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»Mrs. Hebert? Ich bin Skip Langdon.«

Die Frau auf der Veranda schaute verständnislos drein. Sie sah ausgesprochen durchschnittlich aus, obwohl sie sich Mühe gegeben hatte – sie hatte eine Menge Make-up aufgelegt, und ihr mausfarbenes Haar war aufgehellt und dauergewellt. Sie war ein wenig zu dick, aber nicht sehr, nur ein bißchen rundlich, und trug teure rosafarbene Sporthosen mit einem ärmellosen weißen Stricktop, das am Ausschnitt mit kleinen Perlen besetzt war.

»Ja?« sagte sie und verstand offenbar nicht, was all diese Fremden in ihrem Haus wollten.

»Detective Skip Langdon. Von der Mordkommission.«

»Ach so.«

Skip war mit ihren Kollegen zusammen angekommen, alle im selben Auto, weil sie nicht annähernd genug Zivilwagen hatten. Sie mußten furchteinflößend ausgesehen haben: eine eins achtzig große Frau und drei Männer in Anzügen, die sich dem Haus wie eine Phalanx näherten. Skip hatte den anderen bedeutet, schon ins Haus zu gehen – sie würde sich um die Zeugin kümmern.

Die Frau auf der Veranda sah nicht unbedingt traurig aus, eher verwirrt und vollkommen verängstigt, obwohl sie inzwischen ein wenig Zeit gehabt hatte, sich zu beruhigen. Die zuständige Streife war zuerst am Tatort gewesen und hatte die Mordkommission verständigt. Skip wußte nur, daß Sugar Hebert nach Hause gekommen war und ihren erschossenen Mann im Eßzimmer gefunden hatte.

Mrs. Hebert sagte: »Sie sind verschwunden. Alle. Und ich war doch nur eine halbe Stunde weg.«

»Sollen wir uns ins Auto setzen?« Die Frau sah aus, als sollte sie sich besser hinsetzen.

»Ja. Bitte. Sie haben gesagt, ich könne nicht im Haus bleiben.«

»Es tut mir leid.«

Ein weiteres Auto hielt an – Paul Gottschalk von der Spurensicherung und Sylvia Cappello, Skips Vorgesetzte. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist?«

»Wir waren gerade beim Essen – mein Mann, meine Tochter, ihr Mann und ihre kleine Tochter. Jemand hat einen Teller umgestoßen, und Sallys Kleid bekam Flecken ab, also bin ich rübergegangen, um ihr ein neues zu holen. Als ich wiederkam, sah es hier so aus wie jetzt. Überall Blut, und Arthur...«

»Die anderen drei waren weg?«

»Weg! Verschwunden.«

Langsam zog Skip Sugar Hebert die ganze Geschichte aus der Nase – daß die Familie jeden Montagabend zusammenkam, daß sie vor kurzem Arthurs Geburtstag gefeiert hatten und er dabei angekündigt hatte, er wolle in den Ruhestand treten, das aber an diesem Abend wieder zurückgenommen hatte; wie sie sich gestritten hatten, die anderen drei, nur Sugar selbst hatte sich nicht eingemischt. Daß sie nur kurz weggewesen war – höchstens eine halbe Stunde –, um danach ihre Welt in Trümmern zu finden.

»Haben Sie irgendwas berührt?«

»Nein. Nicht mal Arthur. Ich konnte ihn überhaupt nicht ansehen, es war zu ... das war nicht mehr mein Mann. Ich bin rückwärts raus aus dem Zimmer, zum nächsten Telefon, und habe die Polizei gerufen.«

»Und wo war dieses Telefon?«

»Im Flur.«

Im Haus. Also hatte sie doch etwas angefaßt. »Haben Sie sonst noch jemanden angerufen?«

»Meinen Sohn Grady. Aber er war nicht daheim.«

»Möchten Sie es noch einmal versuchen?«

»Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« Sie sah sich um, als erwartete sie, Grady ebenfalls im Auto sitzen zu sehen.

