Читать книгу Philosophie - Was geht mich das an? - Julika Tillmanns - Страница 9
Оглавление03 KRUZIFIX, KOPFTUCH, KARIKATUREN – WIE TOLERANT MÜSSEN WIR SEIN?
Von Rainer Dachselt
Willy Brandt:
„Das Selbstbewusstsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben.“
Thomas Oppermann:
„Null Toleranz gegen gewalttätige Salafisten.“
Frank-Walter Steinmeier:
„Für mich bleibt das Prinzip der religiösen Toleranz ein Kern vom großen Erbe der europäischen Aufklärung.“
Henryk Broder:
„Reine Toleranz ist eine Haltung der Selbstaufgabe, eine Haltung, die das Verschulden immer bei sich selber sucht, eine Haltung, die um es genau zu sagen, immer den Täter über das Opfer favorisiert.“
Papst Franziskus I.:
„Toleranca zero.“
Über Toleranz lässt sich streiten, und es wird gestritten. Schon was unter Toleranz zu verstehen ist, scheint ganz unklar: ein gnädig-freundliches Entgegenkommen gegenüber lästigen Nachbarn und Minderheiten, die Tugend des aufgeklärten, liberalen Staatsbürgers schlechthin oder im Gegenteil eine aus Konfliktscheu und Gleichgültigkeit gemischte Laissez-faire-Haltung?
Dabei ist doch die Toleranz bei uns, im bürgerlichen Rechtsstaat, historischer Sieger: sie steht zwar nicht namentlich in der Verfassung, aber was sind die Grundrechte Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit anderes als Gesetz gewordene Toleranz? Da hat doch die Philosophie der Aufklärung auf ganzer Linie gesiegt. Da ist passiert, was so selten passiert: ein philosophischer Gedanke ist Praxis geworden.
Trotzdem streiten wir ausdauernd, wer und was zu tolerieren ist. Das mag daran liegen, dass Toleranz eine Zumutung enthält, und auch sonst keine ganz einfache Tugend ist. Rainer Forst, Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt nennt die drei Komponenten der Toleranz: „Wenn ich sage: Ich toleriere die Unordnung im Zimmer meiner Kinder, dann impliziert das, dass ich lieber hätte, das Zimmer wäre aufgeräumt.
Die erste Komponente von dreien ist also die Ablehnungskomponente, wir tolerieren nur die Dinge, die wir als falsch, schlecht oder problematisch verurteilen.
Dann aber gibt es eine positive Komponente, die zweite, wenn wir etwas tolerieren, dann muss es neben den Gründen, warum es uns stört, Gründe geben, warum es dennoch toleriert werden soll. Also positive Gründe: Respekt, Wertschätzung, vielleicht auch um des lieben Friedens willen.
Dann gibt es aber noch eine dritte Komponente, und die ist wieder negativ. Das ist die Komponente, die die Grenzen der Toleranz markiert. Wo das so problematisch wird, was die tun, dass ein Einschreiten erforderlich wird, gegebenenfalls mit Hilfe des Rechts.“
Bei Lärmbelästigung ist das einfach nachzuvollziehen: Ich lasse die Nachbarn bis zu einem bestimmten Punkt feiern, weil ich mich mit ihnen nicht verkrachen will und sie auch sonst schätze. Dann hole ich aber doch die Polizei, und die darf feststellen, ob die offizielle Lärmgrenze überschritten ist. Das eindeutig negative Urteil muss jedenfalls am Anfang stehen – ich könnte ja auch lärmunempfindlich sein, den Krach sogar wohlwollend als lebendige Stimmung empfinden. Dann ist aber keine Toleranz mehr im Spiel. Sondern Neutralität hier und schlichte Anerkennung dort.
Toleranz tut weh. Vor allem, wenn es anscheinend um grundsätzliche kulturelle, religiöse und politische Unterschiede geht: Schleier und Burka sind für viele keine bloßen Trachten, sondern eine Provokation für eine offene Gesellschaft, in der man sein Gesicht zeigt. Hier ist Toleranz doch keine Tugend, sondern Feigheit gegenüber einer Bedrohung, oder? So dachten auch viele Muslime, als sie aufgefordert wurden, Karikaturen ihres Propheten Mohammed tolerant zu sehen. Warum soll ich eine Verhöhnung meines Glaubens dulden? In den Worten des Philosophen Paul Ricoeur: „Wir lassen nicht so einfach zu, dass diejenigen, die nicht so denken wie wir, dasselbe Recht haben, ihre Überzeugungen kundzutun, denn wir denken, das wäre so, als würde der Wahrheit und dem Irrtum ein gleiches Recht eingeräumt.“
Der zweite Schritt der Toleranz ist also der schwerste. Welche positiven Gründe bewegen mich dazu, etwas zu dulden, das ich für falsch halte? Rainer Forst nennt den „lieben Frieden“, aber auch Respekt und sogar Wertschätzung.
