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Donnerstag, 03. Mai 2012

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Der zweite Tag in der Bayerisch Media begann vielversprechend. Am Vormittag hatte Tim Gelegenheit, sich die kompletten privaten Daten von Dr. Heldmanns Festplatte und seinen elektronischen Kalender zu kopieren ohne aufzufallen. Nun trug er den Stick mit den Daten in seiner Hosentasche und musste sich das Grinsen verkneifen. Und noch etwas anderes hatte seine Stimmung sehr erhellt. Die Sensation war ihm in aller Heimlichkeit gelungen. Er fand das IPhone von Christine Deubacher. Es lag in der unverschlossenen Schublade des Schreibtisches in Dr. Heldmanns Büro. Zuerst war er sich nicht sicher. Es war ein weißes IPhone, schlicht, ohne Hülle. Tim probierte, es einzuschalten. Natürlich war der Akku leer. Tim steckte es in seine Tasche und fragte Frau Bayerl unschuldig nach einem Ladegerät. Sie zog ein IPhone-Ladekabel hervor.

„Für Frau Deubacher hab ich das Kabel oft gebraucht. Sie und ich hatten hier in der Firma als einzige ein IPhone. Die anderen Mitarbeiter haben Sony Ericson und Samsung. Dr. Heldmann hat ein Blackberry. Daher hab ich sicherheitshalber auch hiervon das Ladekabel in der Schublade!“

Sie wies auf ein anderes, schwarzes Kabel hin. Tim nahm das weiße IPhone-Kabel und bedankte sich. Entspannt und beschwingt ging Tim in die Mittagspause.

Am Ende der Mittagspause wollte Tim gemütlich an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, als sie ihm begegnete. Während er den schweren Griff der Kantinentür herunterdrückte, drängelte sich eine dunkelhaarige Frau mit beigem Pullover und Pferdeschwanz an ihm vorbei. Sie wandte sich ihm kurz zu und bedankte sich mit einem Lächeln. In Tims Gehirn blitzte es auf und sein Gedächtnis meldete Alarm. Sie hatte unfassbar weite Zahnlücken. Irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen, irgendwo außerhalb der Agentur. Obwohl die Dame sich sehr beeilte, verlor er sie nicht aus den Augen. Sie wartete bei den Aufzügen und als sich die Aufzugtüre öffnete, drückte sie einen Knopf. Aufgrund der Höhe des Knopfes schloss Tim, dass sie in die 4. Etage wollte und er nahm die Treppe. Vierte Etage, überlegte er. Was um Himmels Willen wollte sie dort? Dort war nichts, außer einem großen Foyer, dem großen Konferenzsaal, die Materialkammer und die Putzkammer. Oben angelangt, sah er sich verunsichert um. Hatte er sich doch im Stockwerk geirrt? Kein Mensch war zu sehen. Heute fand keine Konferenz oder Präsentation statt. Er holte tief Luft und trat vor die Aufzugstür.

„Bing, vierter Stock!“ klang es aus dem blechernen Aufzugslautsprecher und Tim sprang zur Seite. Er versteckte sich hinter einem Wandvorsprung und sah, wie die Dunkelhaarige mit wippendem Pferdeschwanz aus der Aufzugskabine trat. Tim wartete einen Augenblick, beugte sich vor, aber sie war schon verschwunden. Mist, dachte er. Wenn hier wenigstens andere Leute gewesen wären! Dann hätte er sich viel unauffälliger bewegen können. Was aber sollte er antworten, falls sie ihn fragte, was er hier oben zu suchen hatte? Vielleicht irrte er sich und sie war gar nicht wichtig. Doch irgendetwas in ihm schrillte Alarm. Er musste herausfinden, wer sie war. Wenn er sich doch bloß erinnerte! Die große runde Uhr im Gang zeigte ihm, dass die Pause jetzt vorüber war. Er durfte seine Tarnung wegen der unbekannten Dunkelhaarigen nicht auffliegen lassen. Mit schnellen Schritten nahm er die Treppe nach unten.

„Na, so außer Atem?“ fragte Frau Bayerl freundlich und ihre Apfelbäckchen hoben sich.

