Читать книгу Das Geheimnis von Belle Island - Julie Klassen - Страница 12
Kapitel 4
ОглавлениеAn diesem Nachmittag saß Benjamin in einer Tageskutsche, die von London aus nach Westen fuhr, und wurde tüchtig durchgerüttelt. Berkshire lag nur gut dreißig Meilen entfernt, doch ihm kam die Fahrt ewig vor. Er hatte Angst, krank zu werden oder – der Himmel mochte es verhüten – einen seiner Anfälle zu erleiden.
Ihm gegenüber saßen ein stoischer alter Geistlicher und eine streng blickende Frau in Schwarz. Der junge Gentleman neben ihm, dessen Gesicht fast so grün wie sein schicker Gehrock war, bedauerte, sich gestern Abend zu ausgiebig dem Port gewidmet zu haben. Plötzlich wölbten sich seine Wangen und er übergab sich; leider schaffte er es nicht mehr ganz, sich aus dem Fenster zu hängen. Das Geräusch und der Gestank hätten Ben beinahe seine gute Erziehung vergessen lassen.
Der junge Mann entschuldigte sich verlegen bei seinen Mitreisenden. Benjamin öffnete das Fenster auf seiner Seite – nur für den Fall –, dann reichte er dem Gentleman mitleidig lächelnd sein Taschentuch.
Daraufhin schloss er die Augen, sog tief die frische Luft ein und kämpfte gegen seine eigene Übelkeit an. Er atmete mehrmals tief ein und mit einem langen Huuuh wieder aus. Der Anflug eines Anfalls verschwand langsam.
Das Schlimmste war hoffentlich überstanden. Er wollte seinen Auftrag zur vollen Zufriedenheit von Mr Hardy erfüllen und dafür musste er, wenn er auf Belle Island eintraf, das Bild eines kompetenten, gelassenen Anwalts abgeben.
Wenn er sich konzentrierte, spürte er noch immer Mr Hardys tröstliche Hand auf seiner Schulter – eine Geste, die mehr an väterlicher Zuneigung zum Ausdruck brachte, als Benjamin seit Jahren erlebt hatte. Dabei wäre es eigentlich an ihm gewesen, seinen Vorgesetzten zu trösten, denn Robert Hardy hatte nicht nur einen Partner seiner Anwaltsfirma verloren, sondern auch einen alten Freund.
Du schaffst das, redete Benjamin sich gut zu. Um seinetwillen musst du es schaffen.
Die Straße, die die Kutsche nahm, verlief eine Zeit lang parallel zur Themse. Benjamin blickte auf das Wasser, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Er sah die Boote und hin und wieder einen Fischer und dachte an die Sommer seiner Kindheit, in der sein Vater seine Praxis tatsächlich für ein paar Tage geschlossen hatte und mit ihnen in eine Fischerhütte gefahren war. Benjamin und sein Bruder hatten so manche heitere Stunde an dem malerischen Ufer verbracht, hatten Ruderbootrennen veranstaltet, Fischen gelernt und Feuerholz gesammelt, während sein Vater, ganz der Arzt, ihre Fänge mit kundiger Hand filetierte, Mama sie kochte und sie alle zusammen den Tag verbrachten, redend und lachend. Das Bild einer glücklichen Familie. Es schien ewig her zu sein.
Endlich langten sie am Bear Inn in Maidenhead an und Benjamin mietete einen Fahrer – einen jungen Mann mit einem kleinen, einspännigen Gig, der ihn den letzten Reiseabschnitt fahren sollte. Das klapprige Gefährt hatte starke Schlagseite und besaß nicht eine einzige Feder oder sonstige Bequemlichkeit.
Nach fünfzehn halsbrecherischen Minuten erreichten sie die Außenbezirke von Riverton. Das Dörfchen lag in einer Flussbiegung, die Kirche, die Häuser und Läden standen auf einer kleinen Anhöhe und wurden von dichtem Nebel verschluckt.
Der Fahrer deutete auf eine Holzbrücke, die über den Fluss führte; sie war gerade breit genug für eine Kutsche.
»Über diese Brücke kommen Sie zur Insel, Sir«, sagte der junge Mann. »Die Wilders leben seit Ewigkeiten hier. Wenn der Nebel sich gelichtet hat, werden Sie das Haus sehen. Ist es in Ordnung, wenn ich Sie hier absetze?«
»Wie? Ja, gut.« Benjamin bezahlte den Mann, stieg auf wackeligen Beinen aus und sah sich um. Er hörte noch das leise Gehen Sie einfach weiter des Fahrers, dann fuhr das Gig an. Benjamin konnte den Blick nicht vom gegenüberliegenden Ufer wenden.
