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Freitag, 27. April 2012

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Es war ihm niemals darum gegangen, Polizisten zu beleidigen oder Sachbeschädigungen gutzuheißen. Das war nur ein mehr oder weniger unerwünschter Nebeneffekt. Keiner von ihnen hatte Spaß daran, in bitterer und nasser Kälte des Spätherbstes in Gorleben all das zu tun, nein. Es ging darum, ein Zeichen zu setzen; die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass durch unverantwortliches, menschliches Handeln radioaktiver Müll entstand, der quer durch Europa gekarrt wurde und Deutschland nie wieder verlassen sollte. Aber dass Deutschland ihn dafür bestraft sehen wollte, weil er das Richtige tat, musste an die Öffentlichkeit. Er wollte alles dafür tun, dass sein Strafprozess in die Öffentlichkeit rückte, dass Fernsehteams und Reporter die Verhandlung verfolgten und alle Medien darüber berichteten. Und Christine hatte es verhindert. Niemand würde sich jetzt noch für seine Gesinnung, seine Gedanken, seine Erklärungen und seine Gefühle interessieren, schon gar kein Reporter.

Ende Februar hatte sie ihn in seiner Wohnung besucht, braungebrannt und ungemein fröhlich. Sie erzählte von ihrem Freund, von herrlichen Stränden und blaugrünem Meer und merkte gar nicht, wie oberflächlich sie geworden war. Er zeigte ihr den Strafbefehl, der seinen Widerstand gegen die Polizisten, die ihn gewaltsam von den Schienen wegtragen mussten, in einer Geldsumme bezifferte. Mit Enthusiasmus schilderte er ihr seinen Plan. Er hatte in den letzten Wochen intensiv daran gearbeitet: Deutschland sollte auf ihn sehen, wenn er im Gerichtssaal stand und darauf aufmerksam machte, wie furchtbar kurzsichtig der Staat war. Ein Staat, der noch immer auf Atomenergie setzte und radioaktiven Müll produzierte, der zahlreiche Generationen überdauern würde, ohne etwas an seiner Gefährlichkeit einzubüßen. In seiner öffentlichen Gerichtverhandlung würde er die Gelegenheit nutzen aufzuzeigen, welch Wahnsinn in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt betrieben wurde, in dem der Mensch sein Bedürfnis nach Energie über die Belange der Natur stellte. Christine hörte ihm kopfschüttelnd zu. Sie sagte dauernd, dass das der falsche Weg sei. Er würde sich selbst ruinieren, lächerlich machen und der Sache damit nicht dienen. Er hielt dagegen und zeigte ihr sein Werk. Er hatte lang für den Text gebraucht. Es war eine Mischung zwischen Pressemitteilung, offener Brief und Pamphlet, für Behörden, Ämter, Firmen und natürlich für die Zeitungsredaktionen und Fernsehanstalten gedacht. Nicht nur für die in Deutschland, sondern auch für alle Staaten, die an diesem Wahnsinn mitarbeiteten. Für Frankreich hatte er eigens eine französische Übersetzung anfertigen lassen. Christine sah auch Exemplare in englischer, italienischer, polnischer, russischer und in drei weiteren Sprachen, die sie nicht zuordnen konnte. Levin hatte bereits Kopien gefertigt. Der Stapel war fast kniehoch. Seit gestern stellte Levin sämtliche Adressen zusammen, um sein Werk per Post zu verschicken. Dadurch versprach er sich eine höhere Aufmerksamkeit bei den Adressaten. E-Mails würden möglicherweise im Spamordner landen. Levin reichte Christine das Papier. Seine Fingernägel hatten einen dunklen Rand. Egal, mit wieviel Seife er die Nägel bürstete, als Gärtner ließen sich die Spuren seiner Arbeit nie ganz beseitigen. Christine nahm sich Zeit, den Text gründlich zu lesen. Sie griff nach ihrem Handy. Für einen Augenblick lang glaubte Levin, er würde sie mit weiteren Adressen versorgen. Christine hatte gute Kontakte. Vielleicht rief sie jemanden an, der sich mit Marketing und Verbreitung gut auskannte? Oder schrieb sie wichtigen Personen eine SMS? Mit Christine im Boot würde er die stürmische Reise in die Öffentlichkeit meistern und für einen Empfang im Hafen sorgen, über den man noch lange sprechen würde. Sie ließ sich den Strafbefehl mit der Zahlungsaufforderung geben. Es dauerte fast drei Minuten, bis Levin merkte, dass Christine etwas anderes tat.