„Ich wollte nicht zu spät kommen!“ stammelte Tim mit schuldbewusstem Blick.

„Sind Sie auch nicht. Sehr vorbildlich! Zu spät kommen, das sehen wir nicht so gerne. Genauso wie Toilettengänge während der Dienstzeit. Wir haben hier drei Pausen am Tag, jedenfalls in unserer Abteilung. Die Kreativen selbst, die halten sich ja nie an Uhrzeiten. Aber wir hier in der Verwaltung, wir brauchen das, schließlich halten wir mit unserer Arbeit den Betrieb zusammen. Ich hab schon Praktikanten gesehen, die alle Nase lang aufs Klo rannten. Das macht sich nicht wirklich gut.“

Tim nickte brav und nahm den Stapel der zu kopierenden Exemplare an sich.

„Die oberen müssen auf rotem Papier kopiert werden, das sind die Hausmitteilungen für die Schwarzen Bretter. Wir haben davon drei auf jeder Etage und noch eines vor der Kantine, für diejenigen, die ihre E-Mails nicht regelmäßig prüfen!“ Mit einem lustigen Zwinkern reichte Frau Bayerl ihm einen Schwung rotes Kopierpapier. Tim legte es unter die Kopiermappe und machte sich ans Werk.

Das Zimmer von Ed Poulsen war nach wie vor noch nebenan und Tim spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er an der geöffneten Tür dieses Mitarbeiters vorbei ging. Ed Poulsen telefonierte lautstark in einer Sprache, die Tim nicht erkannte. Na, dann war er wenigstens beschäftigt und störte sich nicht daran, wenn Tim wieder kopierte. Die Hausmitteilungen auf rotes Kopierpapier zu kopieren, war noch einfach, denn er konnte die Din A 4 großen Blätter in den Einzug legen und das weiße Papier im Schacht 1 gegen das rote tauschen. Drei auf jeder Etage machte bei vier Etagen zwölf plus eines für die Kantine. Während das Papier in der Maschine ratterte und Blatt für Blatt ausgeworfen wurde, überlegte Tim, woher er die Pferdeschwanzdame kannte. Im Geiste ging er die Orte und Personen durch, mit denen er die letzten Tage zu tun gehabt hatte. Nach Durchlauf des dreizehnten Exemplars der Hausmitteilung wechselte Tim erneut von rotes auf weißes Papier. Glücklicherweise telefonierte Ed Poulsen noch und konnte ihn nicht mit irgendwelchen Dingen traktieren. Sorgfältig legte Tim sich die Vorlagen aus der Kopiermappe zurecht. Frau Bayerl hatte mit gelben Post-it-Klebezetteln notiert, wie viele Kopien benötigt wurden. Es war mühselig, die Vorlagen zu kopieren. Sie hatten Vorder- und Rückseite und nur die Bilder durften farbig kopiert werden. Tim musste herum probieren, damit die Vorderseite auch die gleiche Richtung wie die Rückseite aufwies. Dabei musste er immer an die Dunkelhaarige mit dem Pferdeschwanz in der vierten Etage denken. Wo hatte er sie nur schon einmal gesehen?

Plötzlich fiel es ihm ein. Natürlich! Sie war ihm kurz begegnet, ganz kurz, als er Frau Wagner in der Moltkestraße besuchte. Die Aufregung pochte in seinen Schläfen. Er nahm die endlich gelungene Kopie aus dem Auswurfschacht und hatte dabei schon wieder vergessen, wie herum das Papier einzulegen war. Kaum zog er erneut den Vorlagenschacht auf, polterte es aus Ed Poulsens Büro: „Ja, sind denn die Praktikanten heutzutage selbst zum Kopieren zu blöd?“

Tim beeilte sich stumm. Die Pferdeschwanzdame arbeitete hier! Hier in der Bayerisch Media, der Firma des inhaftierten Tatverdächtigen eines Mordes. Konnte das ein Zufall sein? Wenn er nur herauskriegen könnte, wer sie war und was sie hier tat!