Durch den grauen Nebel erkannte er schemenhaft ein hohes steinernes Herrenhaus, dicht von Efeu bewachsen. Näher am Ufer hingen Zweige über dem Wasser – dornige Wacholder- und Haselsträucher, Trauerweiden und Ulmen, deren altehrwürdige Kronen sich kummervoll neigten. Sie streckten die Arme aus und wehrten ihn ab, schienen ihn warnen zu wollen, seinen Weg fortzusetzen.
Benjamin runzelte die Stirn. Was für ein dummer Gedanke! Offenbar hatte ihm die Reise den Kopf vernebelt.
Während er so dastand und hinüberschaute, schien die Brücke sich zu bewegen. Das Geländer verengte sich zu einem schmalen Tunnel und weitete sich wieder. Er griff Halt suchend nach einem Pfosten. Du lieber Himmel! Kein Wunder, dass er ungern und nur höchst selten reiste.
Plötzlich registrierte er eine Bewegung. Auf der anderen Brückenseite erschien eine Gestalt im Nebel – eine Frau in einem langen roten Mantel. Die tief sitzende Haube verbarg ihr Gesicht. Dann verschwand sie im Nebel … oder war es eine Erscheinung gewesen?
Er schauderte.
Sei kein Tor!, schalt er sich selbst und betrat entschlossen die Brücke. Ein Schwanken unter seinen Füßen ließ ihn innehalten, alles in ihm sehnte sich zurück nach seinen schäbigen, bequemen Zimmern in London. Aus irgendeinem Grund war ihm klar: Wenn er die Brücke überquerte, würde sein Leben nicht mehr dasselbe sein.
Er schloss die Augen, atmete tief durch und betete um Weisheit und Führung. Dann rief er sich den Zweck seines Kommens ins Gedächtnis. Er war wegen der Firma hier – um Miss Wilder nach dem Tod von Percival Norris juristischen Beistand anzubieten und währenddessen diskret herauszufinden, ob sie oder ein Mitglied ihrer Familie für seinen Tod verantwortlich war. Wenn er Erfolg hatte, würde er damit sein früheres Versagen weitgehend wiedergutmachen.
Schnell ging es ihm besser. Als er die Augen wieder öffnete, begann der Nebel sich bereits zu lichten.
Er dachte über die weibliche Gestalt nach, die er gesehen – oder sich zu sehen eingebildet hatte. War es Isabelle Wilder gewesen? Er hatte das Gesicht der Frau nicht gesehen. Wie alt Miss Lawrences Tante wohl sein mochte? Vierzig? Fünfundvierzig? Aus irgendeinem Grund stellte er sie sich als grimmige alte Jungfer vor, mit Hakennase und einem bösen Funkeln in den Augen.
Durch die letzten Nebelschleier tauchten allmählich die Details der Insel auf. Auf der anderen Brückenseite führte ein bewachsener Pfad zu einer breiten Veranda, die vorn und seitlich um das Haus herumführte. Rechts und links vom Eingang standen zwei Säulen, auf der rechten Seite ragte ein über drei Stockwerke gehender Erker vor. Sein Blick wanderte zu einer um das begehbare Dach laufenden Balkonbrüstung und ein unangenehmer Schauer überlief ihn. Er hatte Höhenangst. Rasch wandte er den Blick ab und ging weiter.
Als er von der Brücke herunter auf die Insel trat, tauchte eine Frau hinter dem Haus auf. Sie war ungefähr in seinem Alter. Hinter ihr her trottete ein struppiger Hund. Die Frau war groß und schlank. Unter ihrer roten Haube quoll hellbraunes Haar, durchwirkt mit goldenen Strähnen, hervor. Jetzt sah er auch ihr Gesicht: Sie war viel zu jung und attraktiv für die alte Jungfer, für die er sie gehalten hatte. Wahrscheinlich war sie eine Gesellschafterin.
Sie erblickte ihn und blieb stehen. »Oh. Guten Tag.«
Er holte tief Luft und begann: »Ich würde gern Miss Wilder sprechen.«
»Das bin ich«, erwiderte sie.
Ungläubig starrte er sie an. Ihr Gesicht war oval und glatt, ihre Augen groß und blau – und trotz der dunklen Ringe darunter, die wie zarte halbmondförmige Schatten wirkten, schien sie eine hübsche, sympathische junge Frau zu sein, die kein bisschen böse oder verschlagen wirkte – auch wenn er mittlerweile nur zu gut wusste, dass das Aussehen oft trügerisch war.