Ich achte auch einen Menschen, der sich für mich falsch verhält: Vielleicht weil ich annehme, dass wir grundsätzlich die gleichen Werte anerkennen. Oder weil ich seine Lebensform und ihre Äußerungen als Ausdruck seines freien Willens und Gewissens respektiere. Oder weil ich merke, dass es nicht um „wahr“ oder „falsch“ geht, sondern um meine subjektive Abneigung, und ich keine guten Gründe finde, dem Anderen sein Verhalten zu verbieten. Solche Motive bilden den Kern der meisten philosophischen Toleranzdefinitionen. Sie sind aber nicht mit Relativismus oder einer alles umarmenden Menschenliebe zu verwechseln. Sie gelten nämlich nur bis zur dritten Komponente, der oft berufenen „Grenze der Toleranz“. Das können gesetzliche Schranken sein, aber auch schwerer definierbare kulturelle Schwellen, die nicht überschritten werden sollen.
Toleranz ist also eine paradoxe Tugend – eine Art wehrhafte Friedfertigkeit. Komplizierter als Tapferkeit, Weisheit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit – die alten Kardinaltugenden. Es ist kein Wunder, das sie in der Philosophiegeschichte sehr viel später zur Geltung kommt.
Bibel:
„So sollst du die Bürger derselben Stadt schlagen mit des Schwertes Schärfe …“
„Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!“
Koran:
„Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft und vertreibt sie …“
„Sagt: ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs …“
„… und sie verbannen mit allem was darin ist, mit der Schärfe des Schwertes!“
Passagen aus Bibel und Koran. Sie zeigen, dass religiöse Toleranz und Intoleranz eine Wurzel haben: den Glauben an einen allmächtigen Gott. Der griechische und römische Polytheismus lässt sich mit vielen Formen der Religionsausübung vereinbaren. Aber nicht mit Islam, Judentum und Christentum. Christen weigern sich, den herrschenden römischen Imperator als Gott zu verehren. Deswegen verfolgt der römische Staat die Christen und versucht sie, zum vorgeschriebenen Kult zu zwingen. Dagegen appellieren die christlichen Autoren an die Gewissensfreiheit. Kirchenvater Laktanz schreibt um 300: „Niemand kann gezwungen werden, etwas gegen seinen Willen anzubeten.“
311 gewährt das Toleranzedikt des Kaisers Galerius den Christen schließlich Religionsfreiheit. Wenige Jahre später macht Konstantin der Große das Christentum zur Staatsreligion – und sofort beginnt ein höchst intoleranter Streit um Orthodoxie und Ketzerei. Der Glaube an den einen allmächtigen Gott kann zur Demut bringen, aber eben auch zur Gewissheit, mit der Wahrheit im Bund zu sein und sie gewaltsam verbreiten zu dürfen, ja zu müssen. Vor allem, wenn „religiöse und gläubige Könige“ die Machtmittel dazu bereitstellen.
Die Folge sind Kreuzzüge und Inquisition, die Gewissensfreiheit des Einzelnen hat wenig zu melden. Das ändert sich erst, als reformatorische Bewegungen die Einheit der Kirche und damit auch den Staat zu zerreißen drohen. Seit der Reformationszeit erschüttern Bürgerkriege Deutschland, England und vor allem Frankreich.
Dort erlässt im Jahr 1598 König Henri IV. das „Toleranzedikt von Nantes“: Um die Ruhe wiederherzustellen, gewährt er den bis dahin verfolgten Hugenotten die Freiheit, ihren Glauben mit Einschränkungen zu praktizieren und staatliche Ämter zu bekleiden. Der Staat bleibt allerdings katholisch. Toleranz ist zunächst eine Notlösung. Sie bezieht sich auch nur auf abweichende Auffassungen des Christentums. Nicht-Christen und Atheisten dürfen nicht auf sie hoffen. Toleranz in diesem Sinne predigen auch die Theologen und Philosophen des Humanismus. Erasmus von Rotterdam, Sebastian Castellio und andere stellen den inneren Glauben über die Dogmen. Baruch de Spinoza und Jean Bodin fordern, dass der Staat sich aus der Religion zurückzieht.