„Endlich!“ tönte es aus Ed Poulsens Büro, während Tim sich trollte. Als er die Tür zu Frau Bayerls Arbeitsplatz öffnete, weiteten sich seine Augen: Er erblickte den wippenden Pferdeschwanz am Ende des Ganges.

„Fein, dann können wir die Sachen ja gleich verteilen!“ sagte Frau Bayerl. Doch Tim schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, bin gleich wieder da!“ Er blickte in das verwirrte Gesicht der netten Sekretärin, der er den Stapel hinlegte. Er sah sich in der Pflicht, eine Erklärung hinterherzuschicken, bevor er aus dem Zimmer stürmte. „Ich, ich muss aufs Klo!“

Die Erklärung war dämlich, aber gerade knapp genug, um zu entdecken, wie die unbekannte Dunkelhaarige in eine Tür einbog. Schlagartig wurde ihm klar, was sie in der vierten Etage zu suchen hatte. Sie trug eine blaurote Kittelschürze und schob einen Putzwagen. Neben der Materialkammer im vierten Stock befand sich auch die Putzkammer, in der die Ausstattung für das Reinigungspersonal aufbewahrt wurde. Als Tim die Tür erreicht hatte, hinter welcher die Dame verschwunden war, blieb er unschlüssig davor stehen. Er las die Beschriftung „Damen-WC“. Sollte er ihr folgen? Das machte sich wahrscheinlich nicht gut. Gerade für einen Praktikanten, der ohnehin schon unangenehm aufgefallen war. Aber er konnte hier auch nicht stehen bleiben, bis sie wieder heraus kam. Das wäre noch auffälliger und auffällig werden, war das Letzte, was er wollte. Tim wandte sich um und drückte die Klinke der Herrentoilette nebenan herunter. Die Toiletten des Büros waren funktional und für eine Werbeagentur einfallslos. Die weißen Kacheln hätten auch in jedem anderen Verwaltungsgebäude angebracht sein können. Irgendwie hatte Tim sich es für eine so riesige Agentur wie Bayerisch Media exklusiver, schicker oder irgendwie kreativer vorgestellt. Er ging in eine Kabine und stellte sich nicht ans Pissoir. Na, wenigstens war das Toilettenpapier blümchenverziert. Tim verrichtete sein Geschäft und ließ sich viel Zeit dabei. Währenddessen lauschte er, ob sich im Nebenraum etwas tat. Abwechselnd wurden die Spülungen gezogen, worauf Tim schloss, dass die Putzfrau die einzelnen Toiletten reinigte und dann spülte. Er blickte auf die Uhr und seufzte. Er konnte nicht länger warten. Wie hätte er Frau Bayerl seine Abwesenheit erklären können? Er drückte die Spültaste und begab sich zu den Handwaschbecken. Dort bediente er sich mit reichlich Seife aus dem Spender, bis seine Hände durch rosaweißen Schaum kaum mehr zu sehen waren. Sein Blick fiel auf die Tür, an der ein weißer Zettel pappte. Mit zusammengekniffenen Augen begann er, die Schrift zu entziffern. Hierauf waren die Uhrzeiten der zuletzt durchgeführten Reinigungsarbeiten mit den jeweiligen Unterschriften der Putzkraft zu lesen. Die Toilette war am Vormittag um 10:00 Uhr von Frau Tanja Speicher geputzt worden. Ob das die Unbekannte mit dem Pferdeschwanz war? Obwohl er sich beim Händewaschen furchtbar viel Zeit ließ, verließ die Dame die Toiletten nebenan noch nicht. Resigniert stapfte Tim wieder zurück in das Büro zu Frau Bayerl. Kaum hatte er jedoch die Tür zu ihrem Büro geöffnet, sah er, wie sie ihren Putzwagen aus der Damentoilette schob.

Frau Bayerl blickte ihn prüfend an und Tim beschloss zugunsten seiner Tarnung das Zimmer nicht gleich wieder zu verlassen. „Wieder da“, kündigte er an und bemühte sich, Frau Bayerl nicht direkt anzusehen.