»Sie sind Isabelle Wilder?«
»Schuldig.«
Interessante Wortwahl, dachte Benjamin. Ein leichter Schwindel packte ihn, doch er versuchte, ihn zu ignorieren.
Sie schlug die Augen nieder. »Tut mir leid. Sie haben mich ertappt.«
»Sie ertappt?«, wiederholte er dümmlich. Würde Sie ihm gleich jetzt alles gestehen?
»Ich bin gerade erst aufgestanden. Normalerweise stehe ich früher auf, aber heute Morgen ging es mir nicht so gut.« Der Hund lag träge zu ihren Füßen.
»Ach ja? Ich …«, stammelte er lahm. »Ich bin selbst gerade erst angekommen.«
»Sie sind also auch spät dran? Ich glaube, Mr Linton hat Sie schon vor ein paar Stunden erwartet.«
»Mich erwartet?«
»Ja. Oder sind Sie etwa nicht der Korbflechtmeister, der hier unterrichten soll?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Oh. Entschuldigung. Wer sind Sie dann?«
Er stellte seinen Koffer ab und gab ihr seine Karte. Hoffentlich fiel ihr nicht auf, dass seine Hand ganz leicht zitterte. »Benjamin Booker. Von Norris, Hardy und Hunt.«
Sie betrachtete die Karte. »Onkel Percys Firma. Natürlich.« Sie stieg die Verandastufen hoch und bedeutete ihm zu folgen.
»Merkwürdig, ich habe gerade erst an Percival gedacht. Genauer gesagt, habe ich letzte Nacht von ihm geträumt.«
»Wirklich?«
»Mhm«, antwortete sie leichthin. »Aber das war nicht erstaunlich. Er war ja erst vor ein paar Wochen hier.«
»Das habe ich gehört.«
Sie gingen über die Veranda und sie fragte: »Was führt Sie hierher? Bringen Sie mir ein Schriftstück, das ich unterschreiben soll?«
Benjamin zögerte. Er dachte an den Rat, den Mr Hardy mehr als einem jungen Anwalt erteilt hatte: »Formulieren Sie Ihre Vermutung voller Überzeugung als Tatsache und neun von zehn Personen glauben Sie im Besitz von Belegen und reagieren entsprechend.«
Diesen Satz im Kopf, sagte er: »Sie beide hatten kürzlich einen Streit, so viel ich weiß. Und danach haben Sie ihm einen recht unangenehmen Brief geschrieben.«
Sie verzog das Gesicht. »Ja. Offenbar hat er Ihnen alles erzählt.«
Benjamin zuckte unverbindlich die Achseln.
Sie seufzte. »Ich war wütend. Er besteht drauf, einen Teil der Insel an einen … Fremden zu vermieten. Das würde alles verderben, was ich hier aufzubauen versucht habe.«
»Nun ja, da er jetzt tot ist, ist dieses Problem wohl gelöst.«
Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, ihr Mund öffnete sich ungläubig, ihr Gesicht verzerrte sich vor Schreck. »Was? Percival ist tot?«
Er nickte. Seine Benommenheit nahm zu. Nein, nein, nicht jetzt. Reiß dich zusammen, Booker!
Er holte tief Luft. »Wo waren Sie letzte Nacht?«, fragte er.
»Hier auf der Insel.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Äh … ja.«
Ben wurde schwindelig, er stolperte und hielt sich an einer Säule fest.
Sie sah ihn erschrocken an. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Er schüttelte den Kopf, doch daraufhin wurde ihm noch schwummriger. Gleich würde er in Ohnmacht fallen. Ausgerechnet vor dieser Frau!
»Mr Booker, was ist los mit Ihnen? Sie sehen sehr schlecht aus.«
Er legte eine Hand auf die Augen. »Mir ist nur … schwindelig. Es ist gleich vorbei.«
»Setzen Sie sich doch, bevor Sie umfallen.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn zu einem Stuhl. Ihr Griff war überraschend stark.
Stark genug, um einen Menschen zu töten?
Isabelle betrachtete den Mann, der auf dem Stuhl saß – die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in die Hände gelegt. Sie empfand eine Mischung aus Mitleid und Angst bei seinem Anblick. Warum Angst?, fragte sie sich. Sie hatte doch nichts von ihm zu befürchten. Das waren bestimmt nur die Nachwirkungen ihres entsetzlichen Albtraums.
»Ich bin vermutlich der Einzige, der hier das Gefühl hat, dass die Erde sich um ihn dreht?«, murmelte er. »Die Erde bebt wahrscheinlich nicht wirklich?«
»Nein«, antwortete sie freundlich. Sie setzte sich auf das Sofa neben ihn, faltete die Hände und blickte sich um. Was sollte sie jetzt tun?