John Locke formuliert die Trennung klar und knapp im „Brief über Toleranz“ aus dem Jahr 1689: „Das Seelenheil ist das ausschließliche Geschäft der Kirche. Und es betrifft in keiner Weise den Staat oder irgendeines seiner Mitglieder, welche Zeremonien zu diesem Zweck abgehalten werden.“
Das ist der Anfang des säkularen Staates, wie wir ihn kennen. Auch Locke kennt allerdings Grenzen der Religionsfreiheit. Wer Gott offensiv leugnet, muss damit rechnen, bestraft zu werden, denn der Glaube gilt weiter als Grundlage des Zusammenlebens.
Bis ins 18. Jahrhundert ist „Toleranz“ immer religiöse Toleranz. Die Philosophen der Aufklärung erweitern den Begriff. Der französische Staatsphilosoph Montesquieu sieht im 18. Jahrhundert die Grundlage des Rechtsstaates nicht mehr nur in konfessioneller Toleranz, sondern in einer Gewaltenteilung, die die Freiheit des Einzelnen auf allen Gebieten der Gesellschaft ermöglicht: „Verfassungsregeln, Strafgesetze, das Zivilrecht, religiöse Vorschriften, Sitten und Gewohnheiten: all das ist ineinander verwoben und beeinflusst und ergänzt sich gegenseitig. Wer da unüberlegt ändert, gefährdet seine Regierung und die Gesellschaft.“
Montesquieu wehrt sich nicht nur gegen die Verfolgung von Ketzern, sondern auch gegen die Verfolgung von Homosexuellen und anderen Minderheiten. In der Aufklärung wenden sich die Philosophen von religiösen Begründungen ab, auch in der Ethik. Einziger Maßstab für falsches oder richtiges Handeln wird die Vernunft. Die Toleranz als bloße Duldung Andersgläubiger, wie sie seit der Reformation praktiziert wurde, erscheint nun unzureichend und schäbig. Johann Wolfgang Goethe schreibt: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“
Anerkennung heißt: der Andere ist mir in jeder Hinsicht gleichgestellt. Er ist ein moralisches Subjekt wie ich, frei, seine Lebensziele auf seine Weise zu verfolgen, solange er mir nicht schadet. Historisch nimmt dieser Toleranzbegriff Gestalt an in den Menschenrechtserklärungen der amerikanischen und der französischen Revolution. In der französischen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1789) heißt es: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden.“
Wie eng der Staat diese Grenzen ziehen soll, ist Auslegungssache. Ein liberales Staatsverständnis wird zum Beispiel von John Stuart Mill 1859 formuliert. Nach ihm soll der Staat von seinen Mitgliedern Schaden abwenden, sonst nichts. Auf keinen Fall soll sich der Gesetzgeber dazu verleiten lassen, die moralischen und ästhetischen Vorlieben von Mehrheiten durchzusetzen, also eine „Leitkultur“. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst: „Richtig ist aber, dass es in einer Gesellschaft immer eine politische Kultur geben muss, des gleichen Respekts, und der rechten Ausformulierung der Institutionen, die dann auch Grenzen zieht gegenüber Rechtsradikalen oder auch extremistischen religiösen oder nicht religiösen Gruppen, die die Grundlagen des Zusammenlebens, die Gleichberechtigung in Frage stellen.“
Thomas Oppermann:
Null Toleranz gegen gewalttätige Salafisten
Frank-Walter Steinmeier:
Für mich bleibt das Prinzip der religiösen Toleranz ein Kern vom großen Erbe der europäischen Aufklärung.
Henryk Broder:
Es gibt eine Toleranz, die sich darin erschöpft, dass nichts getan wird.
Papst Franziskus I.:
Toleranca Zero.