„Alles in Ordnung?“ fragte sie und Tim war sich nicht sicher, ob der Tonfall besorgt oder misstrauisch klang.

Er widmete sich sofort seinen Kopien und sortierte die Kopien vor sie hin, ohne auf die Frage einzugehen.

„Die Hausmitteilungen können gleich aufgehängt werden“, bestimmte Frau Bayerl und legte den kleinen Stapel wieder zurück. „Sind es denn genug?“

„Natürlich. Drei für jede Etage und eines für das Schwarze Brett an der Kantine.“

„Gut, dann können Sie sich gleich an die Arbeit machen!“ und damit schickte sie Tim wieder heraus. Froh, sich keine Ausrede überlegen zu müssen, nahm er die Blätter und ging. In Rekordzeit wetzte er durch die Abteilungen und hängte die Mitteilungen auf - und stellte am letzten Mitteilungsbrett im dritten Stock fest, dass ihm keine Exemplare für den vierten Stock mehr blieben. Mist. Wie konnte das passieren? Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. Bei vier Etagen zu je drei Schwarzen Brettern mussten es doch zwölf Exemplare sein? Natürlich! Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Es waren fünf Etagen. Er hatte vergessen, dass das Erdgeschoss nicht mit nummeriert war. Tim löste das letzte Blatt vom schwarzen Brett und wollte sich damit auf dem Weg zum Kopierer machen, als ihm einfiel, dass das bunte Papier bei Frau Bayerl im Büro lag. Tim pinnte das Schreiben wieder an. Es gab wohl keinen Weg drum herum, er musste zurück und ihr gestehen, dass er drei Seiten zu wenig kopiert hatte. Aber vorher musste er herausfinden, wer die Putzfrau war. Rasch begab Tim sich wieder in den ersten Stock und öffnete die Tür der Herrentoilette. Die Pferdeschwanzdame putzte gerade die Waschbecken. Tim warf einen Blick zur Tür. Es gab noch keinen neuen Eintrag auf dem Kontroll-Zettel. Er konnte nicht einfach untätig im Raum stehen bleiben und auf sie warten. Kurzerhand schloss Tim sich in der ersten Kabine ein. Die Putzfrau gehörte offensichtlich zu den gründlichen. Es dauerte und dauerte. Irgendwann war der Zeitpunkt überschritten, an dem ein normaler Mensch während der Arbeitszeit aufs Klo gehen würde. Tim spülte, verließ die Kabine und begab sich zu den Waschbecken. Wieder einmal drückte er reichlich Seife aus dem Spender und wusch die Hände mit medizinischer Gründlichkeit. Doch die Putzfrau reinigte die einzelnen Kabinen, ohne dass Tim sie zu Gesicht bekam. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Toilette zu verlassen und die Putzfrau in Ruhe putzen zu lassen. Ihren Namen hatte sie an der Tür noch immer nicht abgezeichnet. Grußlos verließ Tim den Raum. Im Gang war niemand zu sehen. Kurzentschlossen riss Tim die Tür zu den Damentoiletten auf.

An der Innenseite der Tür hing der Kontrollzettel. 13:00 Uhr, ein Kreuzchen bei Toiletten, eines bei Waschbecken, kein Kreuzchen bei Fußboden, Spiegel, Fenster und Türklinken und eine krakelige Unterschrift „Milka Krasnick“. Tim holte sein Telefon hervor und fotografierte den Zettel ab. „M. kommt!“ hieß es einmal in der Woche. „M.“ stand für Milka. Milka, die Putzfrau. Nicht „Alpia“, wie Frau Wagner dachte, aber Schokoladenname stimmte. Tim tippte die Nummer des Büros in sein Telefon ein.

„Detektei Keller, mein Name ist Lausitz, was kann ich für Sie tun?“ meldete sich eine charmante helle Mädchenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Hier ist Tim. Tim Fuchs!“

„Dacht ich es mir schon. So viele Tims rufen hier nicht an.“ Der Charme in der Stimme verwandelte sich in Geringschätzung.

