Читать книгу Eine ehrenwerte Familie - Julie Smith - Страница 4
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ОглавлениеWie in so vielen Städten Amerikas ist auch in New Orleans die Kriminalität Thema Nummer eins. Die jährliche Mordrate liegt so um die vierhundert und steigt stetig. Und dann werden jedes Jahr noch weitere zweitausend Menschen angeschossen, die ihre Verletzungen überleben.
Schlägereien gibt es dagegen kaum mehr, behaupten die Detectives der Mordkommission.
Wie üblich im Amerika der neunziger Jahre, ist die Polizei überarbeitet, unterbesetzt und unterbezahlt.
Die Weißen geben den Schwarzen die Schuld, und viele schaffen sich Schußwaffen an.
Die Schwarzen – und ein Großteil der zweitausendvierhundert jährlich Verwundeten oder Getöteten ist schwarz – haben das Gefühl, von allen Seiten unter Beschuß zu stehen; auch von ihnen bewaffnen sich viele.
Die Wirtschaft hat sich vom Einbruch des Ölpreises noch immer nicht erholt, aber es gibt Hoffnung. Das größte Kasino der Welt, dessen Baubeginn bevorsteht, könnte Arbeitsplätze schaffen und vielleicht jene Touristen anziehen, die die Stadt so dringend braucht – Leute mit geringer Intelligenz, aber um so mehr lockersitzendem Geld. Man wird mit dem Bau des Kasinos beginnen, sofern die Rangeleien über jedes Detail des Bauplans und künftigen Betriebs jemals ein Ende finden.
Kleine Gaunereien gehören in diesem Bundesstaat so sehr zum Alltag, daß die Einwohner von New Orleans den Touristen erzählen: »Louisiana toleriert korrupte Politiker nicht bloß, es braucht sie geradezu.«
Doch trotz Korruption und Kriminalität ist New Orleans unbestritten die schönste amerikanische Stadt; die anmutigste, die bezauberndste.
Auch die exzentrischste. Walker Percy, einer der bekanntesten Autoren der Stadt, hat festgestellt, daß »Touristen hier wahrscheinlich mehr Nonnen und nackte Frauen zu sehen bekommen als irgendwo sonst«, wobei der Reiz in der Kombination liegt. Aber Exzentrizität birgt Risiken: Auch in Louisiana ist Fahren unter Alkoholeinfluß verboten, und in New Orleans gibt es mehr als genug Alkoholiker – und dennoch blüht der Umsatz der Drive-in-Daiquiri-Bars.
Andererseits ist die zu Recht berühmte Extravaganz der Stadt auch ihr größter Reiz. Selbst wenn die Wohnviertel sich verändern, die Banden an Einfluß gewinnen und mehr und mehr Mittelstandsgattinnen eine Pistole in der Handtasche tragen. Transvestiten sind hier so willkommen wie Voodoopriesterinnen, und dasselbe gilt für Vampirschriftstellerinnen und Karnevalsprinzessinnen – solange sie nicht langweilen.
Wie in Mexiko und in der Karibik herrscht in dieser Stadt eine seltsame Mischung aus Improvisiertem und Archaischem – wobei letzteres immer noch eine größere Rolle spielt.
Aber vielleicht ändert sich auch das. In einer Lokalzeitung wurde kürzlich beklagt, daß immer weniger Leute davon sprechen, »einholen« zu gehen.
Oder nur noch selten den Bürgersteig als »Bankett« bezeichnen.
Immerhin haben ein paar der alten Gewohnheiten überlebt. Früher gab es montags überall rote Bohnen und Reis, weil Montag Waschtag war – man konnte die Bohnen aufsetzen und sich dann in Ruhe der Arbeit widmen. Und obwohl die Waschmaschine diesen Brauch sinnlos gemacht hat, folgen ihm immer noch etliche Restaurants. Und auch in einem illustren Haushalt, in dem dies sicher niemand vermutet hätte, im Haus von Sugar und Arthur Hebert, war er schon vor Jahren wiederbelebt worden.