Der bürgerliche Rechtsstaat ist historisch auch ein Triumph der Toleranz. Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts, die gewalttätige Intoleranz von totalitären Herrschaftsformen, lässt uns aber die Grenzen enger ziehen. „Feinde der Toleranz dürfen keine Toleranz beanspruchen“, schreibt der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger 1946. Wir schließen heute manche Meinungen rigider aus, als es das ursprüngliche Konzept der Meinungsfreiheit vorsieht. Rainer Forst: „Nehmen wir zum Beispiel die Intoleranz, die im Rassismus steckt. Darauf ist nicht die Toleranz die richtige Antwort. Wir wollen keine toleranten Rassisten. Wir wollen einfach den Rassismus nicht in unserer Gesellschaft, aber keine toleranten Rassisten.“
Der Staat ist nach wie vor Hüter der Toleranz, aber er kann sich nicht darauf beschränken, Schaden von uns abzuwenden und es ansonsten laufen zu lassen.
Uwe Volkmann, Professor für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Uni Mainz erläutert das: „Nehmen wir im Fall Bundesrepublik Deutschland das Verbot der Verwendung nationalsozialistischer Symbole oder des Hitlergrußes. Das steht unter Strafe und wird bei Verletzung geahndet. Es ist aber nichts, wo man sagen kann, dass dadurch automatisch die Rechte anderer verletzt werden. Natürlich mag es Leute stören, sie mögen es anstößig finden, aber das ergibt noch nicht automatisch eine Rechtsverletzung.“
Diese Grenze der Toleranz wird seit langem von einer großen Mehrheit akzeptiert. Das heißt aber nicht, dass wir die Grenzen auch in anderen Fällen nach Mehrheitsmeinung festlegen dürfen. Uwe Volkmann: „Die Grenzen ändern sich mit der Zeit. Männliche Homosexualität etwa war noch in den 50er- Jahren unter Strafe gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat das gerechtfertigt, darin liege ein Verstoß gegen das Sittengesetz, das erscheint uns heute nachgerade skurril und zeigt, dass die Anerkennung solcher Eingrenzungsgründe möglicherweise dazu tendiert, die Toleranz zu unterminieren und weitergehende Einschränkungen zuzulassen.“
Mit dem Hinweis darauf, dass die Mehrheit heterosexuell ist und viele Homosexuelle ablehnen, lässt sich deren Diskriminierung nicht rechtfertigen. Es gibt aber auch sonst keine nachvollziehbaren Gründe dafür. Diese Diskriminierung wäre moralisch und gesetzlich ungerecht. Der Verzicht auf die Diskriminierung Homosexueller ist deswegen auch kein großzügiges Entgegenkommen. Der Philosoph Rainer Forst legt großen Wert darauf, dass Toleranz nicht gnädiges Wohlwollen des Einzelnen, sondern eine zentrale Kategorie der praktischen Philosophie ist: eine „Tugend der Gerechtigkeit und Forderung der Vernunft. Die Toleranz ist eine Frage der Gerechtigkeit. Also nehmen wir die Frage, ob in einer Gesellschaft eine Religionsgemeinschaft Minarette bauen darf: das ist eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber einer Minderheit. Andere Religionen dürfen Kirchen bauen. warum sollen hier also nicht Minarette, oder wenn man den Fall anders legt, Moscheen stehen?“
Wenn ich Muslimen vorenthalten möchte, was andere religiöse Gruppen dürfen, schulde ich ihnen nachvollziehbare Gründe dafür. Diese Gründe zu finden – oder zuzugeben, dass es keine gibt – das ist die Forderung an die Vernunft, auf der Rainer Forst besteht: „Wenn es Gründe wären, die aus der Perspektive der Gerechtigkeit aufrecht erhalten werden könnten – dann wären es starke Gründe. Aber wenn dahinter Vorurteile stehen, was wohl in solchen Moscheen alles passiert, also Vorurteile, die eine Minderheit generell verdächtigen und diskriminieren, dann sind es keine Gründe. Die Forderung der Toleranz als Forderung der Gerechtigkeit heißt: den anderen als gleichberechtigten Mitbürger anzuerkennen und zu wissen, wenn ich seine Freiheit einschränken will, seine Religion auszuüben, dass ich dann Gründe generieren muss, die nicht auf religiösen Vorurteilen, Vorverurteilungen und Pauschalisierungen beruhen können. Das ist eine Forderung der Gerechtigkeit, also die Anerkennung eines Anderen, dem ich Gründe schulde, die auch er oder sie als freie und gleiche Mitbürger anerkennen können.“
Kein schlichtes „Darum!“, oder „Es war schon immer so“, aber auch nicht: „die Leute haben irgendwie Angst vor euch, das müsst ihr verstehen“ – sondern Respekt vor dem freien und gleichen Mitbürger, dem ich gute Gründe für sein Verhalten zubillige und für mein Verhalten schuldig bin. Das ist eine klassisch-aufklärerische Definition von Toleranz, aber auch eine zeitgemäße. Sie passt in eine Gesellschaft, die immer weniger von gemeinsamen religiösen und kulturellen Überzeugungen und Praktiken zusammengehalten wird.
