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Kapitel 5

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Benjamin lag in Hemd und Hose auf einem gemachten Bett; sein Gehrock hing über einem Stuhl. Er sah sich in dem ansprechenden Zimmer mit dem ausgeblichenen, aber schönen Teppich um. Der Raum duftete schwach nach getrockneten Rosen, Staub und altem Geld.

»Waren Sie kürzlich krank?«, fragte Dr. Grant.

»Nur eine kleine Erkältung.«

»Das erklärt aber nicht den Schwindel.«

»Wissen Sie, ich leide einfach hin und wieder unter Schwindelanfällen. Es war allerdings noch nie so schlimm.«

Dr. Grant nickte. »Es scheint, dass Sie eine Art Blutstau in den Ohren haben. Das könnte der Auslöser gewesen sein.«

»Ja, und das Gerüttel und Schlingern auf der Reise hat es noch verstärkt.« Benjamin fuhr sich mit dem Taschentuch über seinen verschwitzten Hals. Hoffentlich beschmutzte er nicht die Kissen.

»Sie reisen nicht oft?«

»Nein. Ich wohne in der Nähe des Büros. Gelegentlich muss ich eine Kutsche nehmen, aber die gepflasterten Straßen in London sind glatt wie Glas, verglichen mit den tief gefurchten Landstraßen, auf denen ich hergekommen bin. Der Kutscher hat mich ganz schön durchgerüttelt, kann ich Ihnen sagen. Ein Fahrgast musste sich sogar übergeben; ein zweiter hätte es ihm beinahe gleichgetan.«

»War der Zweite ein Anwalt?«, fragte Dr. Grant nach.

»Ja, das war er.«

»Die anderen Fahrgäste wussten Ihre Selbstbeherrschung bestimmt zu schätzen.« Dr. Grant ließ seine Tasche zuschnappen. »Ich kenne mich mit Schwindel leider nicht allzu gut aus, obwohl ich mich bei einem Experten für kurze Zeit mit Melancholie und Hysterie befasst habe.«

Benjamin hob flehentlich die Hände. »Wie ich schon sagte, es ist nichts Ernstes. Nur ein leichter Schwindel.«

»Das sollten Sie trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Dr. Grant stand auf. »Ich werde in meinen Büchern nachschlagen und sehen, was ich finden kann. Ruhen Sie sich heute erst einmal aus. Bleiben Sie so ruhig wie möglich liegen. Morgen früh schaue ich wieder bei Ihnen vorbei.«

»Sehr freundlich von Ihnen und Miss Wilder, aber ich bin kein Invalide.«

»Ärztliche Anordnung!« An der Tür drehte Theodore Grant sich um. »Was führt Sie eigentlich her, wenn ich fragen darf?«

»Der Tod von Percival Norris. Er wurde ermordet.«

Die grünen Augen des Arztes wurden groß. »Ermordet? Du liebe Güte! Aber man sollte doch annehmen, dass das Sache der Bow Street ist.«

»Sein Tod wird untersucht. Ich bin auf Bitten eines unserer Seniorpartner hier – um die Familie von dem Todesfall in Kenntnis zu setzen und an Mr Norris' Stelle juristischen Rat anzubieten.«

Der Arzt hatte ihm aufmerksam zugehört; jetzt sagte er: »Ich dachte, Mr Norris hätte sich aus dem Geschäft zurückgezogen, um sich ganz der Verwaltung des Wilder-Anwesens widmen zu können.«

»Nun, jetzt hat er sich im wahrsten Sinne des Wortes aus allem zurückgezogen.«


Dr. Grant ging zu Isabelle ins Arbeitszimmer ihres Vaters, das sie jetzt als Büro für ihre kleine Firma, eine gut gehende Korbmanufaktur, nutzte. Der Hund der Familie, Hamish, lag auf einem Teppich am Kamin.

»Wie geht es Mr Booker?«, fragte sie.

