Читать книгу Die Sehnsucht des Prinzen - Junia Swan - Страница 7

1. Kapitel

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Isabel blickte unruhig aus dem Fenster in Richtung der breiten Zufahrt ihres Anwesens Old Owl Wood. Jeden Augenblick erwartete sie ihren Mann Rick an der Seite seines Bruders Leonard zurück. Während sie sich angespannt auf die Unterlippe biss, strich sie mit einer Hand unbewusst über ihren leicht gerundeten Bauch. Eine kleine Bewegung ließ sie kurz innehalten und lächeln. Ihr viertes Kind strampelte vergnügt in ihrem Leib, dieses Mal würde es ein Bub werden, dessen war sie sich absolut sicher. Nach drei Mädchen war es nun wirklich Zeit für ein weiteres männliches Wesen in ihrem Haushalt! Obwohl Rick seine Töchter abgöttisch liebte, wusste Isabel doch, dass er sich auch einen Sohn wünschte. Natürlich würde er auch eine weitere Tochter herzlich willkommen heißen, trotzdem sah sie seinen sehnsüchtigen Blick, wenn er einen Vater mit seinem Sohn beobachtete. Isabel seufzte und blickte zu der großen Standuhr, die an der Wand ihr gegenüber platziert war und laut tickte. Bald würde es dunkel werden. Wo blieben die beiden nur? Wahrscheinlich waren sie in einem Gasthof eingekehrt, um eine erfolgreiche Jagd zu feiern und hatten dabei die Zeit übersehen. Es sei ihnen vergönnt, dachte sie mit einem ungeduldigen Seufzen, als sie eine Bewegung am Ende der Allee sah und ein Auto erkannte, das auf das Anwesen zurollte. Sofort beschleunigte sich Isabels Herzschlag und sie eilte vor die Tür, um ihren Mann zu erwarten. Mehrere Tage waren vergangen, seit er sie mit den Kindern zurückgelassen hatte, um an seines Bruders Seite das Jagdrevier zu durchforsten. Endlich war Rick zurück! Endlich! Sie hatte ihn so sehr vermisst! Jede Sekunde, die er nicht an ihrer Seite war, schien für sie verloren zu sein. Ach, wie sehr liebte sie ihn! Den Ausdruck seiner Augen, wenn er sie liebevoll musterte, die Wärme seiner Hände, wenn er sie berührte, die Freundlichkeit seiner Worte, wenn er mit ihr sprach, die Sicherheit seiner Präsenz, wenn er bei ihr war. An seiner Seite wurde sie mutiger, stärker und zu einem besseren Menschen. Sie mochte sich selbst, wenn er bei ihr war, denn nicht nur seine Blicke vermittelten ihr, wie er sie sah. Welcher Mensch sie in seinen Augen war. Oh, sie war nicht halb so gut, wenn sie nicht in seiner Nähe war!

Das Auto hielt und Isabel wartete darauf, dass Rick endlich die Tür öffnete, seine Arme ausbreitete, sie darin auffing und an sich zog. Doch sekundenlang rührte sich nichts. Deswegen bückte sie sich ein wenig, um ins Innere spähen zu können. Just in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und der beschuhte Fuß eines Mannes kam zum Vorschein und stellte sich auf den Boden. Im nächsten Moment erkannte sie ihren Schwager Leonard, der sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Nur flüchtig nickte sie ihm zu und erwartete, dass Rick ihm folgen würde. Verwirrt beobachtete sie, dass Leonard die Tür hinter sich zuschlug. Zögernd kehrte sie mit ihrem Blick zu ihrem Schwager zurück. In diesem Augenblick entdeckte sie eine Anspannung in Leonards Miene, die sie besorgt die Stirn runzeln ließ. Noch einmal sah sie in Richtung des Autos und eine dunkle Vorahnung ließ sie den Atem anhalten und ihren Puls rasen.

„Wo ist Rick?“, fragte sie leise.

Leonard griff nach ihrem Arm und wollte sie ins Innere führen, doch Isabel riss sich los.

„Wo ist Rick? Was habt Ihr mit ihm gemacht?“

Die Verzweiflung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, ließ ihn tief Luft holen.