Dass heftig über die Grenzen der Toleranz gestritten wird, ist in diesem Zusammenhang kein schlechtes Zeichen – solange die „guten Gründe“ der Vernunft in diesen emotionalen Debatten nicht untergehen.
Die Verhandlungen um die Grenzen der Toleranz schlagen sich auch in der Verfassung nieder. Das Gesetz verpflichtet uns inzwischen nicht nur, Leben, Freiheit und Eigentum der Mitbürger zu respektieren, sondern auch den persönlichen Anspruch auf Achtung und individuelle Entfaltung. Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann beschreibt das so: „Tatsächlich muss man sehen, dass wir im Laufe der Zeit dazu übergegangen sind, immer weitere Forderungen der Toleranz zu verrechtlichen. Beispiele dafür sind etwa die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien, die etwa einen Vermieter dazu verpflichten können, einen Vertrag mit jemandem abzuschließen, der einen anderen Glauben hat, ihn dazu verpflichten, nicht zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen zu differenzieren, keinen Mieter abzulehnen, weil ihm seine Hautfarbe nicht gefällt. Das sind auf der einen Seite Antidiskriminierungsgebote, es lässt sich aber auch als Verpflichtung zur Toleranz beschreiben.“
Aber ist es richtig, dass Toleranz so einklagbar wird? Wird diese erweiterte Toleranz nicht zu einer Art Intoleranz gegenüber Menschen mit politisch nicht ganz korrekten Ansichten? Wird nicht der ursprüngliche Sinn der Toleranz, die Bürger vor einer moralischen Gängelung zu schützen, damit in sein Gegenteil verkehrt? Uwe Volkmann: „Das ist in der Tat ein Vorwurf, der gerade gegen die Antidiskriminierungsgesetze erhoben wird, das führe zu einer Moralisierung des Rechts, setze den Bürger überzogenen Moralansprüchen aus. Der einzelne Bürger, sagen viele, kann eben etwas gegen Homosexuelle haben, und er muss das auch äußern dürfen, das gehört letztlich zu seiner Freiheit dazu. Hier müssen wir aber sehen, dass sich die Debattenverläufe mit der Zeit verschoben haben. Wir sehen auch die, die auf diese Weise in ihrem personellen Achtungsanspruch missachtet werden, denen der Achtungsanspruch verweigert wird – das ist eine tiefgreifende Verletzung der persönlichen Integrität. Und hier sagen wir seit einiger Zeit, das muss auch vom Recht aufgefangen werden.“
Keine Toleranz für Intoleranz also? Der Heidelberger Philosoph Rüdiger Bubner schreibt: „Zur Toleranz kann niemand im strengen Sinne verpflichtet werden. Eine Rechtskategorie steckt in ihr nicht.“
Bubner nennt die Toleranz ein „überschießendes Angebot menschlichen Wohlwollens“ gegenüber einem Verhalten, das wir nach wie vor aus guten Gründen ablehnen, aber in Einzelfällen dulden. Sein Modell hat eine Mitte und einen Rand: es richtet sich gegen die Vorstellung einer „multikulturellen Gesellschaft“, in der sich gleichberechtigte Gruppen gegenseitig tolerieren. Bubner hält eine solche Gesellschaft, die sich über die Verschiedenheit ihrer Mitglieder definiert, schlicht für instabil und zum Untergang verurteilt.
Von der entgegengesetzten Seite kritisiert Herbert Marcuse in den 1960er Jahren die „repressive Toleranz“. Nach Marcuse tolerieren bürgerliche Gesellschaften nur solche Überzeugungen, die die bestehenden Machtverhältnisse nicht grundsätzlich in Frage stellen. Öffentliche Debatten seien da nur scheinbar offen und frei, wer revolutionäre Veränderungen wolle, werde von ihnen ausgeschlossen.
