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ОглавлениеLangsam begann ich zu verstehen, was die Sammler so faszinierte. Wie erregend es war, diese Blätter in meinem Haus zu haben, zu wissen, daß die Gedanken des großen Mannes aus seinem Kopf in seinen Arm und aus seiner Feder darauf geflossen waren!
Plötzlich wünschte ich mir ebenso sehnsüchtig wie Booker, daß dieses Ding wieder dahin zurückgebracht wurde, wo es hingehörte. Zu meinem Pech fiel mir nur eine Person ein, die wissen konnte, wo das war – Beverly Alexander. Aber vielleicht war das doch nicht so ein Pech – warum sollte ich eigentlich nicht mit ihr reden? Ich konnte vielleicht behaupten, ich käme von der Bancroft Library und hätte gehört, daß sie das Manuskript hatte; wenn es auf legale Weise in ihren Besitz gelangt war, würde sie mir daraufhin unter Tränen von ihrem Kummer erzählen. Falls nicht, würde ich das an ihrer Reaktion erkennen.
Der Plan gefiel mir. Da sie keine Ahnung hatte, wer ich wirklich war, ging ich kein Risiko ein und konnte sie nach Herzenslust ausfragen.
Ein persönlicher Besuch bei ihr erschien mir plötzlich unbedingt notwendig – vielleicht würde sie mir ihre kummervolle Geschichte bereits am Telefon erzählen, aber ich würde mir niemals ein Bild von ihr machen können, wenn ich ihr nicht gegenüberstand. Und ich muß gestehen, daß mich die Neugier übermannte, die Stewardeß kennenzulernen, die ein Manuskript von so unschätzbarem Wert in ihrem Kleiderschrank aufbewahrte. Also kämmte ich mir die Haare glatt und stopfte ein Kissen unter mein Jackett. Um die Tarnung perfekt zu machen, wollte ich nur noch Polster in die Backen schieben, konnte mich dann aber doch nicht dazu überwinden.
Wie Sardis und ich bewohnten auch Isami und Beverly ein Zweifamilienhaus – allerdings teilten sie es sich noch mit den Bewohnern im Obergeschoß. Es war ein quadratischer Klotz im Noe Valley mit dem deprimierenden, faden Anstrich unter dem Dreck von mindestens zehn Jahren. Ich nahm meine Brille ab, als ich die Treppe hinaufstieg, und verwandelte mich in Langhorne Langdon von der Mark-Twain-Forschung der Bancroft Library. (Wenn Bev sich mit Mark Twain auskannte, würde mich der Name verraten, aber das war ein Teil meines meisterhaften Planes – sie würde nervöser werden und sich damit verraten, weil sie durchschaut hatte, daß ich Clemens’ zweiten Namen mit dem Mädchennamen seiner Frau kombiniert hatte.)
Eine Frauenstimme antwortete auf mein Klopfen: »Wer ist da?«
»Ich möchte Beverly Alexander sprechen.«
Die Tür öffnete sich sofort. Dahinter erschien eine bildhübsche Japanerin, die sehr verängstigt aussah. Und hinter ihr stand jemand, den ich zuallerletzt erwartet hätte oder sehen wollte. »Paul McDonald. Kommen Sie doch herein«, sagte Inspector Howard Blick vom San Francisco Police Department. »Haben Sie da ein Kissen unter ihrem Jackett?«
Dieser verdammte Blick! Das Ärgerlichste an ihm war, daß ich seine Unverschämtheiten nie verstand. Wollte er mir vorwerfen, ich sei zu fett geworden, oder machte er mich darauf aufmerksam, daß ich eigentlich kein Meister der Tarnung war? Ersteres, dachte ich und war kurz davor, mein Jackett aufzureißen und ihm das Kissen spaßeshalber auf die Füße fallen zu lassen. Aber Blick gehörte zum Morddezernat; seine Anwesenheit deutete daraufhin, daß Heiterkeit im Moment nicht angebracht war. Ich sagte: »Howard? Was für eine Überraschung.«
»Sehen Sie zu, daß Sie Ihren Wanst hier reinschieben!«
Das war noch so etwas, worüber man sich bei ihm ärgerte: sein Befehlston, den er auch dann anschlug, wenn es völlig unangebracht war. Aber das Schlimmste an ihm war – und das ging über ein bloßes Ärgernis weit hinaus –, daß sein Hirn auf der Spitze eines Feinmechanikerhammers bequem Platz gefunden hätte. Ich kannte ihn seit meiner Zeit als Polizeireporter, wo er Wutanfälle wie ein Orang-Utan bekam, wenn ich in meinen Berichten ein paar Worte benutzte, die er nicht kannte.