Die Besitzer und Betreiber von Hebert’s (»A-Bear’s«, wird auf der Speisekarte den Touristen erläutert), einem Restaurant, in dem dieses Gericht nie angeboten wurde, waren der Ansicht, daß sie nach einer Woche mühevoller Arbeit an kreolischen Delikatessen nichts mehr genossen als Hausmannskost, und tischten dieses Gericht bei ihrem allwöchentlichen Familienessen auf – am Montag, ihrem Ruhetag.
Warum bloß? dachte Sugar, als sie an einem milden Juniabend Bohnen auftischte. Warum, wenn wir doch auch Krebssalat essen könnten? Warum Woche für Woche rote Bohnen und Reis und sonst nichts?
Warum?
Weil Arthur es so will. Und so ist es mit allem.
Warum haben Termiten das Haus beinahe aufgefressen? Weil Arthur es einfach nicht wahrhaben wollte. Warum hätte Nina beinahe gekündigt? Weil Arthur ein solcher Snob ist, daß er anfangs nicht mal mit ihr reden wollte.
»Mom, kann ich dir helfen?« Ihre Tochter Reed.
»Jetzt bin ich fertig.« Diese Hilfe hätte sie vor zwanzig Minuten brauchen können.
Die anderthalbjährige Sally saß bereits am Tisch, schaukelte auf ihrem Kinderstuhl und zappelte, um sich daraus zu befreien.
Dennis, Reeds Mann, versuchte ihr das auszureden.
Arthur entkorkte den Champagner.
Das war Arthurs kleine Ironie. Auch wenn er rote Bohnen mit Reis aß, er servierte immer einen hervorragenden Wein dazu. Und heute würden sie Champagner trinken, weil sie etwas zu feiern hatten.
Er schenkte ein.
»Ein Hoch«, sagte er, »auf la deuxième Hebert’s – ein Triumph gegen eine überwältigende Übermacht.«
»Möge unser Glück andauern«, sagte Dennis.
Arthur warf ihm einen Blick zu, der besagte: Was meinst du mit ›unser‹?
»Hört, hört«, rief Sugar, um die Wogen zu glätten.
»Wir haben’s geschafft«, stellte Reed fest. »Ich weiß nicht, wie, aber wir haben’s geschafft.«
»Auf daß du nie wieder eine Komiteesitzung ertragen mußt.«
»Darauf trinke ich.«
Ein Dutzend Restaurants – alteingesessene und neue – hatten um die Konzession für das Kasino gekämpft. Man wollte ein elegantes Restaurant, und es mußte Tradition haben, der Name mußte für die Touristen ein Begriff sein. Hebert’s erfüllte diese Bedingungen zweifellos, aber es stand gegen größere Namen – gewaltige Namen wie Antoine’s, Arnaud’s, Brennan’s.
Und doch hatten sie gewonnen.
Hebert’s hatte gewonnen. Reeds unermüdliches Pläneschmieden, ihre wiederholten Anfragen beim Komitee, die endlosen Abende, die sie der Planung des Restaurants und ihrer Strategie geopfert hatte, hatten sich bezahlt gemacht.
Sie ist ein Schatz, dachte Sugar. Der Stolz der Heberts, ganz sicher. Ein Wunder war geschehen, und Reed hatte es möglich gemacht.
»Es gibt noch was, auf das wir trinken sollten«, verkündete Dennis mit einem etwas schiefen Grinsen, ein wenig unsicher.
»Und auf was?«
»Arthurs Fünfundsechzigsten.«
»Herzlichen Glückwunsch, Daddy«, sagte Reed.
»Das haben wir doch schon hinter uns.«
»Feiern wir einfach noch mal.«
»Lieber nicht.«
Ach, sei doch kein Spielverderber. Sugar sprach es nicht aus, aber sie war verärgert; sie konnte es nicht ausstehen, wenn er Reed kränkte. Und Dennis zu kränken lief auf dasselbe hinaus.