„Ich muss mit Keller sprechen.“

Herr Keller kann gerade nicht.“

„Ich muss aber mit ihm sprechen. Es geht um die Putzfrau von Frau Deubacher.“

„Haben Sie Watte in den Ohren? Herr Keller kann jetzt nicht. Wie Sie wissen sollten, haben wir einen neuen Auftrag mit Observierungsverpflichtung. Herr Keller muss zu seinem Termin.“

„Das heißt er ist noch im Haus? Geben Sie ihn mir, schnell!“

„Das heißt, er ist so gut wie weg! Sie können es sicher auch mir ausrichten!“

„Ich will Herrn Keller sprechen, ich denke, es ist wichtig.“

„Was Sie denken, interessiert mich überhaupt nicht“ antwortete Franziska kühl. „Ich habe die Anweisung, keine Gespräche mehr durchzustellen. Und wenn Herr Keller zu mir sagt, ‚keine‘, dann stelle ich auch keine durch.“

„Himmel!“ fluchte Tim, der befürchtete, dass jeden Moment die Tür aufging und er erklären musste, weshalb er in der Damentoilette telefonierte. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Jedenfalls nicht genug, um mit Franziska Lausitz zu streiten.

„Ich hab die Putzfrau von Christine Deubacher gefunden. Ich weiß, wer es ist und wie sie heißt!“

Nach einem kurzen Klicken hörte Tim die schwungvolle Wartemelodie der Detektei. Endlich, dachte er. Nach wenigen Sekunden, in denen er dauernd befürchtete, auf dem Damenklo überrascht zu werden, klickte es erneut.

„Herr Keller will, dass Sie herausfinden, was mit M. ist.“

Tim war völlig perplex. Er wollte mit Keller selbst sprechen und nicht irgendwelches wirres Zeug von einer übereifrigen Assistentin ausgerichtet bekommen.

„Bitte?“

„Herr Keller will, dass Sie herausfinden, was mit M. ist.“

„Ähm, ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Ergründen, forschen, aufklären, entdecken. Sie können in Teeblättern oder im Kaffeesatz lesen, sie observieren oder ihr Umfeld befragen – es ist mir gleich. Herr Keller sagt, Sie sollen herausfinden, was mit ihr ist. Wir treffen uns morgen um 14:00 Uhr im Büro und er will Ergebnisse! Haben Sie das wenigstens verstanden?“

Die Tür zur Damentoilette öffnete sich.

„Hab ich!“ knurrte Tim und legte grußlos auf. Rasch versteckte er sich in einer Kabine.

Es waren zwei Damen, wie Tim schnell heraus hörte. Was war das für eine merkwürdige Angewohnheit von Frauen, immer zusammen aufs Klo zu gehen? Tim erkannte die Stimme der einen Frau - und ihm wurde siedend heiß. Warum war Frau Bayerl um diese Zeit auf dem Damenklo? Hatte sie ihm nicht eben gesagt, dass es während der Dienstzeiten nicht gern gesehen wurde? Die andere Stimme gehörte zu Frau Herbert aus dem Nebenzimmer. Er spitzte seine Ohren. Frau Bayerl suchte gar keine Kabine auf, sondern blieb vorne bei den Handwaschbecken stehen, während Frau Herbert hörbar verschiedene Kabinentüren aufriss. Mit Schrecken dachte Tim daran, dass er Turnschuhe in Größe 46 trug – keine Frau würde je so etwas tragen. Mit pochendem Herzen stellte er sich auf den Kloschüsselrand.

„Es ist schon traurig, dass unsere Firma den Leute von der Reinigungsfirma einen Stundenlohn von 16,00 € zahlt und wir dabei mit nicht einmal 12,00 € herumkrebsen. Und dass, obwohl wir schon zehn Jahre dabei sind.“

„Und dass, obwohl die Reinigungsleute oft schlampig arbeiten und wir sie immer kontrollieren müssen. Aber die Waschbecken hier, die sind in Ordnung!“

„Die ersten beiden Toiletten auch!“ sagte Frau Herbert. „Vielleicht kriegen sie die 16,00 € ja auch gar nicht ausbezahlt und das meiste geht an deren Firma. Weiß man‘s? Es könnte doch sein, dass man sie mit 8,00 € abspeist und der Rest ist Verwaltung.“ Sie wandte sich der anderen Seite zu. Der anderen Seite, in der sich die Kabine befand, in welcher Tim auf dem Toilettenrand stand. Sie riss die Tür auf. Vor lauter Schreck glitt Tim von der Schüssel und sein rechter Fuß geriet in den Ablauf.