„Gehen wir in den Salon, Isabel! Ich muss mit Euch reden!“

Ihre Augen blitzten feindselig auf, als sie ihn erneut taxierte.

„Ich möchte nicht mit Euch sprechen, sondern mit Rick! Wo ist mein Mann?“

Wieder griff er nach ihr.

„Kommt mit mir in den Salon! Ich werde Euch sofort berichten.“

Alle Farbe wich aus Isabels Antlitz und sie schwankte. Schnell legte Leonard stützend einen Arm um ihre Taille. Sie versuchte sich ihm zu entwinden, doch er zog sie unbarmherzig mit sich ins Innere. Bevor er die Salontür hinter sich schloss, gab er sie frei.

„Setzt Euch aufs Sofa!“

Mittlerweile zitterte sie.

„Bitte, Euer Gnaden, sagt mir, dass es Rick gut geht! Dass ihm nichts passiert ist!“

Leonard wich ihrem Blick aus und fuhr sich durchs rabenschwarze Haar. Wie sollte er ihr erklären, was geschehen war? Wie sollte er ihr jemals sagen, was sich vor wenigen Stunden zugetragen hatte?

Während der langen Fahrt zurück nach Old Owl Wood hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er ihr das Unfassbare erklären könnte. Mit seinem Bericht würde er ihre Welt zum Einsturz bringen, ja, er würde sie aus den Angeln reißen und sie würde explodieren. Nichts wäre mehr so wie zuvor. Wenn doch nur jemand anderer diese Aufgabe übernehmen könnte!

Wie gerne würde er nun zur Bar gehen und sich einen Drink einschenken! Sein Mitgefühl verbot es ihm jedoch, Isabel länger auf die Folter zu spannen. Mit den Augen suchte er die ihren, welche weit aufgerissen waren und ihn flehentlich anstarrten. Als erwartete sie bereits die schreckliche Nachricht, bat aber darum, dass er sie ungeschehen machte.

„Es sind keine guten Neuigkeiten, die ich Euch überbringen muss“, presste er schließlich mit rauer Stimme hervor, während sein Gesicht hart wurde.

Unwillkürlich hob Isabel ihre Hände. Eine ans Herz, die andere vor den Mund. Die ersten Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Rick hatte einen Unfall.“

„Nein!“

Es war ein dumpfer Aufschrei und doch dem Laut eines verwundeten Tieres ähnlich. Panisch sprang sie auf. Er wusste nicht, wie er es sagen sollte, deswegen machte er es kurz: „Er ist tot.“

Mitten in der Bewegung hielt sie inne, dann stürzte sie zu ihm und rüttelte ihn.

„Das kann nicht sein! Ihr lügt! Was habt Ihr mit ihm gemacht? Wo ist er? Wieso seid Ihr so grausam ...“

„Isabel.“

Alle Liebe legte er in ihren Namen und griff nach ihren Händen, die sich in sein Hemd gekrallt hatten.

„Hört mich an! Rick ist tot! Es tut mir so leid, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun ...“

„Nein“, stammelte sie, „nein! Ich kann das nicht glauben! Ich will auf der Stelle zu ihm! Bringt mich zu ihm!“

„Man wird seinen Leichnam morgen früh hierher überführen.“

Die Fäuste unter seinen Handflächen verloren an Kraft und sie suchte seinen Blick. Forschend und ungläubig. Diesmal wich er ihrer Musterung nicht aus und musste beobachten, wie schreckliches Entsetzen sie packte, während sie die Wahrheit erkannte. Dann schrie sie auf, laut und animalisch. Ein Schrei so schmerzlich, wie ihn nicht einmal Tiere im Todeskampf ausstießen. Es war ein Laut, der Leonard in seiner Hoffnungslosigkeit durch Mark und Bein fuhr und ihn mehr quälte als jede Folter. Dann brach sie zusammen und er fing sie im letzten Moment auf, hielt sie in seinen Armen und wollte sie tröstend an sich drücken. Doch sie stieß ihn weg.