Die schlüssigste Erklärung für Skip war, daß der Streit eskaliert war und jemand eine Waffe gezogen hatte – wahrscheinlich Dennis –, um Arthur zu erschießen. Dann waren Reed und Dennis mit ihrer Tochter geflohen.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte sie und wies eine Streife an, Reeds und Dennis’ Haus zu überprüf en.

Dann wandte sie sich wieder Sugar zu. »Wissen Sie, wohin sie sonst noch gefahren sein könnten?«

»Nein.« Sie schien sich unbehaglich zu fühlen.

»Sind Sie sicher?«

»Na ja, Dennis’ Eltern wohnen hier. Aber dort würden sie nie hingehen. Wieso auch?«

»Wie lautet die Adresse?« Skip bat die Streife, auch dort nachzusehen.

»Wissen Sie«, fragte sie schließlich, »ob Dennis eine Schußwaffe hatte?«

»Ich weiß, daß er keine hatte. Er und Reed waren absolut gegen Schußwaffen.«

»Also hatte Reed auch keine.«

»Nein.«

»Was ist mit Ihrem Mann? Hatte er eine Waffe im Haus? Gegen Einbrecher?«

Skip hörte rasche Schritte, blickte auf und sah, daß ein junger Mann auf das Auto zugelaufen kam, das Gesicht bleich, das Haar wirr. »Mutter? Mutter, was ist denn los?«

»Ach, Grady.« Sugar stieg aus, breitete die Arme aus und ließ sich gegen ihren Sohn fallen, ließ ihren Gefühlen endlich freien Lauf. Eine Weile schluchzte sie an seiner Brust, dann sagte sie: »Ach, Grady... und ich war nur kurz weg.«

»Was ist denn passiert?«

Rasch erzählte sie ihm alles. Skip stieg aus, um zuzuhören, aber Sugar wich nicht von dem ab, was sie bereits berichtet hatte.

Grady war ein schlaksiger junger Mann, groß und zu dünn, als würde er zuviel rauchen und zuwenig essen. Er trug ein weißes Hemd, das vor Alter schon grau war, und Jeans, die er seit dem letzten Waschen schon oft angehabt hatte. Er trug eine Brille und hatte fettiges Haar.

Skip stellte sich vor, starrte ihm ins Gesicht, versuchte, ihn einzuschätzen. Wie seine Mutter sah er völlig überrumpelt aus, versuchte immer noch, sich alles zusammenzureimen.

»Was ist hier passiert?« fragte er. »Wo sind Reed und Dennis?«

»Vielleicht haben Sie eine Idee.«

»Ich? Wieso ich?«

»Was hat Ihre Mutter Ihnen auf den Anrufbeantworter gesprochen?« Skip war selbst nicht sicher, wieso sie diese Frage stellte; es hatte damit zu tun, daß er so bleich und atemlos hier angekommen war.

»Sie sagte: ›Dein Vater ist ermordet worden. Komm, sobald du kannst.‹«

»Tatsächlich?« Sie konnte kaum glauben, daß die Dame im rosa Zuckerguß so kühl gewesen war.

»Na ja, es hat gewirkt.« Grady lächelte nervös. Es verunsicherte ihn, sich für seine Mutter entschuldigen zu müssen.

»Vielleicht können Sie uns helfen.«

Er aber schaute zu Sugar hin, die jetzt leise weinte. »Ich glaube, ich muß jemanden anrufen, der mir mit Mutter hilft.«

»Sie dürfen das Telefon im Haus leider nicht benutzen, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Wir versiegeln den Tatort zwar nicht, wenn ein Mord geschehen ist, aber wir werden noch lange im Haus zu tun haben.«

»Aber sie muß doch irgendwo bleiben können.« Er wandte sich seiner Mutter zu. »Mutter, hast du Nina angerufen?«

Sugar Hebert schüttelte den Kopf.