Ich hatte nicht vor, die Wogen zu glätten, aber ich wußte, daß ein Fluchtversuch zwecklos war, also schob ich mich in den Flur. »Ein Freund von Beverly?«
»Ein Freund eines Freundes.«
»Immer noch mit dieser tollen Kincannon-Tante zusammen?«
Kincannon-Tante? Ich hätte ihn am liebsten verprügelt, was vermutlich eine gute Idee gewesen wäre. Seit einer unglücklichen Begebenheit vor ein paar Monaten kannte er Sardis, und er wußte genau, daß man eine Frau wie Sardis nicht als »Tante« bezeichnete, schon gar nicht mir gegenüber. Aber ich zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und war stolz auf mich, daß ich ihm nicht auf den Leim gegangen war. »Ich meine«, sagte Blick, »Sie tauchen hier bei Beverly auf und so.« Er drehte sich schnell zu der Japanerin um. »Kennen Sie ihn, Miss Nakamura?«
Seine Stimme war so scharf, daß sie zusammenzuckte. Mehr als ein Kopfschütteln brachte sie nicht zustande. Er wandte sich wieder an mich. »Beverly ist tot, Dildo. Jemand hat sie letzte Nacht ausgepustet.«
»Nennen Sie mich nicht Dildo, Sie Dreckskerl.«
»Ich sagte, sie ist tot, Arschloch.«
»Kein Grund zu fluchen, Hosenscheißer.« Das hier war eine Gratwanderung. Wenn ich ihm noch ein Schimpfwort an den Kopf warf, würde Blick mich wahrscheinlich auf meine Rechte hinweisen, aber ich nahm an, daß ich diesen letzten Treffer noch landen konnte. »So benimmt man sich nicht vor einer Dame.«
»McDonald, verdammte Scheiße, was tun Sie hier?«
Ich sagte: »Miss Nakamura, Sie müssen nachsichtig mit ihm sein. Er steht unter Streß.« Sie sprang zur Seite, als ob ich sie von hinten erschreckt hätte.
»Sie kennen sie? McDonald, woher kennen Sie diese beiden Damen?«
Woher eigentlich? Das war genau die Frage, mit der ich mich herumplagte. Aber dann fiel mir etwas ein. »Wir sind uns noch nie begegnet, aber Sie haben ihren Namen doch selbst erwähnt, Inspektor.« Ich wandte mich an Isami. »Miss Nakamura, ich bin Paul McDonald. Das mit Ihrer – mit Beverly tut mir sehr leid.« Ich wollte Zeit gewinnen, um mir eine plausible Geschichte einfallen zu lassen, und endlich kam mir eine Idee.
»McDonald«, sagte Blick, »mir geht die Geduld aus.«
»Schon gut, schon gut. Ich hatte eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Sie sagte: ›Hier spricht Beverly Alexander. Sie kennen mich nicht, aber ich bin eine Freundin von einem Freund.‹ So ungefähr.«
»Von welchem Freund?«
»Die Dame hat seinen Namen nicht genannt.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Sie hat diese Adresse angegeben und mich gebeten, heute nachmittag hier vorbeizukommen, weil sie möglicherweise eine Story für den ›Chronicle‹ hätte.«
»Ach ja? Was für eine Story?«
»Hat sie nicht gesagt.«
»Hat sie nicht gesagt? McDonald, sind Sie so arm, daß Sie jemanden aufsuchen, den Sie nicht kennen, bloß weil die geringe Chance besteht, daß fünfzig oder hundert Dollar dabei herausspringen?« Er sah richtig angewidert aus. »Wie verkauft sich denn Ihr Buch? Wo Sie nach all den Jahren nun endlich doch eins veröffentlicht haben? Hat Hollywood schon angerufen?«
Ich starrte ihn mit unverhohlenem Haß an. Das war mein schwacher Punkt, nie wußte ich, womit ich Spots nächste Dose Katzenfutter bezahlen sollte.
Blick fuhr mit noch leiserer und häßlicherer Stimme fort: »Nicht einmal Sie sitzen derart auf dem Trockenen, um so etwas Verrücktes zu tun.«
Ich hatte die Schnauze voll – er hatte recht, nicht einmal ich. Aber in meiner Situation mußte ich meine finanzielle Notlage noch ärger und peinlicher darstellen, als es tatsächlich der Fall war. Und er hatte Oberwasser, egal ob ich log oder die Wahrheit sagte. Natürlich log ich: »Ich war neugierig.«
»Wann hat sie angerufen, Dildo?«
»Gestern. Sie wurde letzte Nacht umgebracht, richtig?«
»Woher, verdammte Scheiße, wissen Sie das?«
»Howard, ich fürchte, ich muß Sie wirklich bitten, auf Ihre Ausdrucksweise zu achten. Miss Nakamura ...«
»Beantworten Sie die Frage, verdammt nochmal!«
»Von Ihnen. Sie haben das gesagt. Vor einer Minute.«
»Zur Hölle, McDonald. Schieben Sie Ihren Arsch hier raus.«
Noch bevor er ausgeredet hatte, war ich schon Schnee von vorgestern. Und befand mich auf dem Weg nach Russian Hill, zu der eleganten Behausung von Booker Kessler, dem jugendlichen Einbrecher. Wie ich Booker kannte, war er sicher nicht allein – falls er überhaupt da war. Aber ich war zu aufgewühlt, um mich dadurch aufhalten zu lassen.
Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis er die Tür öffnete, und er trug lediglich eine Jeans, die er offensichtlich gerade übergezogen hatte, so daß ich seinen mageren, sommersprossigen Oberkörper mit dem spärlichen, zottigen Haarwuchs bewundern konnte. Sein rotes Haupthaar war zerwühlt, und er sah ungefähr wie siebzehneinhalb aus. In Wirklichkeit war der Kleine mindestens sechsundzwanzig und die Plage der Singles-Bars von San Francisco. In Anbetracht seines permanenten und durchschlagenden Erfolges bei Frauen war es erstaunlich, daß ihn noch kein eifersüchtiger Ehemann oder Liebhaber an der Ausübung seiner Leidenschaft gehindert hatte. Überhaupt war die ganze Sache erstaunlich. Ich bedauerte, daß er mir nicht nackt die Tür geöffnet hatte. Dann hätte ich sehen können, ob er wie ein Ackergaul behängt war, was einiges erklären würde.
»Ich wußte nicht, daß du vorbeikommen wolltest, Paul.« Er gab sich große Mühe, erfreut auszusehen. »Möchtest du nicht hereinkommen?« Nach seiner Stimme zu urteilen, wäre es ihm sehr viel lieber gewesen, wenn ich mich in einen Frosch verwandelt hätte.
»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Beverly Alexander ist tot.«
Er sah beunruhigt aus.
»Ermordet.«
»Entschuldige mich bitte einen Moment.« Er wollte gerade gehen, als ihm anscheinend etwas einfiel, was ihm seine Mutter vor ihrer Wandlung zur Lesbe noch beigebracht hatte. »Setz dich doch. Wenn du ein Bier willst, bedien dich.«
Bier war nicht schlecht, wenn es das einzige alkoholische Getränk war, das er zu bieten hatte. Ich hätte etwas schärfere Munition vorgezogen; aber ich hatte keine Ahnung, wo ich danach suchen sollte. Probeweise steuerte ich den Kühlschrank an und fand darin acht bis zehn der besten Importmarken, neben einer ebenso beeindruckenden Auswahl an Senfsorten und Soßen für Eiskrem. Auf Regalen standen verschiedene Kaffee- und Teedosen. Die Kochtöpfe waren von Le Creuset, dazu die neuesten und besten Küchengeräte. Bookers Küche war wie das ganze Haus: nur vom Feinsten und davon reichlich.
Ich ging ins Wohnzimmer zurück, wo man Stunden damit hätte zubringen können, seine berühmte Kunstsammlung oder die Schallplattenkollektion zu betrachten, die fast eine ganze Wand einnahm. Seine Compact-Disks allein benötigten mehrere Regalfächer. Muß ich erwähnen, daß seine Audio-Ausstattung ein Prachtstück war? Die Sitzmöbel waren aus Leder, die Abstellflächen aus Glas, Schwarz und Weiß dominierten – um die Kunst besser zur Geltung zu bringen, meinte der Eigentümer. Ziemlich üppig für ein mickriges Gör – ein mickriges Gör, das soeben mit der Quelle seines unterbrochenen Nachmittagsvergnügens in der Tür erschien, einer großen, schlanken Schönen im schwarzen Lederrock mit dreifarbigem Haar. Sie und Booker küßten sich noch eine Ewigkeit. Ich erwog gerade ein Räuspern, als ich sie flüstern hörte: »Morgen?«
»Ich ruf dich an«, sagte Booker, und die Tür schnappte zu.
»Wie machst du das?« platzte ich heraus.