„Lasst mich los! Ihr Teufel! Ihr habt ihn getötet! Ihr habt meinen Rick getötet!“

„Nein, Isabel! Es war ein Unfall!“

Rückwärts wich sie vor ihm zurück, die Arme abwehrend erhoben. Im nächsten Moment sackte sie zusammen und landete auf den Knien. Er wollte herbeieilen, um ihr beizustehen, doch er wagte es nicht. Alles, was ihm zu tun blieb, war, sie bei ihrem Todeskampf zu beobachten. Er wurde Zeuge, wie ihr Herz brach, wie sie sich zusammenkrümmte und laut schluchzte. Bekümmert stellte er fest, dass es nichts gab, womit er ihr helfen konnte.

„Isabel“, bat er nach einer Weile und war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt hörte, „lasst mich Euch trösten!“

„Niemals! Ich hasse Euch!“

Ihre Worte ließen ihn innerlich zusammenzucken, obwohl er sich über ihre Gefühle nicht wunderte. Seit jenem Tag, da sie ihm vollkommen ausgeliefert gewesen war, mied sie ihn. Leonard war nicht stolz darauf, dass er sie einst kaltherzig erpresst hatte, eine Nacht mit ihm zu verbringen. Er hatte sich ein teuflisches Spiel ausgedacht sie zu verführen, obwohl sie mit Hendrick verheiratet war.

Er hatte sie geküsst, zärtlich und lange, danach wollte er von ihr die Wahrheit wissen. Wollte wissen, ob ihr seine Liebkosung gefallen hatte. Er hatte ihr versprochen, sie gehen zu lassen, wenn ihr sein Kuss nicht angenehm gewesen wäre. Für den Fall, dass er ihr unangenehm wäre, hatte er ihr zugesagt, sie gehen zu lassen, doch wenn er ihr gefallen würde, müsste sie die Nacht bei ihm verbringen und das Bett mit ihm teilen. Er hatte nicht an seinem Erfolg gezweifelt, zu genau wusste er, wie er sich verhalten musste, damit Frauen in seinen Armen schmolzen wie Schokolade in der Sonne. Sie hatte keine Chance und er hätte seine Freude daran gehabt, sie für ihre Lüge, die er unzweifelhaft erwartete, zu bestrafen und nicht gehen zu lassen. Doch Isabel hatte ihn überrascht. Mit Tränen in den Augen hatte sie ihm gestanden, dass ihr sein Kuss gefiel und sie sich dafür schämte. Dieser Moment, als sie ihm die Wahrheit beichtete, obwohl sie damit ihre Freiheit verlor und sich ihm damit auslieferte, veränderte alles in ihm. Er konnte sie nicht mehr berühren. Sie hatte etwas in ihm zum Schwingen gebracht. Deswegen hatte er sie fortgeschickt, ohne sich ihr noch einmal zu nähern. Es war für Leonard nicht verwunderlich, dass sie ihm bis heute nicht traute und ihm nicht vergeben hatte. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück und er bemerkte, dass Isabel nun so heftig weinte, dass ihr ganzer Körper wie von unsichtbaren Händen geschüttelt wurde. Leonard hätte sich zurückgezogen, würden Hendricks Worte, die er kurz vor seinem Unfall zu ihm gesagt hatte, nicht in seinen Gedanken mit unendlichem Echo widerhallen. Ricks Stimme in ihm machte Leonard benommen und er ließ sich auf einen Stuhl sinken.

„Rick wollte, dass ich mich Eurer annehme, ich musste es ihm versprechen!“, stieß er schließlich hervor und hoffte, dass sie ihn hörte, doch sie ignorierte ihn.

Nun erhob er sich doch und trat zu ihr. Neben ihr ging er in die Hocke.

„Möchtet Ihr erfahren, was passiert ist?“

Ihr Weinen wurde leiser und sie hob ihr Haupt und suchte seinen Blick. Ihr Gesicht war geschwollen und die Augen rot unterlaufen, ihre Lippen bebten und Tränen rannen unaufhörlich über ihre Wangen. Mit den Handflächen versuchte sie diese wegzuwischen, doch es kamen ständig neue nach. Entmutigt ließ sie die Hände in ihren Schoß sinken.

