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Samstag, 28. April 2012

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Ein 7,5 Tonnen Laster mit Münchner Kennzeichen blockierte einen Fahrbahnstreifen der Moltkestraße komplett. Er war nur zweiachsig, hatte aber eine elektrische Ladeklappe, die immer wieder rauf und runter fuhr, während polnisch und tschechisch sprachige Möbelpacker ein Möbelstück nach dem anderen aufluden. Tim drängte sich ins Treppenhaus, vorbei an weiteren Helfern, welche Kisten über die steinernen Stufen aus der Wohnung trugen.

„Herr Fuchs!“ hörte er eine freundliche Stimme.

„Frau Wagner, Grüß Gott, wie geht es Ihnen?“ fragte Tim und bereute die Frage sofort. Frau Wagner tat das, was er befürchtet hatte und was sie unermüdlich beherrschte: Sie quasselte.

„Danke, danke! Mit dem Kreuz hab ich’s und seit neuestem mit der Blase… Keine schöne Sache, keine schöne Sache, sag ich Ihnen. Bin ganz unglücklich darüber. Zum Internisten muss ich, oder? Oder geht man da zum Urologen? Blasenentzündung und das in meinem Alter… man glaubt es nicht, aber stellen Sie sich vor, ich kann keine Nacht mehr durchschlafen, weil ich so oft aufstehen muss. Ich hab bestimmt schon zwei Liter Nieren- und Blasentee getrunken, muss davon aber nur noch mehr aufs Klo.“

„Aber das spült alles durch und schwemmt die Bakterien hinaus. Falsch ist es auf keinen Fall!“ unterbrach Tim freundlich und bewegte sich einige Schritte weiter auf die Tür von Frau Deubachers Wohnung zu. Einer der Möbelpacker bat ihn, zur Seite zu gehen und Tim wich einer Anrichte aus.

„Heute räumen s‘ alles aus, gell? Die arme Frau Deubacher, so eine nette Nachbarin. So traurig ist das, mei. Ich hab übrigens die Putzfrau wieder getroffen.“

„Die Putzfrau von Frau Deubacher?“

„Ja, die nette Dame aus Sarajewo.“

„Und wo?“

„Oh, wir haben zusammen im Wartezimmer gesessen. Sie hat eine Tochter im Rollstuhl mit ganz verdrehten Füßen! Die ist auch sonst nicht ganz gescheit und muss ganz oft zum Arzt. Ich hab sie dort getroffen. Bei meinem Orthopäden in der Grottenau. Ich hab es doch mit dem Kreuz, hab ich das schon erwähnt? Ist eben nimmer dasselbe, ob man 30, 40 oder 80 ist…. Bei mir steckt es buchstäblich in den alten Knochen.“

„Haben Sie gefragt, wie sie heißt?“

„Wie sie heißt? Nein, ich habe sie nicht gefragt.“

Tim seufzte still für sich. Es wäre auch zu schön gewesen! Er wollte sich verabschieden, um in die Deubacher Wohnung zu kommen. Doch Frau Wagner war mit dem Gespräch noch nicht am Ende.

„Aber die Sprechstundenhilfe hat sie aufgerufen. Slavica heißt die Tochter, das weiß ich sicher. Und die Mutter… Gesichter vergesse ich nie. Aber Namen? Jetzt hab ich es. Alpia irgendwas, glaub ich.“

„Alpia?“

„Ja, ist nicht so häufig bei uns in Deutschland. Ich dachte noch, sie heißt wie eine Schokoladentafel! Aber der Nachname…?“

„Würden Sie mich anrufen, wenn es Ihnen einfällt?“ bat Tim und schrieb seine Telefonnummer auf einen Zettel.

„Ja, gern! Und dann kommen Sie mal wieder zum Kaffee vorbei!“

In der Wohnung waren diverse Helfer dabei, Christine Deubachers Hab und Gut in Kisten zu verstauen. Es dauerte einen Augenblick, bis Tim Silvia zwischen den vielen fremden Personen entdeckte. Die goldenen Haare wurden durch ein Zopfgummi streng am Hinterkopf festgehalten und explodierten in einem Lockenwust hinter ihr. Sie trug zitronengelbe Gummihandschuhe, hatte die dunkelblaue Bluse bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und schrubbte die Kacheln im bereits leergeräumten Badezimmer mit einem Schwammtuch. Die Fliesen waren schon ganz blank, aber Silvia schrubbte, als könne sie damit ihre Schwester ins Leben zurückholen.

„Guten Morgen“, sagte Tim und sie drehte sich um.

„Tim!“ sagte sie mit viel Sehnsucht in der Stimme und Tränen in den Augen. Sie umarmte ihn. „Schön, dass du da bist!“

Ihre Lippen berührten sein Ohr. Im gleichen Augenblick spürte er Gänsehaut von seinen Oberschenkeln bis zum Haaransatz. Ihr betörender Bann nahm ihn sofort wieder gefangen. Er war ein ganzes Stück größer als sie und hielt sie beschützend fest. So musste sich ein Prinz fühlen, welcher auszog, um eine Prinzessin zu retten. Es war einfach, sich neben jemandem, der Schwäche zeigte, stark zu fühlen. Plötzlich löste sie sich und zog verlegen die rechte Schulter nach oben. Sie bemerkte, dass sie noch immer ein Schwammtuch in der Hand hielt.