»Ich werde sie rüberholen.« Er eilte so schnell davon, wie er gekommen war.

Wahrscheinlich ist er froh, hier verschwinden zu können, dachte Skip. Er kam ihr nicht gerade wie der ideale Sohn vor.

Sie und Sugar stiegen wieder ins Auto. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Skip.

»Ich fühle mich wie betäubt. Ich wünschte, Reed wäre hier.

»Erzählen Sie mir von ihr.«

Sugar schaute verdutzt drein. »Was erzählen?«

»Was sie für ein Mensch ist. Wohin sie gehen würde, wenn sie Zuflucht sucht.«

»Zuflucht?« fragte Sugar nachdenklich, als wisse sie nicht genau, was mit dem Wort gemeint war. »Das paßt gar nicht zu Reed. Es ist eher umgekehrt: Die Leute suchen bei ihr Zuflucht.«

»Hat sie Freunde?«

»Nina. Die Frau, die mein Sohn holen will. Sie arbeitet für uns im Restaurant – sie ist so was wie Reeds Assistentin.«

»Ihre Sekretärin?«

»Nein, sie ist ihre rechte Hand. Sie war Reeds Trauzeugin.«

»Hat sie noch andere Freunde?«

Sugar überlegte. »Eigentlich nicht. Sie hat ziemlich viel zu tun, mit Dennis und Sally und dem Restaurant und so.«

»Und was ist mit Dennis?«

»Oh. Na ja. Seine Geschäftspartnerin. Sie haben eine Gärtnerei – Dennis mag Pflanzen. Wie seine Schwiegermutter.«

»Ach, Sie auch?«

»Ich mag Blüten. Ich male sie.«

»Sagen Sie, Mrs. Hebert – wenn Sie kein Familienmitglied wären, wie würden Sie Dennis und Reed beschreiben?«

»Ein reizendes, fleißiges junges Paar. Sie lieben ihre kleine Tochter abgöttisch. Arthur hat Reed nie zugetraut...« Ihre Augen blitzten jetzt, und sie hatte lauter gesprochen als zuvor, aber dann zögerte sie. »Das ist wohl eine Familienangelegenheit.«

Skip ließ es ihr durchgehen. Sie konnte es sich leisten, Geduld zu haben; bevor sie den Fall abschloß, würde sie jedes Geheimnis, das die Heberts hatten, jede noch so geringfügige »Familienangelegenheit« ans Licht gezerrt haben.

»Würden Sie mir einen Gefallen tun? Würden Sie mit mir aussteigen und mir Ihr Auto zeigen? Und das von Arthur, und das Ihrer Tochter?«

»Das da drüben ist meines. Und das von Arthur steht in der Einfahrt.«

»Würden Sie mir noch Reeds zeigen?«

Sugar öffnete die Autotür. »Ich versuche es.«

Es war inzwischen dunkel geworden. Aber als Sugar – offenbar zum erstenmal – auffiel, daß die Nachbarn draußen standen, wich sie zum Auto zurück. »Ich glaube, ich kann das nicht. Ist das schlimm?«

»Nein.« Skip konnte auch auf Grady warten. »Haben Sie ein Foto von Dennis und Reed?«

»Drinnen – auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer.«

»Und eins von Sally?«

»In meiner Handtasche – auf dem Tisch in der Halle.«

Skip fand die Handtasche, durchsuchte sie nach einer Waffe und bat Paul Gottschalk, die Tasche zu fotografieren und auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Währenddessen sah sie sich in aller Ruhe das Eßzimmer an, um sich das Bild des Tatorts einzuprägen, und suchte dann das Foto von Dennis und Reed.