„Es war nur ein kleiner Hügel“, murmelte Leonard, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Vielleicht zweihundert Meter hoch, allerdings mit steil abfallenden Felswänden. Rick hatte einen Fasan getroffen, doch leider lebte das Tier noch. Um es nicht entkommen zu lassen, folgte er ihm und wurde unachtsam. Er rutschte aus, Isabel, und stürzte über die Felskante, fiel zweihundert Meter in die Tiefe!“

Isabel wimmerte und vergrub den Kopf in ihren Händen.

„Ich bin so schnell es mir möglich war zu ihm gelaufen. Er hat noch gelebt, als ich ihn erreichte.“

Leonard umfasste ihre Handgelenke und zog ihre Arme tiefer.

„Seht mich an, Isabel“, bat er sanft und sie gehorchte zögernd.

Sein Blick war eindringlich, als er fortfuhr: „Rick bat mich, Euch auszurichten, dass er Euch über alles liebt. Dass Ihr das größte Geschenk gewesen seid, ein Wunder, auf das er niemals zu hoffen gewagt hatte.“

Schluchzend schloss Isabel die Augen.

„Isabel, das war noch nicht alles.“

Ihre Wimpern flatterten, als sie sich ihm erneut stellte.

„Rick hat mir ein Versprechen abgenommen.“

Während sie ihn anstarrte, zuckte ihr Körper als hätte sie Schluckauf und jedes Atemholen hörte sich an, als würde sie niemals mehr genug Luft bekommen, um am Leben zu bleiben. Was gäbe er darum, den letzten Tag ungeschehen machen zu können! Leonard räusperte sich. Er ahnte, dass sie die nächsten Worte nicht gerne hören würde.

„Ich musste ihm versprechen, mich um Euch und die Kinder zu kümmern.“

Ungläubig runzelte sie die Stirn und er konnte an der Art, wie sie ihr Kinn anspannte, Wut aufsteigen sehen.

„Ihr lügt! Das ist nicht wahr! Das hätte er niemals gefordert!“

Sie kämpfte gegen seinen Griff an und er gab sie frei.

„Ihr habt ihn gehasst! Weshalb sollte er uns unter Euren Schutz stellen?“

Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder.

„Wir waren keine Feinde mehr, Isabel. Ihr wisst, dass wir vor Jahren Freunde geworden sind.“

Heftig schüttelte die junge Frau den Kopf.

„Ihr habt das alles geplant! Hinterhältig geplant! Wahrscheinlich habt Ihr meinen Mann über den Felsen gestoßen.“

Ihre Anschuldigung traf Leonard mit voller Wucht. In ihm fühlte es sich an, als würde sich ein Vakuum ausdehnen, so geschockt war er. Man konnte ihm viel vorwerfen und das zurecht – doch dass ihm seine Schwägerin einen Mord zutraute, machte ihn fassungslos. Er fühlte einen Schmerz in seiner Brust, als hätte sich ein Speer tief hineingebohrt.

Er wusste nicht, was er antworten sollte. Es gab nichts, was sie von seiner Unschuld überzeugen würde. Wie in Trance beobachtete er, dass sie sich aufrichtete. Im nächsten Moment sprang sie in seine Richtung und rammte ihn, sodass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten stürzte. Er landete unsanft auf seiner Kehrseite, doch im nächsten Moment fiel sie auf ihn, weshalb er sich zurückfallen ließ. Sie stützte sich auf seinem Brustkorb ab, rappelte sich zitternd ein wenig auf, sodass sie rittlings auf seiner Hüfte saß und er konnte unbändigen Zorn in ihrem Blick flackern sehen. Plötzlich holte sie aus und schlug auf ihn ein. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu wehren, hob seine Hände und legte sie um ihre Taille, um nicht in Versuchung zu kommen sich zu verteidigen. Erst als die Kraft ihrer Schläge nachließ, umfasste er ihre Oberarme und zog ihren Rumpf wieder näher an seinen. Mit Schwung rollte er sie herum und kam auf ihr zu liegen. Er hielt sie unter sich fest und blickte sie forschend an. Mit Tränen in den Augen starrte sie zurück. Ihre Brust hob und senkte sich schwer.