Man sollte meinen, jetzt, wo Sally da ist, hätte er sich allmählich beruhigt. Aber er wird immer reizbarer. Ob er deprimiert ist? Fängt nicht Alzheimer so an?
Obwohl er so schlecht gelaunt war, tranken alle auf Arthur. Sugar brachte die Teller herein, wie jeden Montag, seit sie sich erinnern konnte.
Sally protestierte.
»Was ist denn, Kleines?« fragte Reed. »Was ist los? Hm. Rote Bohnen. Hm! Sallys Lieblingsessen.«
Arthur war verlegen. »He, Dennis, hör zu, da sind diese drei schwarzen Jungs, Jackson, Leroy und Clarence. Und Leroy sagt zu Clarence, also, er sagt...«
»Daddy, bitte nicht.« Reed zog ein gequältes Gesicht.
»Ach, Reed, immer mit der Ruhe – ich hab ja noch gar nichts gesagt.«
»Ich weiß jetzt schon, daß es einer von deinen Witzen wird, die ich nicht mag.«
»Na und? Muß denn immer alles so sein, wie gnä Frau es gern hätten?«
Verlegen senkte Reed den Blick.
»Du hast einfach keinen Sinn für Humor.« Er wartete einen Augenblick, aber niemand sagte etwas. »Oder?«
»Ich sehe einfach nicht ein, wieso du rassistische Witze erzählen mußt.«
»Ich bin kein Rassist, und das weißt du auch, Reed. Dennis stört das nicht. Dennis mag meine Witze, oder, Dennis?«
Dennis fletschte die Zähne, aber Sugar war nicht sicher, ob das wirklich ein Lächeln war.
»Immerhin behandle ich meine Angestellten besser als jeder andere im French Quarter. Und ich stelle Schwarze ein. Wer ist denn mein Stellvertreter im Restaurant – nicht nur eine Frau, sondern auch noch eine Schwarze! Und außerdem zahle ich die besten Prämien in der Branche. Also überleg dir lieber, wen du einen Rassisten schimpfst.«
»Ich finde solche Witze einfach unpassend, das ist alles.«
Um die beiden abzulenken, sagte Sugar: »Am Wochenende war wirklich viel los.«
»Reed hat am Samstag zwölf Stunden gearbeitet«, sagte Dennis. »Sally hat sich schon gefragt, ob sie überhaupt noch eine Mutter hat.«
Arthur schnalzte. »Dann hätte sie eben heimgehen sollen. Hätte eh keinen großen Unterschied gemacht.«
Reeds Stimme war ganz leise. »Ich tue, was ich kann.«
Sugar wußte, daß er es nicht ernst gemeint hatte – Reed war seit Jahren praktisch Leiterin des Restaurants; es war einfach seine Art zu reden.
»Außerdem«, meinte Reed, »kannst du dich bald ausruhen. Ab jetzt werde ich mich um alles kümmern.«
»Gott helfe uns.«
»Weißt du, was ich machen werde? Ich lasse das Restaurant cremefarben streichen – wie dieses Zimmer, wie euer Eßzimmer – und eine Menge Spiegel aufhängen.«
»Das wirst du nicht. Wir haben unsere Erfolgsformel gefunden – wieso sollten wir daran herumpfuschen?«
»Und ein paar Grünpflanzen. Ich möchte alles einfach nur ein bißchen modernisieren, auffrischen.«
»Wenn du Hand an Hebert’s legst, werde ich dich mal auffrischen, junge Frau.«
Reed ließ sich nicht entmutigen, sondern lächelte – sie war an solche Reaktionen gewöhnt. »Ich denke, beim Personal sind wir auch ein bißchen unterbesetzt. Wir hatten noch nie Kellnerinnen – ich werde ein paar Frauen einstellen.«
»Nein!« Ein Brüllen. »In einem Restaurant gibt es keine Kellnerinnen; Kellnerinnen sind was für Gaststätten.«
Sugar schaltete sich ein: »Immer mit der Ruhe, Arthur. Sie ist doch nur aufgeregt. Es braucht einige Zeit, bis sich alle umgewöhnt haben, wenn eine neue Chefin kommt.«
Auf der Geburtstagsfeier am Freitag zuvor hatte Arthur offiziell angekündigt, er werde in den Ruhestand treten und das Lokal seiner Tochter übergeben. Da Reed seit ihrer Teenagerzeit im Restaurant gearbeitet und Fachschulen besucht hatte, um dort zu lernen, wie man einen solchen Betrieb führt, ihr ganzes Leben lang nichts anderes als Hebert’s gekannt hatte, war dies der Höhepunkt ihrer Ausbildung und ihrer anstrengenden Arbeit.