„Was, was tun Sie da?“

„Mir, mir war schlecht“, stammelte Tim und zog den nassen Fuß heraus.

„Das ist die Damentoilette!“

„Das Herrenklo ist nebenan!“ sagte Frau Bayerl, die sofort herbeieilte. „Nur eine Tür weiter.“

„Bis dahin hab ich es nicht mehr geschafft!“

„So schlimm?“ diesmal klang es besorgt. Er kletterte herunter und nickte, sehr bemüht, krank auszusehen. Sein Fuß tropfte. Es war ein bisschen schwierig, da er knallrot geworden war, als Frau Herbert ihn entdeckt hatte. Ein bleiches Gesicht wäre überzeugender gewesen.

„Irgendwie hab ich das Kantinenessen nicht gut vertragen!“ behauptete er.

„Das glaub ich langsam auch“, sagte Frau Bayerl spitz. „Und ich hoffe für Sie, dass es tatsächlich das Kantinenessen ist – und Sie nicht generell an akuter Arbeitsunlust leiden. Gehen Sie nach Hause und kurieren Sie sich aus!“

„Danke“, stammelte Tim. „Morgen geht es mir wieder gut. Versprochen.“

„Das wünsche ich Ihnen!“

Tim ging aus der Tür. Sein Schuh triefte. Im Gang begegnete er Ed Poulsen, der ihn stumm anstarrte, als hätte er gerade einen Mann mit einem nassen Schuh aus der Damentoilette kommen sehen.

***

„Ihr Name ist Milka Krasnick, sie ist 47 Jahre alt, ca. 1,60 m groß, hat dunkelbraune Haare und trägt fast immer einen Pferdeschwanz. Sie hat eine auffällige Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Sie ist seit Anfang letzten Jahres angestellt bei Blitz & Sauber GmbH, einer riesigen Reinigungsfirma mit mehr als 150 Mitarbeitern, verdient 11,00 € die Stunde, während ihr Arbeitgeber 16,00 € berechnet und wird bei Bayerisch Media eingesetzt, aber auch in anderen Firmen. Sie gehört zu den guten und gründlichen. Ich hab ihre Dienstpläne von Bayerisch Media der letzten drei Monate kopiert. Ich glaube, dass sie bei Frau Deubacher schwarz arbeitete, denn bei unserem Mordopfer wurden nirgendwo Sozialversicherungsunterlagen gefunden. Frau Deubacher hat auch keine Betriebsnummer und dementsprechend keinen Minijobber beschäftigt, ich habe da angerufen. Unter dem Namen Milka Krasnick ist keine Firma gemeldet, so dass sie auch keine zu versteuernden Rechnungen gestellt hat.“

Tim lehnte sich zurück. Dabei fiel sein Blick auf die Wanduhr im Besprechungsraum der Detektei. Es war kurz nach zwei. Er war pünktlich und gründlich gewesen – und mit seiner Arbeit rundherum zufrieden.

„Gut gemacht“, lobte Keller und Tims Gesicht begann zu leuchten. „Wir werden uns Milka Krasnick noch etwas genauer ansehen. Frau Lausitz, Sie sind jetzt am Zug, ich will alles über Frau Krasnick wissen. Ich brauche die Privatanschrift, eine Kreditauskunft und alles, was wir sonst noch über sie kriegen können. Sie machen das. Sofort.“

„Warum ich?“ jammerte die Assistentin. „Das kann ebenso gut der Praktikant machen!“

„Weil Sie schon seit vielen Jahren Erfahrung haben, ich davon ausgehe, dass Sie die Sache gut ausführen werden, Sie die schönste Frau im Büro sind, es nie schadet, ein bisschen Demut zu üben… suchen Sie sich etwas aus, aber beeilen Sie sich! Ich will die Ergebnisse so schnell wie möglich!“