„Die Staatsanwaltschaft wird dich jetzt in Ruhe lassen“, sagte sie. „Lass du sie auch in Ruhe!“

Sie hatte die Geldstrafe online mit ihrem Handy überwiesen.

Erst wich das Blut aus seinem Gesicht, um einen Augenblick später heiß kochend zurückzukehren. Mit ungewöhnlich donnernder Stimme warf er ihr Verrat vor. Christine gab das gleiche zurück. Doch Levin wusste nicht, wovon sie sprach.

„Ich habe Conny getroffen. Bei Visionwunder. Das ist die Firma, bei der ich mich beworben habe.“

„Und?“

„Sie war zeitgleich mit mir zum Bewerbungsgespräch eingeladen.“

Levin erinnerte sich, seiner Schwester davon erzählt zu haben. Doch dass Conny sich daraufhin selbst bewarb, war ihm neu.

„Ich kann nichts dafür, dass sie in der gleichen Branche arbeitet wie du“, antwortete er patzig. Er sah in ihre blauen Augen. Sie verengten sich zu schmalen Schlitzen, als sie weitersprach.

„Von der freien Stelle bei Visionwunder konnte sie nur durch dich erfahren haben. Die Stelle war noch gar nicht offiziell ausgeschrieben! Du weißt, wie wichtig mir der Arbeitsplatzwechsel ist! Und dann sorgst du für meine Konkurrenz!“

Jetzt wurde Levin der Zusammenhang klar. Wie konnte er sich in der langjährigen Freundin nur so irren? „Deswegen hast du meine Strafe überwiesen! Du willst dich an mir rächen, weil ich Conny von der freien Stelle erzählte. Deswegen ruinierst du meinen Plan!“

„Was?“ rief Christine verständnislos.

Mit der Kraft einer Gärtnerhand schlug er auf die Holzplatte des Tisches, dass die Gläser klirrten. „Du denkst nur an Geld und Arbeitsstellen! Für das Wohl unserer Erde interessierst du dich in Wirklichkeit gar nicht. Du bist rücksichtslos wie all die anderen Kapitalisten und Schlipsträger, die unserer Erde schaden!“

Christine stand auf, nahm wortlos ihre Jacke vom Garderobenhaken und ging. In Levin tobte feurige Wut. Wut auf Conny und noch mehr Wut auf Christine. Er wollte Christine nie wieder sehen und darin hart bleiben. Er löschte die Kontaktdaten aus seinem Mobiltelefon, vernichtete E-Mails, zerriss Fotos. Jedes Mal, wenn sein Blick auf die zahlreichen Kopien fiel, fühlte sich die neue Härte gut und richtig an. Doch nach wenigen Wochen vermisste er die alte Freundin schmerzlich. Sie trug Schuld daran, dass die Behörden und Politiker so weiter machen würden, wie bisher. Die Umweltverschmutzung durch Müll, die Verseuchung durch Chemikalien, die Verstrahlung durch radioaktives Material und letztlich die Vernichtung von natürlichem Lebensraum schritten unaufhörlich weiter voran – und Christine wechselte die Seiten! Sie unterstützte jetzt das System, statt die Idee. Er redete sich ein, sie wisse nicht, was sie getan hatte. Vielleicht war ihr neuer Kapitalisten-Lover an ihrer Wandlung schuld? Levin haderte. Er sollte ihr verzeihen. Doch tief in sich spürte er, dass er noch nicht verzeihen konnte. Er hatte alles versucht, war sogar am See gewesen, um mit sich wieder in Einklang zu kommen. Aber dieses Mal half ihm das Wasser nicht. Statt befreit und heldenhaft aus dem Wasser empor zu steigen, war er ein Idiot, der sich bei Temperaturen von knapp über Null Grad in einem Waldsee beinahe eine Lungenentzündung holte. Wie viele Tage waren vergangen? Wochen? Monate? Die Hoffnungslosigkeit, die Welt und ihre Schönheit noch retten zu können, überfiel ihn und Schmerz breitete sich in ihm aus. Der Schmerz begrüßte ihn nach dem Aufwachen, begleitete ihn den Tag über und ging mit ihm zu Bett. Eines Morgens ging Levin nicht mehr zur Arbeit. Ihm fehlte die Kraft, sich aus dem Bett zu erheben. Er wünschte sich so sehr, Christine würde sich melden. Sie würden sich in die Arme nehmen und neue Projekte planen. Aber das tat sie nie.