„Ich hasse Euch! Ich hasse Euch so sehr! Wieso hat es nicht Euch an seiner Stelle treffen können?“

Das hatte er sich ebenfalls bereits gefragt und er seufzte müde. Die ganze Zeit hatte er sich überlegt, was er hätte tun können, um dieses Unglück zu verhindern.

„Ihr müsst mir glauben. Wenn ich sein Leben gegen meines hätte tauschen können, ich hätte es getan!“

„Oh, Ihr redet groß und heldenhaft daher, jetzt, da Ihr in Sicherheit seid!“

Unaufhaltsam rannen Tränen über ihre Wangen, so als wollten sie niemals mehr versiegen. Mit den Händen umfasste er ihr Gesicht und versuchte mit den Daumen ihre Wangen zu trocknen. Sie wollte sich ihm entwinden, doch er hielt sie umfangen. Er schluckte und räusperte sich.

„Es ist einerlei, ob Ihr mir glaubt oder nicht. Ich habe Rick versprochen, für Euch und die Kinder zu sorgen. Ich werde dieses Versprechen halten! Ob Ihr es wollt oder nicht.“

In der nächsten Sekunde stemmte er sich in die Höhe und kam auf die Füße, wobei er sich unauffällig über das Steißbein strich, das durch den Sturz ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden war. Um ihr aufzuhelfen, streckte er ihr eine Hand entgegen, doch sie drehte sich von ihm weg.

„Lasst mich in Ruhe! Ich will Euch nicht mehr sehen!“

„Kommt mit mir, Isabel! Ich bringe Euch auf Euer Zimmer. Denkt an das Kind, das Ihr erwartet!“

Unbewusst legte sie eine Hand über ihren Bauch, dann begann sie erneut zu weinen und krümmte sich zusammen. Der Gedanke daran, dass Rick sein Kind niemals würde kennenlernen, war zu viel. Besorgt beugte sich Leonard über sie.

„Darf ich Euch nach oben tragen? Bitte, lasst mich Euch helfen!“

„Nein, nein“, wehrte sie ab und krümmte sich noch mehr zusammen.

Ratlos betrachtete er seine Schwägerin und ihm kamen Worte in den Sinn, die er einst zu Rick gesagt hatte: Frage nicht, sondern mach einfach! Leonard kam es so vor, als würde sein Bruder nun mit ihm sprechen. Entschlossen bückte er sich und hob Isabel auf seine Arme und als sie zu kämpfen begann, drückte er sie enger an sich und fing ihre Hände ein.

„Ruhig“, flüsterte er tröstend an ihrer Wange. „Ruhig! Ich bringe Euch nur in Euer Zimmer.“

Als sie bemerkte, dass ihre Abwehr nichts half, gab sie auf. Sie ließ ihren Kopf erschöpft gegen seinen Brustkorb sinken. Doch alles in ihr rebellierte gegen seine Nähe und als er sie in ihrem Gemach aufs Bett legte, wich sie vor ihm zurück. Dabei fiel ihr Blick auf Ricks Seite, seine Decke, sein Kissen und erneut zuckte unsäglicher Schmerz durch ihren Körper. Niemals mehr würde ihr Mann neben ihr liegen. Nie mehr ihre Lippen küssen und ihr des Nachts Wärme spenden. Wenn sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, war er nicht mehr da! Zögernd setzte sich Leonard auf die Bettkante.

„Nicht“, flüsterte sie, doch er schüttelte den Kopf.

„Ich mache mir Sorgen um Euer ungeborenes Kind“, erklärte er mit ernstem Blick. „Ihr dürft Euch nicht dermaßen gehenlassen!“

Ungläubig starrte Isabel ihr Gegenüber an. Sie konnte nicht fassen, was er soeben gesagt hatte!

„Wie könnt Ihr es wagen ...“

„Denkt an das Kind!“

„Tue ich!“, schrie sie außer sich. „Rick wird es niemals kennenlernen!“

„Ihr vielleicht auch nicht, wenn Ihr so weitermacht!“

Empört schnappte sie nach Luft.