Franziska nickte. „Okay.“

„Herry, bitte geh noch einmal die Deubacher-Festplatte durch, ob du irgendwas über Milka Krasnick oder jemanden, der so ähnlich heißt, findest. Es kann sein, dass sie ein Pseudonym benutzt hat. Und check auch die neuen Daten, die Tim von der Heldmann-Festplatte und dem Deubacher-IPhone mitgebracht hat.“

„Mach ich!“

Herry hinkte hinter Franziska her und ließ Manfred Keller allein mit Tim zurück.

„Fuchs?“

Missmutig sah Tim auf. Warum gab er Franziska und nicht ihm die Aufgabe, über die von ihm entdeckte Verdächtige Informationen zu besorgen? Aber vielleicht hatte Herr Keller noch etwas anderes mit ihm vor, um ihn für seinen Ermittlungserfolg zu belohnen?

„Fuchs, Sie können sich jetzt an die neuen Kfz-Halter-Überprüfungen machen!“

Herr Keller drehte sich um und ließ den sprachlosen Tim zurück.

Nachdem er die zwölfte Halteranfrage erledigt hatte, sehnte sich Tim nach Nuray. Sie war wohl die einzige, die sich in dieser Aufgabe voll und ganz wieder fand und auch nach der 20. Eingabe noch immer mit Begeisterung dabei war.

„Entschuldigung“, hörte er eine Stimme und sah auf.

Franziska Lausitz stand in seinem Türrahmen.

„Ich bitte Sie nur ungern“, begann sie, doch Tim unterbrach sie sofort.

„Das glaub ich Ihnen“, konterte Tim kampflustig. Doch diesmal wirkte sie weder spöttisch, noch überlegen. Ihr hübsches Gesicht wirkte sorgenvoll.

„Ich kann hier noch nicht weg und meine Tochter muss dringend aus der Kita abgeholt werden und zur Oma gebracht werden. Deren Auto hat eine Panne und so kann sie Jolina nicht holen.“

„Was ist mit Ihrem Mann?“

„Der – der kann nicht“, sagte sie ausweichend.

„Öffentliche Verkehrsmittel?“

„Das kann meine Mutter nicht mehr pünktlich schaffen.“

„Dumm sowas.“

„Sie können mein Auto nehmen! Da ist ein Kindersitz drin. Sie können mein Auto auch über Nacht behalten! Ich werde morgen mit dem Bus fahren.“

Tim antwortete nicht sofort.

„Es ist ein Cabrio!“ sagte Franziska lockend.

„Und was sag ich dem Boss?“

„Ich hab Herrn Keller schon gefragt, ihm ist es lieber, dass ich mein Zeug hier fertig mache und Sie bitte, zu fahren. Er sagte, aufgrund Ihrer Überstunden sei das in Ordnung. Sie haben danach frei.“

„Sie erwarten, dass ich meine Überstunden nehme, um Ihre Brut abzuholen?“ Es klang aggressiver, als beabsichtigt. Tim tat sein Tonfall schon fast wieder Leid. Er rechnete fest mit einer patzigen Antwort. Aber Franziska sah ihn bittend an.

„Jolina kennt Sie bereits und wird mit Ihnen mitgehen!“

Tim schwieg.

Franziska Lausitz legte flehend den Kopf schief.

„Bitte!“

„Na, gut. Ich mach‘s!“

„Sie sind ein Engel!“

„Ach, du lieber Gott!“ entfuhr es Tim, über das unerwartete Kompliment erschrocken. Franziska lächelte schief.

„Nein, soweit würde ich jetzt doch nicht gehen. Ich ruf nur schnell in der Kita an und kündige Sie an.“

Tim sah auf die Uhr. Vorzeitig Feierabend. Das Kind abzuholen und zur Oma zu bringen würde nicht lange dauern. Und ein Auto zu haben, wäre wunderbar. Er wusste schon genau, wohin er damit fahren würde.

Mutterherz Teil 3

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