Und jetzt wusste er warum. Sie konnte es nicht mehr, nie wieder. Und dieses Wissen färbte die Wolken seiner Welt schwärzer als alles, was er je zuvor gesehen hatte.

***

Levin Hönig war kein Täter. Nur ein depressiver Sonderling mit verletzten Idealen. Nachdem Manfred Keller und Tim Fuchs sich vergewissert hatten, dass seine Schwester nach ihm sehen würde, verließen sie seine Wohnung. Die Hönig-Geschwister konnten als Täter ausgeschlossen werden.

„Das bedeutet“, fasste Manfred Keller während der Rückfahrt in die Detektei zusammen „dass Sie um die Einschleusung in das Unternehmen Bayerisch Media nicht herum kommen. Wir brauchen die internen Informationen. Bald.“

Tim wusste noch nicht, ob ihm das gefiel. Er fuhr Herrn Keller heim und stellte das Auto in der Detektei ab. Die warme Abendsonne tauchte die Welt in ein freundliches Gelb. Das erste Mal seit Monaten ließ Tim die Mütze im Rucksack stecken, bevor er sich auf sein Fahrrad schwang. Im Gepäck hatte er ein paar Liebesromane und eine Schachtel Zigaretten.

„Hallo, ich bin Tim!“ sagte er sanft.

„Hallo. Ich bin Konrad. Sind Sie der neue Pfleger?“

„Nein, das ist Bojan. Ich bin Tim. Ich komme Sie besuchen! Wo ist Maria?“

„Maria, heidernei, war das ein Feger.“

„Wo ist sie?“

„Nicht da. Ich bin da. Haben wir uns schon einmal gesehen?“

Tim sank das Herz. Die Frau, welche ihm gegenüber saß, war heute wieder so verwirrt, dass er keinen Zugang zu Maria kriegen würde.

„Ja, gestern!“ sagte Tim.

In ihrem Gesicht versuchte er, irgendwelche Ähnlichkeiten festzustellen. Aber da war nichts. Nichts an dieser Frau erschien ihm irgendwie ähnlich. Sie trug allerdings wieder auffällig viel Makeup.

„Ich war mit Ihnen im Garten und später habe ich Ihnen eine Geschichte vorgelesen.“

„Ah, vorlesen, wie schön!“ schwärmte die Rothaarige. Eigentlich müsste man Orangehaarige sagen, dachte Tim, denn die Haarfarbe war wirklich karottig. Das war mit Sicherheit keine Naturhaarfarbe. Möglicherweise war sie früher vielleicht echtrothaarig gewesen?

„Maria hat mir immer vorgelesen. Ich kann leider nimmer selbst lesen, meine Augen wollen nimmer.“

„Ich hab Ihnen etwas mitgebracht. Schauen Sie mal. Das sind lauter Romane. Wie der, den wir gestern gelesen haben. Nur etwas länger. Wollen Sie es hören?“

Die alte Dame nickte.

Und dann setzte sich Tim in das kleine Zimmerchen im Altenheim auf einen Stuhl, während Frau Maria Tann alias Konrad eingekuschelt im Sessel saß und den billigen Liebesromanen vom Kiosk lauschte.

Mutterherz Teil 3

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