Teddy stellte seine Tasche ab. »Er sagt, es sei nichts Ernstes, aber ich bin da nicht so sicher. Ich habe ihm zur Vorsicht für den Rest des Tages Bettruhe verordnet.«

Er sah sie prüfend an. »Isabelle, wie gut kennst du diesen Mann?«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht. Ich habe ihn gerade eben erst kennengelernt.«

Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ach so? Ich war sicher, dass du ihn irgendwoher kennst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Mr Booker hat erwähnt, dass dein Onkel tot ist. Das tut mir leid. Er sagte, er sei gekommen, um dir die Nachricht persönliche zu überbringen und dir juristischen Rat anzubieten, aber ich frage mich …«

»Ich mich auch. Ich habe beinahe den Verdacht, dass er mich für die Mörderin hält. Er hat unseren Streit und den wütenden Brief, den ich Percival geschrieben habe, erwähnt.«

Das lange Gesicht ihres Freundes wurde noch länger; sein Mund war ein Oval des Schocks. »Was?«

Isabelle zuckte die Achseln und machte eine nonchalante Handbewegung.

»Aber …«, stammelte er, »das ist doch lächerlich!«

»Natürlich ist es das. Deshalb mache ich mir auch keine ernsthaften Sorgen.«

Dr. Grant schüttelte den Kopf und sah sie mit geweiteten Nasenflügeln an. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich nicht vorgeschlagen, dass er bleiben soll.«

»Ja. Das Ganze ist etwas lästig.«

»Ich werde ihn sofort ins Gasthaus bringen lassen.«

»Das ist nicht nötig. Er ist jetzt hier und, wie du selbst gesehen hast, ziemlich harmlos.«

»Im Moment vielleicht, aber bestimmt nicht lange.«

»Und er hat recht. Nach Percivals Tod werden viele juristische Fragen zu klären sein, zumal jetzt, wo Rose heiraten will. Und natürlich auch, was sein Testament und die Treuhandsache betrifft. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass er gekommen ist, da ich, wie du weißt, ganz bestimmt nicht nach London fahren werde.«

»Und ob ich das weiß«, murmelte er.

Isabelle blickte auf die Kaminuhr und kaute an ihrer Unterlippe. »Hoffentlich ist mit Rose und Mr Adair alles in Ordnung. Sie müssten längst hier sein.«

Er trat näher. »Mach dir keine Sorgen. Spätestens zum Abendessen werden sie bestimmt hier eintreffen.«

»Du hast wahrscheinlich recht. Aber du kennst mich ja, ich bin ein bisschen überängstlich.«

»Ich weiß.« Er betrachtete sie. »Wie fühlst du dich?«

»Gut. Nur ein bisschen Kopfschmerzen.«

»Du hast gestern ganz schön tief ins Glas geschaut.«

»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«

»Das sollte keine Kritik sein; ich weiß, wie schwer es für dich war, nicht bei Rose in London gewesen sein zu können.«

Sie verzog das Gesicht. »Auch daran brauchst du mich nicht zu erinnern.«

»Entschuldigung.« Er neigte den Kopf, dann sah er unter hellen Wimpern zu ihr auf. »Nur Kopfschmerzen? Keine Magenprobleme?«

»Na ja, ich möchte nicht gerade vor einem Teller mit Aal sitzen, aber mein aufgebrachter Magen wird sich schneller wieder beruhigen als meine Reue. Hoffentlich habe ich mich nicht kompromittiert – oder gar dich.«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete er, doch Isabelle war nicht überzeugt.

»Ganz ehrlich, so viel habe ich doch gar nicht getrunken. Wahrscheinlich war das letzte Glas ein bisschen zu viel des Guten. Du hast mir nicht geholfen, die Flasche zu leeren, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich nicht trinke.«

»Und mein Verhalten gestern Abend hat dich zweifellos in diesem Entschluss bestärkt.«

Er legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Sei nicht zu streng mit dir, Isabelle. Normalerweise mäßigst du dich in diesem Bereich.«

»Ich werde versuchen, das auch in Zukunft so zu halten.«

Auf seine Berührung hin rieb sie sich den schmerzenden Ellbogen. »Ich habe mich irgendwie am Arm verletzt. Vielleicht bin ich heute Nacht komisch darauf gelegen.«

Er sah von ihrem Arm in ihr Gesicht. »Darf ich?« Als sie nickte, schob er sanft den Ärmel hoch und untersuchte ihren Ellbogen. »Nur eine Prellung, nichts Schlimmes.«

»Gut. Aber ich erinnere mich wirklich nicht, mich irgendwo gestoßen zu haben.«

Seine Finger ruhten noch immer auf ihrem Arm. »Vielleicht draußen in der Korbwerkstatt?«

»Möglich.«

Dr. Grant, der begehrteste Junggeselle im Dorf, berührte ihren nackten Arm. Eigentlich müsste sie etwas fühlen, oder? Doch wenn sie ihn anschaute, sah sie noch immer Teddy, den Jungen mit dem roten Haar und den Sommersprossen und den knochigen Schienbeinen zwischen den zu kurzen Hosen und den runtergerutschten Socken. Bei dem Gedanken schenkte sie ihm ein Lächeln, welches er erwiderte; dabei funkelten seine Augen vor Schalk.