„Es gibt mir das Gefühl, etwas unter Kontrolle zu haben“, sagte sie entschuldigend. Ein paar mögliche Antworten gingen Tim durch den Kopf. Etwas, wie: Du musst dich nicht rechtfertigen. Oder: Das ist hier schon sauber genug. Oder: Ich helfe dir. Er sagte nichts dergleichen. Er hörte nur zu.

„Die Wohnung aufzulösen, das ist noch einmal ein Abschied.“ Ihre Stimme war ganz leise. „Ihr ganzes Leben in ein paar Umzugskartons. Das ist schon merkwürdig. Da verbringt man mehr als 30 Jahre auf der Erde und zurück bleiben nur ein paar Kisten. Ich hatte Glück. Der Vermieter hat sich darauf eingelassen, das Mietverhältnis jetzt im April schon zu beenden, obwohl ich erst im März gekündigt habe. Und jetzt hatte ich wieder Glück, noch ein Umzugsunternehmen zu finden, das am Wochenende den ganzen Hausrat in die Schweiz fährt. Ich hab den Flieger hier und kehre sonntagabends zurück und nehme Montag früh die Sachen entgegen.“

Tim nickte. Silvia streifte sich die Handschuhe ab und ging mit Tim durch die Wohnung. „Es stecken so viele Geschichten hinter den einzelnen Gegenständen. Viele Dinge kannte ich und vieles verrät mir erst jetzt etwas über sie. Ich dachte, wir hätten ein sehr inniges Verhältnis zu einander, so eng, dass sie mir alles sagen würde. Jetzt entdecke ich meine Schwester neu – und stelle fest, dass ich über sie fast nichts wusste. Sie war mir immer so aufrichtig und geradlinig erschienen. Gerade deshalb stieß sie ja immer so vielen Leuten vor den Kopf. Sie stand immer für ihre Ansichten ein. Und jetzt entdecke ich: Sie hat mir so viele Dinge nicht erzählt. Ich weiß nicht warum und kann mit ihr doch nicht darüber reden.“

„Über was zum Beispiel?“

„Sie hat mir nie verraten, dass sie sich doch in Papas Firma engagierte. Sie war Mitglied im Aufsichtsrat! Sie bewarb sich für die Nachfolge von Markus Wund als geschäftsführender Vorstand. Ich meine, das hätte sie mir doch erzählen können! Ich dachte, sie interessiert sich dafür noch weniger als ich! Sie hatte deswegen einen schrecklichen Streit mit meinen Eltern, ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.“

„Sie hat ihre Meinung geändert“, vermutete Tim, der von der Aufsichtsratstätigkeit längst wusste.

„Aber mir nie etwas verraten. Ob sie mich überraschen wollte? Sie wusste, dass sie meinen Eltern mit ihrer Kandidatur eine Freude machen würde – und damit mir. Dann hab ich noch etwas entdeckt.“ Sie griff in ihre Westentasche und zog etwas hervor, was Tim nicht gleich erkannte. „Sie hat merkwürdige Souvenirs behalten.“

„Was ist das?“ fragte er.

„Ein Schotterstein. Sie hat einen Schotterstein aus den Gleisen der Castorstrecke als Souvenir behalten.“

„Einen Schotterstein?“

„Ja, so nennt man sie doch, nicht? So einen der Steine, die ein Gleisbett füllen. Die zwischen den Schwellen der Schienen liegen. Sie war dabei. Ich wusste zwar, dass sie selbst bei den Castortransporten demonstriert hat. Aber sie war nicht alleine dort.“

„Ich weiß“, sagte Tim. „Sie war mit Levin Hönig dort. Er hatte ein Strafverfahren bekommen und sie hat ihm die komplette Strafe bezahlt.“

„Du wusstest das?“

„Ich bin Ermittler.“

„Levin Hönig. Sie sind vor Ewigkeiten in der gleichen Schule gewesen. Er war der Bruder ihrer damals besten Freundin und sie wollte in den Ferien lieber bei den Hönig-Kindern sein, als bei uns. Unsere Eltern waren nicht sehr glücklich über diese Freundschaft. Christine hat mir gegenüber nie erwähnt, dass sie noch Kontakt hat. Nicht mal, als sie mir von Gorleben erzählte. Als wolle sie ihn verschweigen. Aber ich hab Fotos gefunden. Er sieht ein wenig“ – sie suchte ein passendes Wort „alternativ aus.“

„Wir haben ihn als Tatverdächtigen ausgeschlossen. Ihn und seine Schwester.“

„Werdet ihr den Täter je finden?“ seufzte Silvia mit gequältem Gesichtsausdruck.

„Wir sind dran!“ beeilte Tim sich zu sagen. „Deduktion bedeutet, dass wir nach und nach die Personen in Christines Umfeld ausschließen. Ein paar Kandidaten haben wir noch.“

Tim blieb bei Silvia Hänggi, bis der letzte Karton herausgetragen war. Sie verabschiedeten die Möbelpacker und Tim kehrte eigenhändig die leeren Räume aus, weil er irgendetwas tun wollte. Kaum eine Viertelstunde später gab Silvia in Tims Beisein die Schlüssel an die Vertretung der Hausverwaltung ab. Tim besah sich noch einmal die leeren Räume, die nach Reinigungsmittel rochen. Nichts erinnerte mehr an Christine Deubacher und ihr schreckliches Ende. Seine Schritte hallten merkwürdig laut. Das hier war der erste Tatort seines Lebens gewesen. Silvia unterschrieb, was zu unterschreiben war und sah beim Verlassen nicht zurück. Das Kapitel Wohnung in der Moltkestraße war endgültig zu Ende.

Mutterherz Teil 3

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