»Und Reed schmiedet jetzt schon drei Tage lang Pläne – sie ändern sich nur alle paar Stunden.«
Reed selbst schien nicht zuzuhören. Sie sagte: »Daddy, was hältst du davon, einen Innenarchitekten dranzusetzen? Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich es wirklich nicht selbst versuchen.«
»Du wirst keinen Innenarchitekten dransetzen.«
Sugar hatte genug. »Sie kann machen, was sie will, Arthur. Reed ist jetzt die Chefin.«
»Na, ich glaube nicht, daß sie schon soweit ist.«
»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du ihr das Restaurant übergeben hast.«
»Ich habe es ihr nicht übergeben; das war nur Gerede.«
Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen, das Dennis schließlich brach: »Was meinst du mit ›nur Gerede‹?«
»Darf ein alter Mann nicht mal betrunken und sentimental sein? Ich war in guter Stimmung, wegen Hebert’s II, und überhaupt hatte ich Geburtstag.«
»Dad, willst du damit sagen, daß du mir das Restaurant nicht übergeben willst?« Reeds Stimme war wie eine Feder – körperlos, sie streifte kaum die Luft.
»Genau das will ich sagen, ja.«
»He!« Dennis’ Augen blitzten vor Zorn.
»Aber du hast ein Dokument unterzeichnet. Ich bin jetzt Geschäftsführerin.«
»Das will ich morgen wieder auf dem Schreibtisch haben.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Reed, du bist viel zu unreif, um einen Betrieb zu führen. Mit dir am Ruder wären wir innerhalb von zwei Wochen pleite.«
»Was redest du da?«
»Ich habe mich doch laut und deutlich ausgedrückt, oder? Ich war betrunken, ich habe es nicht ernst gemeint, und dieses Dokument hat auch nichts zu bedeuten. Ich trete nicht in den Ruhestand, und du wirst nicht übernehmen.«
»Das kannst du mir nicht antun! So kannst du nicht mit mir umspringen. Für mich ist das kein Spiel! Ich hab mein Leben lang für dich gearbeitet, und jetzt...« Sie hielt inne, breitete hilflos die Arme aus, rang um Worte. Mit der Hand streifte sie Sallys Teller auf dem Tablett des Kinderstuhls. Der Teller kippte dem Kind gegen die Brust und dann wieder aufs Tablett zurück. Heiße Bohnen tropften in Sallys Schoß.
Die Kleine schrie auf.
»Dumme Kuh!« brüllte Arthur. »Mein Gott, Reed, du bist dümmer, als die Polizei erlaubt. Sieh dir das arme Kind an. Steh nicht so dumm rum – wisch ihr das heiße Zeug ab, bevor sie ins Krankenhaus muß.«
Dennis streckte die Arme nach Sally aus und bedeutete Reed mit einem Blick, daß er gerne mehr getan hätte. »Schon gut, Kleines, alles in Ordnung«, murmelte er beruhigend und wischte die rötlichbraune Masse mit einer Leinenserviette ab.
»Seht euch das an«, sagte Arthur. »Ihre Sachen sind völlig hinüber.« Seine Stimme hatte einen merkwürdig zufriedenen Unterton.