»Ach, übrigens«, sagte er, »ich habe ein Geschenk für dich in meiner Kutsche.«

»Oh, wirklich?«, fragte Isabelle. »Wie aufregend!«

»Wollen wir hinausgehen und es ansehen?«

»Gern!« Sie ging zur Tür und rief dem schlafenden Hund zu: »Komm mit, Hamish, auf, mein Junge!«

Doch der Hund wedelte nur mit dem Schwanz und schlief weiter.

Teddy schüttelte nur den Kopf. »Dieser alte Hund pfeift wirklich aus dem letzten Loch.«

»Ich weiß, aber er hat Vater gehört. Er war noch ein Welpe, als er und Mama …« Sie ließ den Satz verklingen; eine Erklärung war nicht nötig. Teddy wusste Bescheid.

Sie folgte ihm hinaus zu seiner Kutsche. Er zog eine Kniedecke von einer hölzernen Kiste.

»Was ist das?« Durch die Schlitze hörte sie ein Wimmern und Kratzgeräusche. »Es klingt lebendig.«

»Das sollte es auch. Jack Pearson hat mir versprochen, dass er kerngesund ist.«

»Er?«

»Sieh selbst!«

Als sie den Deckel öffnete, reckte sich ihr ein braun-weißer Kopf, mit Schlappohren, leuchtenden Augen und heraushängender Zunge entgegen.

Isabelle bückte sich und streichelte das Köpfchen. »Ohhhh – wie entzückend!«

»Schön, dass er dir gefällt. Er gehört dir. Ein Geschenk.«

Sie sah ihn überrascht an. »Aber ich habe schon einen Hund.«

»Ich weiß. Aber Hamish ist eher ein Stück festes Inventar als ein Begleiter. Er steht ja kaum noch von seiner Decke auf.«

»Mag ja sein, aber ich wollte keinen anderen Hund, solange er noch … bei uns ist.«

»Ich habe ihn bei Pearson gesehen und fand, dass er perfekt zu dir passt.«

»Er ist wirklich süß. Und so lebendig!« Sie streichelte dem Welpen über die Ohren. »Bist du ganz sicher, dass du nichts mehr für Hamish tun kannst?«, fragte sie.

Er wurde ernst. »Ich bin Arzt, Isabelle, kein Zauberer. Ich habe alles versucht. Aber wenn du ihn weiterhin laufend fütterst und nicht für genügend Bewegung sorgst und ihm das Tonikum, das ich ihm verschrieben habe, nicht gibst …«

»Ich habe es doch versucht! Aber er mag es nicht!«

»Dann kann ich nichts mehr für ihn tun.«

»Bitte, Teddy.«

Er seufzte, sein Gesicht wurde weicher. »Na gut, ich schaue ihn mir noch mal an. Aber wie willst du den Kleinen hier nennen?«

Sie strich dem Welpen über die weiche Schnauze und wurde mit ein paar feuchten Küssen belohnt. »Da muss ich mir erst mal Gedanken machen.«


Benjamin lag auf dem Bett, wie der Arzt es angeordnet hatte, doch seine Untätigkeit machte ihm zu schaffen. Ein Diener namens Jacob kam herein und fragte, ob er etwas brauchte.

»Nein, danke.«

Benjamin beschloss, den jungen Mann ein wenig auszuhorchen. »Sind Sie schon lange hier angestellt?«

»Ungefähr vier Jahre, Sir. Es ist eine gute Arbeit.«

»Nur aus Neugier: Hält Miss Wilder eine Kutsche und einen Kutscher?«

»Nein, Sir, nicht, seitdem ich hier bin.«

»Wie reist sie denn dann? Mit der Postkutsche?«

Jacob schüttelte den Kopf. »Sie reist überhaupt nicht.«

»Sie hat die Insel also nicht kürzlich verlassen?«

»Nein, Sir. Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wieder an die Arbeit.«

Der loyale Diener konnte sich gar nicht rasch genug entfernen. Von ihm würde Benjamin bestimmt nichts mehr erfahren.