„Ihr verbietet mir zu trauern?“

„Nein.“ Er legte eine Hand über ihre, doch sie entzog sich seiner Berührung. „Aber versucht, Eure Emotionen im Griff zu behalten.“

Während sie den Kopf schüttelte, schwand die Wut aus ihrem Blick.

„Wie soll ich das nur tun?“, wimmerte sie. „Ich liebe ihn doch so sehr! So über alle Maßen! Er war alles für mich! Bitte, sagt, dass es nicht wahr ist! Dass Ihr nur einen üblen Scherz mit mir treibt.“

Leonard schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, holte er tief Luft und sagte mit fester Stimme: „Nicht einmal ich würde mir einen solchen Scherz erlauben. Es tut mir sehr leid, Isabel, Rick wird nicht mehr zurückkommen.“

Schluchzend griff sie nach einem Kissen und vergrub den Kopf darin.

„Geht jetzt“, bat sie mit gedämpfter Stimme und Leonard erhob sich.

Nach einem letzten sorgenvollen Blick in ihre Richtung, verließ er den Raum.

Annabelle, seine achtjährige Nichte, erwartete ihn mit verständnislosem Blick auf dem Gang.

„Was ist mit Mutter?“

Das zarte Stimmchen klang überaus beunruhigt. Leonard seufzte ratlos. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er zu dem Kind sagen sollte, wie er es trösten konnte.

„Deine Mutter ist etwas erschöpft und braucht Ruhe. Ich bin sicher, morgen wird es ihr bessergehen.“

Annabelle nickte nachdenklich und fuhr herum, als die Stimme des Kindermädchens nach ihr rief. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er ihr nach, dann starrte er auf die Tür zu Isabels Gemächern. Sicherheitshalber sollte er das Zimmer neben ihr beziehen. Allerdings hatte er Skrupel, Ricks Räumlichkeiten zu nutzen. Doch er musste jederzeit hören, wie es der Trauernden erging. Wenn irgendetwas passierte und er nicht in ihrer Nähe wäre, würde er sich das ein Leben lang nicht verzeihen. Deswegen gab er sich einen inneren Ruck und öffnete nach wenigen Schritten die Zimmertür seines Bruders. An der Schwelle hielt er inne. Der Raum wirkte, als hätte Rick ihn gerade erst verlassen. Sein Geruch hing noch in der Luft. Mit schwerem Herzen trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Unwillkürlich dachte er an die letzten Jahre zurück, bis er dann bei jenem schrecklichen Ereignis innehielt. Jahre, in denen sie sich einander angenähert hatten.

Dank Isabel hatte Leonard den Neid auf seinen älteren Bruder ablegen können. Ursprünglich wäre Rick der Erbe des Herzogtums St. Ives gewesen, doch durch Leonards Ränke war fast der gesamte Besitz auf Leonard übergegangen. Alles, was Rick geblieben war, war das Anwesen Old Owl Wood und eine monatliche Rente. Trotzdem wusste Leonard, dass Rick ihm vergeben hatte. In den letzten Jahren waren sie so etwas wie Freunde geworden. Hin und wieder machten sie einen gemeinsamen Jagdausflug oder ritten für mehrere Tage durch das Land.

Leonard kam wieder der Fasan in den Sinn, den Rick angeschossen hatte, ebenso wie Ricks Wut über sein eigenes Versagen. Diese Versagensängste waren immer etwas gewesen, mit denen sein Bruder zu kämpfen gehabt hatte, doch Leonard meinte, dass er diese in den letzten Jahren eigentlich in den Griff bekommen hätte. Selten hatte er Rick derart wütend wie bei diesem Vorfall erlebt. Und das wegen einer Bagatelle wie dieser.

Leonard starrte auf ein Bild, das an der Wand hing. Merkwürdige bunte Farbkleckse verschmolzen in diesem außergewöhnlich modernen Gemälde. Irritiert schüttelte der Prinz den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass Rick einen Hang zu derlei dadaistisch angehauchten Werken hatte.