Sugar ging in die Küche und nahm den Schlüssel zu Reeds Haus vom Haken; sie wohnten nur ein paar Straßen auseinander, und jede Familie hatte den Schlüssel zum Haus der anderen. »Ich hole ihr ein neues Kleidchen.«
Sugar schlüpfte beinahe unbemerkt hinaus. Zunächst wollte sie den Wagen nehmen, aber dann entschied sie sich, doch lieber zu Fuß zu gehen – es war ein Weg von etwa fünfzehn Minuten. Die Uhren waren schon auf Sommerzeit umgestellt, und bis zur Dunkelheit war es noch lang.
Sicher, sie wohnten mitten im Garden District, einem Stadtviertel mit hoher Kriminalitätsrate, aber die Kinder waren immer noch zum Spielen draußen, Leute sprengten den Rasen, kamen gerade von der Arbeit. Mochte es auch für die Heberts Wochenende sein, für alle anderen war es Montag.
Es war bestimmt noch ungefährlich draußen, und Sugar brauchte dringend ein bißchen Abstand von der Familie. Und frische Luft. Sie atmete tief ein. Die Innenstadt glich einer Sauna, aber langsam kam Wind auf. Es würde ein himmlischer, samtiger, subtropischer Abend werden.
Die Blumen blühten.
Sugar malte Blüten.
Es war ihr Hobby und mehr als das. Sie hatte im Restaurant arbeiten wollen, aber Arthur wollte sie dort nicht haben; sie hatte sich der Wohltätigkeit zugewandt, dabei aber immer das Gefühl gehabt, nur eine unter vielen zu sein. Sie hatte etwas gebraucht, was ihr alleine gehörte, und einen Kurs für Aquarellmalerei belegt.
Und das hatte sich als Volltreffer erwiesen. Sie liebte die sanften Farben, die weichen Blütenblätter; beides gehörte zueinander.
Sie hatte auch noch anderes versucht, war aber nicht damit zurechtgekommen. Menschen konnte sie nicht malen. Landschaften waren zu mühselig.
Blüten paßten einfach zu ihr, zu ihrem Charakter und zu ihrem Namen.
Sie wurde nicht ohne Grund von allen Sugar genannt – blond und mit einer Haut wie Pfirsich und Sahne, hatte sie ihre Eltern immer an eine besonders leckere Nachspeise erinnert. Das hatte ihr Dad ihr tausendmal erzählt.
Ihre Lieblingsfarbe war Rosa.
Sugar hätte am liebsten jede Erinnerung an die häßliche Szene am Tisch aus ihren Gedanken verbannt. Sie wollte eine Weile nichts damit zu tun haben.
Vielleicht möchte er, daß Nina das Restaurant führt.
Und vielleicht kann er es einfach nicht ertragen, es aus der Hand zu geben.
Je näher sie Reeds und Dennis’ Haus kam, desto langsamer ging sie – froh, der bedrückenden Atmosphäre zu Hause entkommen zu sein.
Arthur entkommen zu sein.
Was ist denn los mit mir? fragte sie sich. Er ist mein Mann, aber ich kann ihn kaum mehr ertragen. Je älter er wird, desto rechthaberischer wird er.
Sie dachte nicht darüber nach, wie das Problem mit Reed gelöst werden könnte – das interessierte sie nicht. Sie dachte nur an Arthur. Er war schrecklich unfair zu Reed gewesen, wenn man berücksichtigte, wie schwer sie für das Restaurant gearbeitet hatte. Aber Fairneß hatte selten Einfluß auf Arthurs Entscheidungen. Er wollte, was er wollte: im Recht sein und alles unter Kontrolle haben.
Wie konnte er auch nur einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielen, die Leitung des Restaurants aus der Hand zu geben? Er hatte erklärt, er wolle sich um Hebert’s II kümmern und nicht zwei Restaurants führen. Aber es wäre typisch für ihn, es zu versuchen, und zwar um jeden Preis.
War es eigentlich immer schon so, daß wir uns nicht ausstehen konnten? Er mag mich nicht, sonst würde er nichts mit anderen Frauen anfangen. Und ich mag ihn nicht mehr seit... seit wann eigentlich?