Der französische Philosoph Michel Foucault kritisiert die Toleranz als „hegemonialen Begriff“. Die „weißen heterosexuellen Männer“ definierten vom Zentrum der Macht aus, welche Außenseiter und Minderheiten sie tolerieren wollen. Toleranz erscheint hier nur als ein Mittel, ein Weltbild zu zementieren. Die amerikanische Philosophin Wendy Brown formuliert eine ähnliche Kritik. Auch für sie ist Toleranz vor allem Abgrenzung: „Wenn Toleranz das wechselseitige Existenzrecht von Identitäten bezeichnet, die verschiedenen Modi von Überzeugungen, Erfahrungen und Praktiken repräsentieren, so werden diese Identitäten durch die Toleranz so bestimmt, als stünden sie in einer potentiell oder gar inhärent feindlichen Beziehung zueinander.“
Für Wendy Brown sorgt Toleranz nicht dafür, dass Unterschiede zwischen Gruppen und Individuen weniger wichtig werden, sondern sie hebt sie immer wieder hervor und verfestigt sie damit. Deswegen möchte sie die Toleranz nicht zu den Tugenden einer multikulturellen Gesellschaft zählen.
In Europa und den USA kritisieren also manche schon die mühsam erkämpfte Toleranz der bürgerlichen Verfassungen als unzureichend oder sogar rückschrittlich. Anderswo ist die bloße Duldung von religiösen und politischen Minderheiten immer noch eine Utopie. Wir profitieren von einer Geschichte, die den religiösen Terror, wie mühsam auch immer, eingedämmt hat – und stehen unmittelbar Menschen gegenüber, die im Namen ihres Gottes töten.
Das macht den Streit um die Toleranz verwirrend. Das macht es schwer, die Forderungen der Gerechtigkeit und Vernunft zu erfüllen. Ist zum Beispiel eine vollverschleierte Frau nicht immer auch eine Demonstrantin für den Weltherrschaftsanspruch des Islams? Uwe Volkmann: „Die Burka ist in der Tat ein komplexes Problem. Auch hier muss man sehen, wenn wir sie verbieten würden, geht es um einen symbolischen Schutz des öffentlichen Raumes. Wir verbinden mit dem öffentlichen Raum eine wechselseitige Atmosphäre des miteinander Umgehens, die vielleicht auch in einem gewissen Sinne eine Offenheit gegenüber anderen einschließt. Und natürlich geht es dann beim Verbot der Burka auch um den Schutz dieser Kultur, so wie es um einen Schutz dieser Kultur gehen würde, wenn man das Nacktsein auf der Straße verbieten würde. Auch das lässt sich letztlich schwer fassen und in Form gießen, aber wir würden sagen, das ist eine Einschränkung, die wir im Großen und Ganzen akzeptieren. Dass sich der Nackte und die Burka-Trägerin im öffentlichen Raum begegnen und ihre wechselseitigen Vorstellungen aneinander ausprobieren, kann man zwar für eine attraktive Vorstellung halten. Ich selber bin da eher skeptisch.“
Wenn wir die Burka-Trägerin eben noch neben dem Dschihadisten gesehen haben, finden wir sie jetzt unmittelbar neben dem Flitzer aus dem Fußballstadion. Die Philosophie der Toleranz macht uns immer wieder klar: die Verhandlungen zwischen Freien und Gleichen sind schwieriger als die zwischen Duldern und Geduldeten. Die gängigen Argumente sind nicht unbedingt die besten. Und selbst die guten Argumente beenden die Debatte nicht ein für allemal, worauf Rainer Forst hinweist: „Diesen Prozess müssen Gesellschaften, die plural sind und in denen plurale Überzeugungen zunehmen, aushalten. Sie müssen bereit sein, diese Konflikte gerecht auszutragen. Deshalb ist die Toleranz so eine schwere Tugend, wo es weh tut. Sie fordert nämlich die Lebensformen von Mehrheiten nicht selten heraus. Die dann das, was lange galt, plötzlich als ein Privileg einsehen und dann auch abgeben müssen. Und deswegen bleiben diese Konflikte so schwierig, so tiefgehend, aber auch unvermeidbar.“