Wie seltsam, dass sie ausgerechnet letzte Nacht von Onkel Percy geträumt hatte. Und auch noch einen so gewaltsamen Traum.
»Ich kann gar nicht glauben, dass Percival tot ist«, murmelte sie.
»Doch, er ist tot. Er wurde getötet.«
Sie riss überrascht den Kopf hoch. »Getötet? Sind Sie sicher?«
Er nickte und stöhnte gleich darauf laut auf. Dann holte er ein Taschentuch aus seinem kleinen Handkoffer und wischte sich damit über die Stirn.
»Wie?«
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Vielleicht können Sie es mir sagen.«
Sie sog überrascht die Luft ein. »Was soll das denn heißen?«
Sein Gesicht verzog sich. »Das ist noch nicht heraus. Wir warten noch auf den Bericht des Leichenbeschauers.«
Isabelle schüttelte langsam den Kopf. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ein Mörder in ihrem Stadthaus? Ihr wurde eng um die Brust. »Und meine Nichte, Rose Lawrence? Haben Sie sie gesehen? Ist sie wohlauf?«
»Ja, sowohl als auch.«
Sie atmete erleichtert auf. »Gut.«
Eine Bewegung fiel ihr ins Auge, sie blickte auf. Hinter der Veranda war die hohe Wölbung eines Huts zu sehen.
»Teddy!« Isabelle winkte ihrem Freund zu. Carlota, fiel ihr ein, hatte erwähnt, dass der Arzt bei einigen ihrer Pächter gewesen war, den Howtons und Abel Curtis.
Curtis. Der Name versetzte ihr einen Stich, aber es war nicht mehr so schlimm wie früher. Abel war ihr Hausmeister und der Vater des jungen Mannes, den zu lieben sie sich einst eingebildet hatte. Der, der sie in ihrem Traum hatte fallen lassen – Evan Curtis.
Dr. Theodore Grant stieg die Stufen herauf und kam mit seinen langen Beinen über die Veranda auf sie zu. Er hatte rötliches Haar und grüne Augen, die den Mann neben ihr misstrauisch fixierten. Teddy war fast zwei Jahre älter als sie, doch sein Gesicht wirkte noch immer jungenhaft. Er und Evan waren mit ihr zusammen auf der Insel aufgewachsen.
»Was ist denn los, Isabelle? Stimmt etwas nicht?«
»Mr Booker scheint einen Schwindelanfall zu haben.«
Er zog die Brauen hoch. »Er ist zu Besuch, aus London – ein Anwalt aus Onkel Percivals Firma«, erklärte sie rasch.
Sie blickte wieder auf den zusammengesunkenen, vornübergebeugten Mann. »Mr Booker, das ist Dr. Grant, der Arzt des Ortes und ein Freund der Familie.«
Der Anwalt stöhnte erneut auf. »Ich brauche keinen Arzt.«
»Dr. Grant ist aber ein ganz ausgezeichneter Arzt. Er kann Ihnen bestimmt helfen.«
Sie wandte sich an Teddy. Bei ihrem Lob strafften sich seine Schultern und seine Brust wölbte sich.
»Ich würde Ihnen sehr gern helfen, wenn ich kann.«
»Es ist gleich vorbei«, beharrte der Anwalt. Er stand auf, schwankte jedoch sogleich wieder und taumelte.
Teddy nahm seinen Arm. »Kommen Sie, Mr Booker. Sie müssen sich hinlegen, dann geht es Ihnen besser.«
Isabelle zögerte. »Oh ja, natürlich«, sagte sie dann. »Wir können ihn in eins der Gästezimmer oben bringen.«
Mr Booker schüttelte den Kopf. »Ich wollte mir eigentlich ein Zimmer im Gasthaus nehmen.«
»Nicht nötig«, sagte sie. »Es sei denn … Können Sie noch Treppen steigen? Wenn nicht, kann ein Diener helfen, Sie hinaufzutragen …«
»Das schaffe ich schon«, brachte Mr Booker zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sein Gesicht war blass und glänzte vor Schweiß.
Dr. Grant nahm einen Arm, sie den anderen und zusammen führten sie den Anwalt durch die Tür. Aus irgendeinem Grund sank ihr der Mut bei dem Gedanken, diesen Mann in ihr Haus einzuladen, doch Mitleid und Pflichtgefühl waren stärker als ihr Bedürfnis, dem unguten Gefühl nachzugeben.