Wahrscheinlich, seit die Kinder auf der Welt sind. Man verliebt sich und bekommt Kinder und interessiert sich dann nur noch für sie, und eines Tages schaut man quer über den Tisch und fragt sich: »Was will ich bloß mit diesem Mistkerl da?«
Reeds Haus war schön. Geräumiger und besser restauriert als Sugars eigenes. Reed war keine große Gärtnerin – es blühten nur ein paar mehrjährige Pflanzen –, und das Haus war einfach weiß angestrichen, mit grünen Fensterläden. Sugar hätte sich etwas Phantasievolleres einfallen lassen.
Aber es war gepflegt und elegant, ein viktorianisches Gebäude mit einem wunderbar großen Vorbau, der auf ionischen Säulen ruhte.
Der Hof vor dem Haus war gewaltig. Zwei riesige Eichen überragten einen kleinen Bananenhain.
Sugar betrat den Hof durch ein kleines schmiedeeisernes Tor, ging rasch zum Vorbau hinauf und genoß dabei den Anblick, den das Haus bot
Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, schaltete die Alarmanlage aus und verschloß die Tür von innen wieder. Gerade als sie die Treppe hinaufeilte, hörte sie das Telefon klingeln. Sollte sie die Treppe hochlaufen oder lieber nach unten zu dem Anschluß in der Küche gehen? Sie entschloß sich für die Küche und erreichte den Apparat, als es gerade aufhörte zu klingeln.
»Hallo?« sagte sie.
»Hallo?« erwiderte eine Männerstimme. »Bist du das, Reed?«
»Hier ist Sugar Hebert, Reeds Mutter. Kann ich ihr etwas ausrichten?«
»Oh, hallo, Sugar, wie geht es Ihnen?« Sie verkrampfte sich ein wenig, weil in der Stimme etwas Gezwungenes lag, eine künstliche Forschheit. »Hier sprich Milton Foucher, Dennis’ Vater. Ich freue mich, Ihre Stimme zu hören.«
»Ich freue mich auch, Mr. Foucher.« Sie war ihm nur einmal begegnet – bei Reeds und Dennis’ Hochzeit –, und sie war ziemlich sicher, daß sie ihn nicht erkennen würde, wenn er jetzt hereinkäme.
»Wie geht es Ihnen, Sugar?«
»Sehr gut. Und Ihnen? Und Mrs. Foucher?«
»Oh, wir sind alle gesund und munter, Sugar. Uns geht es großartig. Es geht uns sogar ausgesprochen gut.«
Wieso konnte er nicht wie ein normaler Mensch reden? Hatte er noch nie davon gehört, daß man sich am Telefon kurz faßte? Sugar wollte noch einmal fragen, ob sie etwas ausrichten solle, aber er sagte: »Wir haben gehört, daß Hebert’s die Konzession für das Kasinorestaurant erhalten hat.«
»Ja.«
»Meinen herzlichsten Glückwunsch! Wir sind alle sehr stolz auf Sie.« Sugar kämpfte mit ihrem Snobismus. Einerseits wußte sie, daß Milton Foucher ein höflicher (wenn auch aufgeblasener) Mann war, der zu spät im Leben Vater zu vieler Kinder geworden war und viel durchgemacht hatte, hauptsächlich wegen seines Jüngsten, Dennis.
Doch andererseits sträubte sich alles in ihr dagegen zu akzeptieren, daß Foucher ein Verwandter war, wenn auch nur ein angeheirateter.
»Vielen Dank, Mr. Foucher. Soll ich...«
»Wir haben uns so für Sie gefreut, als wir davon gehört haben. Das ist wirklich eine bedeutende Auszeichnung für Sie.«
»Es wird uns alle ziemlich in Atem halten, nehme ich an.«
»Ich wünschte, Dennis hätte sich auch dieser Branche zugewandt« – er klang tatsächlich bedauernd –, »aber was kann man den jungen Leuten schon sagen? Man muß sie tun lassen, was sie wollen; anders geht es nun einmal nicht.«
»Ja.« Sie hoffte, daß in ihrer Stimme nicht die Bitterkeit mitschwang, die sie empfand.
»Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten, Ich habe schlechte Nachrichten für Dennis.«
»Er ist im Augenblick leider nicht hier. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
»Ja bitte. Sagen Sie ihm, Justin wird diese Woche vermutlich nicht überleben.«
Sugar durchforschte ihr Gedächtnis. War dieser Justin ein Verwandter? »Das tut mir sehr leid«, sagte sie.
»Es ist eine Schande, wirklich eine Schande.« Sugar konnte beinahe sehen, wie er den Kopf schüttelte. »So ein junger Mensch.«
»Ich werde es Dennis gleich erzählen.«
Sie legte auf, sah auf die Uhr und beeilte sich, das Kleid zu holen. Sie war schon fast zwanzig Minuten weg und würde noch mindestens zehn Minuten brauchen, selbst wenn sie sich beeilte, sich in keine Gespräche verwickeln ließ und nicht in anderer Leute Gärten spähte. Sie hoffte, die anderen würden sich nicht immer noch streiten, wenn sie zurückkam.
Sie hob die Hand, um die Alarmanlage einzuschalten, konnte sich aber nicht an die Kombination erinnern, die sie beim Hereinkommen unwillkürlich eingegeben hatte. Jetzt war ihr Kopf leer. Sie mußte sich hinsetzen und konzentrieren, bis es ihr wieder einfiel.
Auf dem Rückweg beeilte sie sich, aber als sie sah, daß ihr ein paar Jungen mit verkehrt herum aufgesetzten Baseballmützen entgegenkamen, überquerte sie die Straße und machte einen Umweg. Damit verlor sie weitere Minuten. Langsam bekam sie Schuldgefühle.
Sie begann, noch schneller zu gehen.
Als sie schließlich ein wenig atemlos vor ihrer Haustür stand, fiel ihr ein, daß sie ihre Handtasche nicht dabeihatte, sie hatte einfach nur nach Reeds Schlüssel gegriffen und war hinausgeeilt.
Sie kam sich albern vor, als sie an ihrer eigenen Tür klingelte und wartete. Es dauerte fast zwei Minuten, bis ihr klar wurde, daß niemand öffnen würde. Sie sah sich um und bemerkte, daß Reeds Auto nicht mehr an der Straße stand, und sie fragte sich, ob Reed und Dennis so wütend geworden waren, daß sie das Haus verlassen hatten.
Aber wieso war sie ihnen dann nicht begegnet?
Sie holte den Notschlüssel unter dem Stein hervor, wo sie ihn aufbewahrte, und schloß auf.
»Arthur?« rief sie. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie vom Flur ins Eßzimmer, wo sie ihre Familie vermutete.
Statt dessen fand sie Blut.
Rot auf den cremefarbenen Wänden verspritzt, als hätte ein Kind einen Ballon damit gefüllt und in einem großen Bogen herumgewedelt, um ihn zu leeren. Aber dieses Kind mußte dabei auf dem Boden gesessen haben. Das Blut war unten an der Wand, und oberhalb der Spritzer war ein blutiger Handabdruck zu sehen. Es gab auch eine Blutlache auf dem Boden.
Blut. Wie in einem Film. Oder im Fernsehen; etwas, das nur anderen Leuten passierte.
Der schwere Mahagonitisch war umgestoßen. Porzellan, Silber und Bohnen waren in alle Richtungen verstreut, die Stühle gleichfalls umgestürzt, bis auf Sallys leeren Kinderstuhl.
Arthur lag auf dem Boden, auf dem Rücken, mit offenen Augen, das Hemd rot durchtränkt. Auch auf seiner Hose war Blut, in der Leistengegend.
Es war so still im Haus, daß Sugars Atemzüge laut wie Schreie klangen.