Es war ein Hochzeitsfoto, ein Porträt: Reeds strahlendes Gesicht von Tüll umrahmt, Dennis mit leicht herausfordernder Miene. Reed war eine klassische Southern Belle, eine natürliche junge Frau mit glattem braunem Haar und gleichmäßigen weißen Zähnen – die sicher nicht billig gewesen waren, dachte Skip, aber das Ergebnis rechtfertigte die Kosten für den Kieferorthopäden.

Dennis war da schon anders. Seine Züge waren sehr ausgeprägt, sein Mund großzügig, der Blick ausdrucksvoll. Er hatte noch ein bißchen Babyspeck, wie der junge Brando, was ihn weicher wirken ließ, ihm eine gewisse Verletzlichkeit verlieh. Aber er hatte auch etwas Mürrisches an sich.

Heathcliff, dachte Skip; aber die Tatsache, daß er Begonien mochte – oder was immer er in seiner Gärtnerei züchtete –, paßte nicht in dieses Klischee.

Zunächst ließ sie das Foto, wo es war, damit Paul es nach Fingerabdrücken untersuchen konnte.

Sie kehrte wieder zu Sugar zurück.

»Können Sie mir sagen, was die drei anhatten? Und wie groß sie sind, das Gewicht, Augenfarbe – all das?«

Zu Skips Überraschung begann Sugars Unterlippe zu zittern. Sie versuchte, sich zusammenzunehmen, aber es gelang nicht. Sie stieß ein gequältes Keuchen aus, das beinahe ein Schluchzen war. »Sally!« sagte sie. »Sie hat immer noch das schmutzige Kleidchen an.«

Es dauerte einen Augenblick, aber dann erfuhr Skip, was sie wissen wollte: Dennis hatte dunkles Haar, Reed helles; er trug Jeans, sie ein Sommerkleid und Sandalen, und Sally Bohnen.

Skip fragte sich, ob noch irgendwelche Informationen rauszuholen waren. Sie wiederholte Sugars Aussage: »Reed und Dennis haben also was gegen Schußwaffen?«

»Sie hassen sie regelrecht. Arthur hat versucht, Reed eine kleine Pistole zu schenken, die sie in der Handtasche tragen sollte – Sie wissen, wie gefährlich es hier im Garden District ist –, aber sie wollten beide nichts davon wissen. Sie sagten, sie wollten nicht so leben.« Einen Augenblick lang wandte sie den Blick ab. Dann sah sie Skip wieder an. »Arthur hatte natürlich auch darüber seine eigenen Ansichten.«

Wieder hörte Skip Schritte. Es war Grady, der eine hübsche Frau mitbrachte, eine Schwarze, die sich selbst wahrscheinlich als Kreolin bezeichnet hätte. Ihre Haut war eher beige als braun, und sie hatte das glatte Haar zu einem Zopf geflochten.

»Das hier ist Nina Philips Sie ist unsere Restaurantleiterin bei Hebert’s.«

Bevor Skip Nina die Hand reichen konnte, veranstaltete Sugar dasselbe wie mit Grady – sie fiel Nina jammernd um den Hals.

»Schon gut«, sagte Nina. »Grady hat mir alles erzählt. Weinen Sie nur.«

Es war eine gute Gelegenheit, mit Grady zu sprechen. Da Sugar nicht zuhörte, stellte Skip ihm dieselben Fragen wie vorher seiner Mutter. »Erzählen Sie mir ein wenig über Reed und Dennis.«

Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Das typische Paar der Neunziger. Sie war der Kopf des Unternehmens. Und der Bauch.«

Skip lächelte. Das war sicher noch nicht alles. »Wie das?«

»Möge Gott verhindern, daß mich jemand als Feminist bezeichnet – es gibt Gegenden in dieser Stadt, wo man für so was erschossen wird –, aber wissen Sie, er hat’s leicht gehabt und sie nicht. Sie bringt die Brötchen heim und schmiert sie ihm auch noch; selbstverständlich, nachdem sie sich was Nettes angezogen und das Baby gewickelt hat.«

»Sie halten wohl nicht viel von Ihrem Schwager?«

»Vollkommen falsch. Netter Kerl, prima Kerl. Jemand, den mein Dad so sehr gehaßt hat, kann gar nicht schlecht sein.«

Skips Herz begann, schneller zu schlagen.

