicht gefallen. Er würde sich vermutlich dagegen verwahren.«

»Da haben Sie recht.« Ben seufzte. »Aber wir müssen doch irgendetwas tun. Ich bin ganz und gar nicht davon überzeugt, dass es ein unbekannter Eindringling war.«

Sein Mentor betrachtete ihn prüfend, dann fuhr er sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Die Theorie befriedigt Sie nicht. Mich auch nicht. Wir beide wissen, dass die Bow-Street-Beamten nicht die Zeit haben, den Spuren so sorgfältig nachzugehen, wie wir uns das wünschen. Vor allem dann nicht, wenn sie dafür ihr vertrautes Londoner Umfeld verlassen müssen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass es keine Gerechtigkeit für meinen Freund geben wird, wenn wir untätig bleiben. Ist Ihnen der Blick aufgefallen, den Miss Lawrence und Mr Adair gewechselt haben? Da steckt mehr dahinter, als sie verraten haben.«

»Ich habe es gesehen.«

»Und jetzt hat Riley ihnen gestattet, die Stadt zu verlassen und ihre Tante, Isabelle Wilder, zu besuchen, und sie … zu warnen.«

»Sie zu warnen?«

Hardy nickte grimmig. »Sie hat sich nicht nur mit Percy gestritten, als sie das letzte Mal hier war; sie hat ihm danach auch noch einen äußerst zornigen Brief geschrieben.«

Benjamin zog unwillkürlich die Brauen hoch. »Hätten wir das nicht dem Beamten sagen müssen?«

Der ältere Mann schnitt eine Grimasse; der Gesichtsausdruck betonte seine dünnen Lippen und seine lange, schmale Nase. »Ja, vielleicht. Aber Sie haben ja selbst gesehen, dass Riley nicht daran interessiert war, etwas über Miss Wilder zu erfahren.«

»Aber der Brief wäre ein konkreter Beweis für Ihren Groll gewesen.«

»Wenn wir ihn hätten.«

»Wo ist er?« Benjamin deutete erneut auf die geschlossene Tür. »Wenn er im Büro ist, dann …«

Hardy schüttelte den Kopf. »Er wurde vernichtet. Er hat mir Teile daraus laut vorgelesen, doch dann war er so wütend, dass er ihn zusammengeknüllt und ins Feuer geworfen hat.«

Benjamin schnaubte. »Warum? Was hat sie denn geschrieben?«

»Sie hat seine Maßnahmen als Verwalter infrage gestellt und ihm gedroht, ihn als Vormund absetzen zu lassen. Nichts Verbotenes, aber genau die Art Familiendrama, die, wenn sie bekannt wird, die Journaille magisch anzieht. Und ich weiß nicht, ob unsere Firma im Moment einen weiteren Skandal verkraften kann.«

Benjamins Magen verkrampfte sich. »Wegen meines öffentlichen Versagens.«

Hardys Gesichtsausdruck wurde sanfter. »So würde ich es nicht sagen, mein Junge. Und ich würde auch nicht mehr auf dieses leidige Thema zu sprechen kommen, wenn die Umstände mich nicht zwingen würden. Wir werden uns davon erholen, doch der Zeitpunkt, dass ein weiterer Skandal ans Licht kommt, könnte nicht ungünstiger sein. Percivals Tod ist schlimm genug. Wenn mein Verdacht gegen Miss Wilder sich als unbegründet herausstellt, hätten wir die Zeitungen völlig unnötig auf den Plan gerufen.«

Hardy hielt kurz inne, dann fuhr er entschlossen fort: »Wenn wir tragfähige Beweise dafür finden, dass sie bei Percys Tod ihre Hand im Spiel hatte, werde ich natürlich nicht zögern, den Brief zu erwähnen, doch im Moment glaube ich, dass es das Risiko nicht wert ist. Oder sind Sie anderer Ansicht?«

Benjamin überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Ohne Beweise würde es uns sowieso nichts nützen. Unser Wort stünde gegen das von Miss Wilder.«