Ben nahm ein Buch zur Hand, das er mitgebracht hatte, und las ein bisschen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Etwas später klopfte es erneut an der Tür. Er blickte auf und rechnete damit, dass der Diener wieder hereinkam.

Doch in der Tür stand Miss Wilder und neben ihr eine andere Frau, ein Tablett in den Händen. »Wir bringen Ihnen etwas zu essen, Mr Booker, Sie müssen Appetit haben, nach der langen Reise.«

Er freute sich mehr über die Gelegenheit, ihr ein paar Fragen zu stellen, als über das Essen, und richtete sich zu einer sitzenden Position auf. »Danke. Kommen Sie doch herein.«

Die zweite Frau trat als Erste ein und stellte das Tablett auf das Nachttischchen. Miss Wilder blieb auf der Schwelle stehen. »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, dass wir gekommen sind, aber Jacob hat draußen zu tun.«

»Aber nein, gar nicht.« Bens Gehrock hing noch über der Stuhllehne, doch ansonsten war er korrekt angezogen.

Miss Wilder deutete auf ihre Begleiterin, die er für eine Dienerin gehalten hatte. »Das ist Miss Carlota Medina. Sie arbeitet für mich und sie ist meine Freundin.«

Er nickte der Frau zu und sah sie genauer an. Sie hatte einen mediterranen Hautton – eine Farbe wie Schwarztee mit Sahne, dunkle Augen und schwarzes, zurückgenommenes Haar. Sie war durchaus attraktiv, doch ihr Ausdruck hatte etwas Schwermütiges und aus der Nähe gesehen war sie eindeutig ein paar Jahre älter als Miss Wilder.

Benjamin fühlte sich unter den Blicken der beiden Frauen ein wenig im Nachteil und wünschte plötzlich, dass er wenigstens seinen Gehrock tragen würde. »Bitte verzeihen Sie mir, dass ich hier so hemdsärmelig liege, meine Damen.«

»Das macht doch nichts«, antwortete Miss Wilder. »Ich bin nicht so leicht zu schockieren, schließlich hatte ich einen Bruder.«

Und ihre Freundin fügte mit einem leichten spanischen Akzent hinzu: »Und ich habe Männer in sehr viel weniger bekleidetem Zustand gesehen, das dürfen Sie mir glauben.«

»Lotty!«, rief Isabelle lachend, halb indigniert, halb amüsiert.

»Ich rede ja bloß von meiner Zeit beim Theater.«

Miss Wilder lächelte ihr zu. »Mr Booker kennt deinen speziellen Sinn für Humor noch nicht.«

Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah ihn an. »Wie geht es Ihnen jetzt?«

»Besser. Aber Ihr Arzt-Freund besteht darauf, dass ich liegen bleibe, bis er wiederkommt.«

Sie nickte. »Dr. Grants Ratschläge sind sinnvoll. Sie sind gut beraten, sich daran zu halten.«

Die andere Frau schnaubte nur, als sie das hörte, doch als Benjamin zu ihr hinüberblickte, verriet ihre Miene nichts.

»Sie sagten, Sie hätten gestern in London meine Nichte gesehen, stimmt das?«, fragte Miss Wilder.

»Ja. Sie und Mr Adair wurden von einem Officer aus der Bow Street befragt und beschlossen danach, die Nacht im Haus seiner Familie zu verbringen. Mr Adair glaubte sie dort sicherer als in dem Haus, in dem Mr Norris getötet wurde.«

Miss Wilder zuckte zusammen. »Sehr verständlich.« Sie klammerte sich an die Lehne des nächststehenden Stuhls. »Und haben Sie Mr Norris gesehen?«

»Ja.« Plötzlich stand ihm das Bild wieder vor Augen. »Er lag über seinem Schreibtisch, die Pistole in der Hand.«

Miss Wilder ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Sie wirkte zutiefst erschrocken. »Wurde er erschossen?«

»Nein. Anscheinend hat er die Pistole aus der Schreibtischschublade genommen, aber sie wurde nicht abgefeuert.«