»Machen Sie sich bloß keine Hoffnungen.« Er zuckte die Achseln. »Es gab nicht viele Leute, die mein Vater mochte.«

»Hatte Ihr Vater Feinde?«

Grady war verblüfft. »Solche, die ihn umbringen würden, meinen Sie?«

Skip nickte.

»Daran hab ich noch nie gedacht. Er war ziemlich aufbrausend. Aber deshalb bringt man doch keinen um, oder?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Was soll ich Ihnen sagen? Daß ich ihn ermordet habe?«

Skip schwieg.

»Die Sache ist doch völlig klar: Irgendein Gauner ist eingebrochen und hat ihn umgebracht.«

»Und was ist in diesem Fall mit Reed und Sally und Dennis passiert?«

Gradys Gesicht, um dessen Ausdruckslosigkeit er sich so bemühte, wurde wieder bleich. »Das weiß ich nicht. Ich will gar nicht dran denken.«

Ich auch nicht, dachte sie. Die Heberts waren eine stadtbekannte Familie. Sie wußte nicht, wieviel Geld sie hatten, aber man konnte schon annehmen, daß sie ein hohes Lösegeld für ein Familienmitglied zahlen würden. Vielleicht war der Mord an Arthur das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Entführungsversuchs. Aber wieso hatten die Täter dann drei Personen mitgenommen, wenn eine genügt hätte?

Weil sie die Gesichter der Entführer gesehen haben.

Was nichts Gutes für ihre Zukunft bedeutet.

Sugar kam langsam wieder zu sich und redete leise auf Nina ein. Skip sprach die junge Frau an: »Wissen Sie, ob Reed oder Dennis eine Schußwaffe besaßen?«

Sugar meinte: »Ich hab Ihnen doch gesagt...«, aber Nina unterbrach sie lächelnd und schüttelte den Kopf: »Auf keinen Fall. Keiner von beiden. Dennis hat einmal... einen Verwandten verloren...« Sie ließ den Satz in der Luft hängen, dachte offensichtlich an etwas, das zu unangenehm war, um darüber zu sprechen.

»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, erklärte Sugar; es klang ziemlich jämmerlich.

»Und Arthur?«

»Arthur hatte eine Pistole.«

»Wo bewahrte er sie auf?«

»In einem Safe in seinem Büro. Hier. Hier, meine ich. In diesem Zimmer, das er als sein Büro bezeichnete.«

»Würden Sie das bitte Mr. Gottschalk erzählen? Dem Mann von der Spurensicherung?«

»Selbstverständlich.«

Skip lächelte Sugar an. »Kommen Sie einen Moment allein zurecht?«

Sugar wirkte ein wenig desorientiert, als ginge ihr alles zu schnell. »Ich glaube schon. Soll ich es ihm jetzt sagen?« Sie legte sich eine Hand auf die Brust.

Skip hätte nicht sagen können, ob sie schauspielerte oder nicht, aber sie nickte Grady zu. »Sie können sie begleiten, wenn Sie wollen – nur bis zur Veranda. Ein Officer wird Ihnen entgegenkommen.«

Sie wollte einen Augenblick mit Nina allein sein. »Sie tun mir leid«, sagte sie mit einem Blick auf Sugar und Grady.

Nina schüttelte einfach den Kopf, wie Skip es oft bei Verwandten und Freunden sah, die plötzlich mit dem Tod konfrontiert wurden.