Er sah verwirrt aus. »Wie mache ich was? Ach so, Frauen. Ganz einfach. Ich arbeite daran.«
»Tut das nicht jeder?«
»McDonald, ich bitte dich. Entschuldige, aber ich bin Profi. Habe ich dir jemals meine Garderobe gezeigt? Ich weiß ganz genau, was ich wann anziehen muß. Ich weiß, welches Volk sich wo rumtreibt und wann’s ihnen zu langweilig wird und sie weiterziehen. Ich kann neue Leute riechen, bevor die Tinte auf ihrem Mietvertrag getrocknet ist, und ich weiß genau, was für ein Typ die Frau ist, die ihn unterzeichnet.«
»Lernst du nie ganz normale Frauen kennen – bei Ausstellungen oder solchen Gelegenheiten?«
»Wozu denn? Eine anständige Frau, die ich hierherbringe, würde mich doch nur für einen Dealer halten.«
»Meinst du damit, daß du nie eine echte Beziehung haben kannst?«
»Ich bemühe mich, McDonald, okay? Wozu bin ich wohl in Therapie?« Er redete so hitzig, daß mir seine Gekränktheit nicht entgehen konnte. Vermutlich hatte es auch Nachteile, wenn man mit sechsundzwanzig reich war, und ich hoffte, daß ich mich beim nächsten Mal daran erinnern würde, wenn ich Booker beneidete und das Leben eines Einbrechers verlockend fand.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Schon gut. Erzähl mir von Beverly. Wie geht’s Isami?«
»Nicht schlechter, als es dir gehen würde, wenn du einen Nachmittag mit Howard Blick verbringen müßtest. Ich weiß nicht, ob er sie verdächtigt. Ich weiß überhaupt nichts – ich wollte dir nur sagen, daß sie tot ist. Letzte Nacht ist es passiert«, fügte ich hinzu, wobei ich ihn genau beobachtete.
Er reagierte überhaupt nicht. Ich hoffte, daß es irgendwann zwischen sieben und zehn passiert war, als Booker mit Sardis und mir zusammen war, aber seiner Miene war nicht anzusehen, ob er daran dachte. »Wie ist sie umgekommen?«
»Weiß ich noch nicht. Nur, daß sie ermordet wurde.«
Er schwieg eine Weile. »Es geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte er schließlich. »Sie muß wegen dieser Sache umgebracht worden sein.«
»Wegen des Manuskripts?«
Er nickte. »Vielleicht sollte sie es irgendwo abliefern, und das konnte sie dann nicht, weil ich es gestohlen hatte. Oder irgend jemand wußte davon, wollte es stehlen und stellte fest, daß es nicht da war. Also tötete er sie bei dem Versuch, sie zum Reden zu bringen.«
»Hey, das solltest du nicht denken.« Das kam mir nicht vom Herzen. Ich dachte im Grunde dasselbe.
»McDonald, ich bin für den Tod dieser Frau verantwortlich.«
»Du weißt selbst, daß das ...«
»Es läßt sich nicht leugnen – genausogut hätte ich selbst den Finger am Abzug haben können.«
»Woher weißt du, daß sie erschossen wurde?«
Ich bekam wieder Gänsehaut, genau wie in dem Moment, als ich das Manuskript zum ersten Mal gesehen hatte. Aber Booker war anscheinend nicht aufgefallen, daß er sich gerade schwerwiegend belastet hatte. »Nur eine Redewendung«, sagte er, mit einer so endgültigen Handbewegung, daß ich ihm fast geglaubt hätte. Trotzdem nagte noch irgend etwas in meinem Hinterkopf.
»Es kann einfach kein Zufall sein«, fuhr er fort, »daß sie in der Nacht nach meinem Einbruch umgebracht wurde. Wir müssen den Mörder finden.«
Ich war der gleichen Meinung, hielt aber zu diesem Thema meinen Mund.
»Wir müssen den Mörder erwischen. Es geht nicht mehr bloß darum, das Manuskript zurückzugeben.«
Er hörte sich an, als ob er laut dachte. Ich fragte mich, ob ich abhauen könnte, bevor er aus seinen Träumereien erwachte.
»Paul, es ist mir egal, was es kostet. Schnapp ihn dir.«
»Ihn schnappen?«
»Oder schnapp sie dir, wenn du das meinst.«
»Booker, das ist eine große Sache. Meinst du nicht, du solltest dich an einen Profi wenden?«
»Einen Privatdetektiv? Wie soll das gehen? Ich brauche jemanden, dem ich die Wahrheit sagen kann. Außerdem hast du schon für einen Privatdetektiv gearbeitet und warst immer ein guter Reporter. Das reicht mir.«
»Vielen Dank für dein Vertrauen.« In Wahrheit hatte ich Panik. »Übrigens habe ich ein komisches Gefühl dabei, das Manuskript noch länger zu behalten, wo wir jetzt ziemlich sicher wissen, daß es wertvoll ist. Hast du so etwas wie einen Wandsafe?«
Wieder machte er eine wegwerfende Handbewegung – der Reichtum von Kindesbeinen an hatte ihn anmaßend gemacht. »Gib es in ein Bankschließfach.«