»Wie … wie geschah es dann?«

»Wie ich schon sagte, anscheinend erhielt Mr Norris einen Schlag mit irgendeinem Gegenstand auf den Kopf, doch wir wissen nicht, womit. Das Urteil des Leichenbeschauers steht noch aus.«

»Vielleicht mit einer Weinflasche?«

Er starrte sie an. »Wie um alles in der Welt kommen Sie denn darauf?«

Sie blinzelte. »Ich … ich weiß es nicht. Egal.«

Er schaute sie eindringlich an, konnte jedoch nur Verwirrung und Sorge in ihrem Gesicht erkennen. »In dem Raum war keine Flasche«, sagte er dann. »Nur eine leere Karaffe. Allerdings wurde ein Trinkglas an die Wand geworfen, wie im Zorn. Oder zur Selbstverteidigung.«

»Ich verstehe.« Sie schluckte. »Und was machte Rose für einen Eindruck? Gewiss war sie schockiert und fassungslos, oder?«, fragte sie.

»Im Gegenteil. Sie wirkte bemerkenswert gefasst. Sie und Mr Norris schienen sich nicht sehr gewogen zu sein.«

»Nun, ich …«

»Wer könnte ihr deswegen auch einen Vorwurf machen?«, warf Miss Medina zornig ein. »Der Mann war ein solcher Unsympath.«

»Warum das?«, fragte Benjamin nach.

»Lotty, bitte«, beschwichtigte Isabelle. »Er war schließlich ein Verwandter von uns, auch wenn wir in unseren Ansichten nicht übereinstimmten.«

Isabelle sah auf die Uhr und spielte mit der Schlüsselkette an ihrem Gürtel. »Apropos Familie, Rose und Mr Adair geht es doch hoffentlich gut? Sie wollten mich eigentlich besuchen, genau genommen müssten sie längst hier sein.«

Benjamin nickte. »Der Ansicht war ich auch. Sie sagten dem Bow-Street-Beamten, dass sie heute fahren wollten.«

Isabelle rang beinahe die Hände. »Sie tragen nicht gerade dazu bei, meine Ängste zu beschwichtigen.«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte der Beamte noch ein paar Fragen an sie. Möglicherweise vermutete er, dass sie mehr über den Tod wissen, als sie sagten.«

»Wenn mich das beruhigen sollte – das tut es nicht!«

»Es war lediglich ein Erklärungsversuch.«

»Ich frage mich, ob Sie wohl viele Freunde haben, Mr Booker. Die Fähigkeit, Trost zu spenden, ist eine Freundestugend.«

»Äh – zum Glück haben Sie dafür ja Mr Grant«, sagte er kühl.

»Stimmt. Und Lotty.«

Diese nahm ihr Stichwort auf: »Ich bin ganz sicher, dass Rose wohlauf ist, Miss.«

»Da hast du sicher recht. Aber du weißt ja, dass ich mir so schnell Sorgen mache.«

Benjamin beschloss, nachzuhaken: »Sie sprachen von einem Bruder, Miss Wilder. Wo ist er?«

»Tot, leider. Er ging als junger Mann aus Abenteuerlust zur See und kam dabei ums Leben.«

»Das tut mir aufrichtig leid.«

»Danke. Wir haben ihn schon vor vielen Jahren verloren. Und meine übrigen Familienangehörigen sind alle beinahe gleichzeitig gestorben.«

»Ach ja? Ich erinnere mich: Ihre Londoner Haushälterin erwähnte, dass Miss Lawrences Mutter verstorben sei.«

»Ja. Grace und ich waren unzertrennlich, obwohl sie sechs Jahre älter war. Doch dann lernte sie Harry Lawrence kennen und ging mit ihm nach Indien – wo sie doch Spinnen, Schlangen und Schmutz ihr Leben lang so sehr verabscheut hat. Das muss wahre Liebe gewesen sein, nehme ich an.«

»Dazu kann ich nichts sagen«, murmelte Benjamin trocken und fügte hinzu: »Ich wusste, dass Sie Ihre Eltern verloren haben, deshalb wurde Mr Norris ja als Ihr Vormund eingesetzt – aber, dass auch Ihr Bruder und Ihre Schwester ums Leben gekommen sind, war mir unbekannt. Wie lange ist das schon her?«

»Über zehn Jahre.« Miss Wilder trat ans Fenster und sah hinaus. »Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen … Wir hatten gerade einen Brief von Grace mit der furchtbaren Nachricht erhalten, dass ihr Mann an einer fremden Krankheit gestorben und sie ebenfalls erkrankt war. Sie informierte uns, dass sie zusammen mit ihrer kleinen Tochter auf dem Rückweg nach London sei und hoffe, dass wir sie am East India Dock abholen würden. Wir erhielten den Brief allerdings erst am Vorabend ihrer Ankunft und Mama war außer sich vor Sorge. Papa versuchte ihr klarzumachen, dass sie ein wenig Schlaf brauchte, versprach ihr aber, dass sie gleich frühmorgens losfahren würden.