»Arbeiten Sie schon lange für die Familie?«

»Ein paar Jahre.«

»Aus dem, was Grady sagt, schließe ich, daß der alte Herr wohl nicht ganz einfach war.«

Sie zuckte die Achseln. »Grady selbst ist auch nicht gerade pflegeleicht.«

»Und Mrs. Hebert?«

»Kompliziert. Sie tut mir leid.«

»Warum?«

»Arthur hat sie behandelt wie ein Stück Dreck. Und außerdem ist sie emotional nicht besonders gefestigt.«

»Wie das?«

»Sie hat kein besonders großes Selbstbewußtsein.« Nina Philips dachte einen Moment nach. »Und ich glaube, sie versucht, das zu überspielen, indem sie so tut als ob.«

Nina hatte die nervtötende Angewohnheit, sich so allgemein zu äußern, daß es zunächst wenig Sinn ergab. »Als ob was?« fragte Skip.

»Was auch immer. Unterschiedlich.«

Skip verstand immer noch nicht so recht, aber sie konnte sich damit nicht weiter aufhalten. Es gab zu viel, was schnell abgeklärt werden mußte. »Kannten Sie die Familie gut?«

Zu ihrer Überraschung schnaubte Nina. »Könnte man sagen. Grady und ich hatten mal was miteinander.« Sie hielt kurz inne. »Reed ist meine beste Freundin. Und Dennis ist mein Cousin.«

»Dennis! Aber ich dachte...« Sie hielt inne, aber etwas an Nina brachte sie dazu, den Satz zu beenden. »Ich dachte, er wäre weiß.«

»Ist er wohl auch. Jedenfalls stammt er aus dem weißen Zweig der Familie. Wir sind nicht zusammen aufgewachsen – ich wußte nicht mal was von den Fouchers, von den weißen. Dennis hat mich aufgesucht, als wir schon erwachsen waren.« Wieder schnaubte sie. »Er brauchte Geld.«

»War das, bevor Sie die Heberts kennenlernten oder danach?«

»Vorher. Er hat mich ihnen Jahre später vorgestellt. Sie müssen verstehen, daß er damals ein anderer Mensch war. Er war süchtig.«

»Aha.«

»Er ist nie gefährlich gewesen, kein bißchen. Er ist ein sanfter Mensch – ein sehr sanftmütiger Mann.« Sie hielt inne und starrte die Wand an. »Mein Gott.«

»Was ist denn?«

»Ich dachte nur gerade daran, wie ähnlich er und Grady sich sind. Passiv. Liebenswert, aber wenig nützlich.«

Grady war Skip nicht besonders liebenswert vorgekommen, aber sie hielt den Mund.

»Kein Wunder, daß er und Reed gleich aufeinander geflogen sind. Sie und ich, wir sind wie Spiegelbilder, eine weiß, die andere schwarz. Abgesehen davon könnten wir Zwillinge sein. Na ja, nicht ganz, ich bin rebellischer als sie.

Guter Gott! Rotkäppchen hat mehr von einer Rebellin als Reed.

Aber wir sind uns ähnlich, weil wir ziemlich besessen sein können. Wir geben keine Ruhe, bis alles erledigt ist, und zwar perfekt.

Aber ihr Vater hat alles kritisiert, was sie tat, und um ehrlich zu sein« – sie senkte die Stimme – »ihre Mutter ist kaum anders. Reed hat die Grenzen, die ihre Eltern gezogen haben, nie überschritten, und inzwischen glaubt sie selbst nicht mehr, daß sie irgendwas kann. Aber sie ist wunderbar. Eine tolle Mutter, eine großartige Köchin, führt den Haushalt, führt das Restaurant, hilft Dennis mit seinem kleinen Betrieb.«

»Eine Gärtnerei, nicht wahr?«

»Ja. Das meinte ich auch, als ich sagte, er sei sanftmütig. Er liebt seine Pflanzen abgöttisch.« In ihrer Stimme schwang so etwas wie Verachtung mit.