»Genau.« Doch dann erhellte sich Hardys Gesicht, wie bei einer plötzlichen Eingebung. »Es sei denn … sie weiß nicht, dass Percy ihn vernichtet hat. Soweit sie weiß, befindet er sich noch unter seinen Papieren.«

»Ah.« Benjamin nickte, er verstand. »Und wenn sie denkt, wir hätten den Brief, wird sie nicht leugnen, ihn geschrieben zu haben, und wird eventuell noch mehr zugeben.«

Hardy nickte und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ich habe folgende Bitte an Sie: Fahren Sie nach Belle Island, und zwar so schnell wie möglich. Sie wird nicht wissen, warum Sie wirklich kommen. Machen Sie sich am besten gleich auf den Weg, damit Sie noch vor ihrer Nichte dort sind, die sie warnen könnte.«

»Moment – ich soll hinfahren?«

»Ja, Benjamin. Ich weiß, dass Sie nicht gern reisen, aber Sie würden mir und der Firma einen großen persönlichen Gefallen tun. Ich bin im Moment nicht abkömmlich. Der Monkford-Fall, wie Sie wissen, und Cordelias Kind kann jeden Tag kommen. Außerdem muss es Ihnen doch mehr als gelegen kommen, die Stadt ein Weilchen zu verlassen, bis sich die Wogen wegen Ihres Prozesses gelegt haben.«

»Das stimmt allerdings.«

»Es ist ja nicht weit. Sie können mit der Postkutsche nach Maidenhead fahren und von dort eine Droschke mieten.«

»Und einfach so an ihrer Türschwelle auftauchen? Ich habe doch keinerlei Grund, mich dort herumzudrücken und Fragen zu stellen.«

»Oh doch! Es ist ganz einfach professionelle Höflichkeit vonseiten unserer Firma, die traurige Nachricht von Percys Tod persönlich zu überbringen und zu sehen, ob Sie juristischen Beistand braucht.«

Hardy erwärmte sich immer mehr für seine Idee. »Außerdem sind Sie der beste Mann für diese Aufgabe. Sie haben doch Officer Riley gesehen. Miss Lawrence brauchte nur ein bisschen mit den Wimpern zu klimpern und er hat ihr jedes Wort geglaubt. Sie hingegen haben Ihre Lektion gelernt. Sie werden sich nicht noch einmal von einer Frau hinters Licht führen lassen, oder?«

Benjamin zögerte und ballte hinter dem Rücken seine Hände zur Faust. Argwohn und Pflichtgefühl kämpften in ihm.

Als er nichts sagte, beugte Robert Hardy sich vor und sah ihn mit seinen hellen Augen beschwörend an. Seit wann wies das Haar des Mannes so viele silberne Strähnen auf?

»Wollen Sie das für mich tun, Ben? Percival war nicht vollkommen, ich weiß, aber er war mein ältester Freund.«

Benjamin dachte an die vielen Male, die Mr Hardy ihm in den letzten Jahren geholfen hatte. Er hatte ihn eingestellt, als er noch völlig unerfahren war, Ben hatte bei ihm lernen dürfen und stets nur Ermutigung erfahren. Der ältere Mann hatte geduldig zugesehen, wie sein junger Protegé Fehler gemacht hatte, und hatte ihn gelobt, wenn ihm etwas gelungen war. Das war ihm Trost und Ansporn gewesen nach der lebenslangen Distanz und kühlen Missbilligung, die ihm sein Vater entgegengebracht hatte.

Würde er sein vertrautes London, in dem er sein ganzes einunddreißigjähriges Leben verbracht hatte, verlassen und die Unbequemlichkeit der Reise auf sich nehmen, um dem Mann zu helfen, der so viel für ihn getan hatte? Und dabei – hoffentlich – noch einen Mörder der verdienten Gerechtigkeit zuführen?

Ja, das würde er.

Das Geheimnis von Belle Island

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