Ich wollte sie begleiten, doch Mama bestand darauf, dass ich zu Hause blieb. Während sie unruhig durchs ganze Haus lief und packte, befahl Papa einem Pferdeknecht, die Reisekutsche anzuspannen, und schloss sich im Arbeitszimmer ein, um ›ein paar Sachen in Ordnung zu bringen‹. Gegen Mitternacht hielt Mama es nicht mehr aus und verlangte, dass sie sich auf den Weg machten. Papa gab nach, weckte den Kutscher und sie fuhren los. Eine unglückselige Entscheidung, wie sich später herausstellte. Sie stießen mit einer schnellen Postkutsche zusammen und waren auf der Stelle tot.«

Benjamin sah sie bekümmert an. Welch ein tragischer Verlust. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, seine Eltern und Geschwister alle gleichzeitig zu verlieren. »Es tut mir wirklich sehr leid.«

»Mir auch. Aber ich danke Gott, dass der Unfall geschah, bevor sie die kleine Rose abgeholt hatten, sonst hätte ich sie auch noch verloren. Später erfuhr ich, dass Grace auf der Reise gestorben war. Zum Glück reisten sie mit einer englischen Gouvernante, die Grace für Rose eingestellt hatte. Als niemand zum Schiff kam, um sie abzuholen, ging die praktisch veranlagte Miss O'Toole in ein Gasthaus und besorgte für sie beide eine Fahrkarte für die Postkutsche. Als sie endlich auf die Insel kamen, war ich bereits außer mir vor Sorge; ich hatte vom Tod meiner Eltern erfahren, aber ich wusste nicht, was aus meiner Schwester und ihrem Kind geworden war.«

Isabelle drehte sich um und sah ihm in die Augen. »Sie sehen, Mr Booker, meine Ängste um Rose sind nicht ganz unbegründet. Ich habe alle meine Angehören verloren, während sie auf Reisen waren.«

Carlota warf ein: »Aber vergessen Sie nicht, Miss Rose wurde nicht hier auf der Insel geboren – der sogenannte Fluch gilt also nicht für sie.«

»Fluch?«, wiederholte Benjamin überrascht.

Miss Wilder machte eine abwehrende Handbewegung. »Ein paar der Dorfbewohner fingen an zu reden. Es hieß, auf unserer Familie ruhe ein Fluch, weil jeder Wilder, der die Insel verlässt, jung stirbt. Das ist natürlich völlig absurd, aber Sie können sicher verstehen, wie dieser Gedanke aufkam. Erst starb mein Bruder, dann meine Schwester, dann meine Eltern. Dabei verließen sie die Insel vor ihrem Tod gelegentlich, ohne dass ein Unglück geschah, und Rose tut dies ebenfalls, also sollte ich mir wohl keine Sorgen machen. Aber das tue ich trotzdem.«

Seine Gastgeberin ging zur Tür. »Wir lassen Sie jetzt in Ruhe essen, Mr Booker. Wenn Sie noch etwas brauchen, klingeln Sie einfach.«

»Danke, das tue ich.«

Die Frauen wollten das Zimmer verlassen, doch Benjamin rief ihnen noch nach: »Was ist mit Percival Norris?«

Isabelle Wilder drehte sich um. »Was soll mit ihm sein?«

»Er hat auch zur Familie gehört, oder nicht? Er war doch Ihr Onkel?«

»Genau genommen war er nur Vaters Großcousin. Wir haben ihn nur aus Respekt vor seinem Alter ›Onkel‹ genannt.«

»Ist er auf Belle Island geboren?«

»Nein. Warum fragen Sie?«

»Nun ja, dem Anschein nach bezog sich der Fluch auch auf ihn.«

Das Geheimnis von Belle Island

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