»Es hört sich an, als wäre Reed ziemlich unter Druck.«

Nina zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Sie strengt sich so sehr an, nett zu allen zu sein, daß es einem normalerweise nicht auffällt.«

Paul Gottschalk kam aus dem Haus, gefolgt von den beiden Heberts. Er sagte: »Die Waffe ist noch da. Ich glaube nicht, daß daraus geschossen wurde.«

Skip nickte. »Danke, Paul. Ich werde Sie jetzt allein lassen.« Sie wollte sich den Tatort noch einmal ansehen. »Aber, Mrs. Hebert, Sie werden mit mir durchs Haus gehen müssen, wenn wir fertig sind, um nachzusehen, ob irgendwas fehlt. Können Sie vorläufig bei Freunden wohnen?«

»Ich könnte im Haus von Reed und Dennis bleiben – ich glaube nicht, daß es sie stören würde.« Fragend sah sie Grady an, die Hände in Brusthöhe, einem Präriehund nicht unähnlich. Allmählich sah sie müde und sehr verängstigt aus. Skip nahm an, daß der Schock nachließ.

Grady sagte: »Meine Bude ist sicher nicht das richtige.«

»Meinst du, du könntest vielleicht...« Sie brach ab, wollte offenbar vermeiden, ihren Sohn um einen Gefallen bitten zu müssen.

Grady warf Nina einen hilfesuchenden Blick zu, aber sie ignorierte ihn. Schließlich sagte er: »Ja, Mutter, ich bleibe bei dir«, und das klang nicht annähernd so sanft, wie die Umstände es verlangt hätten. Zu Skip sagte er: »Darf ich sie zu mir bringen und wieder zurückbringen, wenn Sie anrufen?«

»Sicher, aber noch eins: Können Sie Reeds und Dennis’ Auto hier irgendwo entdecken?«

Er ging mit Skip die Straße entlang. »Es ist nicht da.«

»Nein?«

»Es ist ein beigefarbener Mercedes – sehen Sie irgendwo einen?«

Das war nicht der Fall. Sie gab allen ihre Karte, bat anzurufen, sobald sie von Reed oder Dennis hörten, verabschiedete sich dann und ging ins Haus.

Die Streifenpolizisten, die die Häuser von Dennis und Reed und Dennis’ Eltern überprüft hatten, berichteten, daß sie niemanden gesehen hatten. Skip gab eine Fahndungsmeldung nach Dennis, Reed und dem Auto aus.

Der letzte Schritt bestand darin, die Nachbarn zu befragen – eine Pflicht, die sie fürchtete. Die Leute im Garden District mit seinen Herrenhäusern und privaten Sicherheitsdiensten hatten von allen Bürgern der Stadt vielleicht die meiste Angst vor Verbrechen. Skip hatte keine Lust, ihre weitaufgerissenen Augen und verkniffenen Lippen zu sehen und ratlos dazustehen, wenn sie ihre manikürten Hände rangen und sie anflehten, ihnen doch zu sagen, wie man sich schützen könne.

Sie hatte nicht die geringste Idee, wie sie sie beruhigen sollte, und außerdem hatte sie jetzt nicht die Zeit dazu.

Zufällig waren die Bewohner des Hauses rechter Hand in Urlaub, wenn man den Nachbarn glauben durfte. Die Nachbarn auf der anderen Seite waren zur Zeit der Schießerei nicht daheim gewesen, und die gegenüber waren in ihrem klimatisierten Haus abgeschottet gegen die Geräusche der Außenwelt.

Zwei Häuser weiter jedoch, auf derselben Straßenseite wie das Haus der Heberts, glaubte eine Mrs. Gandolfo, einen Schuß gehört zu haben; sie hatte sogar durch die Vorhänge nach draußen gespäht. Sie hatte ihre Nachbarn angerufen, die zur linken Seite der Heberts, und als dort niemand an den Apparat gegangen war, hatte sie es bei den Heberts versucht. Ein junger Mann hatte geantwortet und erklärt, alles sei in Ordnung und er habe nichts gehört.

Eine ehrenwerte Familie

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