Es war ein wirklich befremdliches Gefühl, sich hier zwischen seinen Habseligkeiten zu bewegen. Noch vor wenigen Tagen war Rick selbst hier gestanden, hatte gesehen, was er nun sah, gerochen, was er nun roch, und gewusst, dass Isabel nur durch eine Wand von ihm getrennt war. Wie hatte er sich wohl gefühlt? Was hatte er gedacht? Was hatte ihn bewegt? Verdammt, was war ihm nur durch den Kopf gegangen? Hatte er an seine Töchter gedacht? An Annabelle, Victoria und die kleine Lizzy?

Leonard ging unruhig auf und ab. Er hatte kein Recht, hier zu sein!

Als sich die Verbindungstür öffnete, fuhr er ertappt herum. Isabel trat in den Raum und erstarrte, als sie ihn erkannte.

„Was macht Ihr hier? Ihr habt hier nichts zu suchen!“

Er überlegte, ob er zu ihr gehen und sie stützen sollte, da sie nicht sehr sicher auf den Beinen wirkte. Als hätte sie seine Gedanken erraten, klammerte sie sich an den Türrahmen.

„Ich denke, es wäre das Beste, wenn ich mich hier einrichte. Solltet Ihr Hilfe brauchen, bin ich gleich zur Stelle.“

Heftig schüttelte Isabel den Kopf.

„Wagt es ja nicht!“, drohte sie. „Das sind Ricks Räume und Ihr habt hier nichts verloren, Euer Gnaden! Ich möchte, dass Ihr geht!“

Leonard verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich werde bleiben und diese Anrede könnt Ihr getrost ad acta legen. In Anbetracht der Umstände wäre es passend, wenn Ihr mich mit meinem Vornamen anredetet.“

„Ich archiviere nicht, Euer Gnaden“, fauchte sie. „Abgesehen davon kann ich keine Umstände erkennen, die mich dazu veranlassen würden, Euch mit Leonard anzusprechen. Alles, was ich mir wünsche, ist, dass ihr verschwindet! Lasst mich in Ruhe hier sein! Es ist Ricks Zimmer!“

Nun stieß sie sich doch vom Türrahmen ab und durchquerte den Raum. Da er sich nicht bewegte, versuchte sie, ihn zu ignorieren. Schließlich öffnete sie die Tür zum Ankleidezimmer. Er beobachtete, wie sie diese hinter sich zuzog. Verständnislos runzelte er die Stirn und wartete, dass sie zurückkehrte. Doch nichts bewegte sich. Es war, als hätte die Ankleide Isabel verschluckt. Unruhig setzte er sein Auf- und Abgehen fort, dabei fiel sein Blick erneut auf das Bild mit den Farbklecksen. Er trat näher, um herauszufinden, wer es gemalt hatte. Als er sich zu der Leinwand beugte, entdeckte er einen Riss, der sich von einer Seite auf die andere zog. Überrascht hob er das Bild von der Wand und drehte es um. Vorsichtig ließ er eine Fingerspitze entlang des Risses gleiten. Er hatte den Eindruck, dass jemand mit dem Messer hineingestochen haben musste. Den daraus entstandenen Spalt hatte er dann mit den Fingern vergrößert. Er zuckte zusammen, als Isabel wieder in den Raum trat. Sie hielt eines von Ricks Hemden in ihren Händen und starrte ihn nun erschrocken an.

„Hängt es wieder an die Wand!“

„Es ist kaputt.“

Zornig kam sie auf ihn zu und entriss ihm das Gemälde.

„Das geht Euch nichts an!“

Dann blickte sie auf den Riss und er konnte sehen, wie sie schmerzlich zusammenzuckte. Im nächsten Moment begann sie wieder zu weinen.

„Isabel ...“

Schluchzend ließ sie das Bild einfach auf den Boden fallen und floh zurück in ihre Gemächer, Ricks Hemd fest umklammert.

Leonard hängte das Gemälde wieder an seinen Platz, dann begab er sich in Ricks Arbeitszimmer. Er musste dringend eine Nachricht schreiben und nach London schicken. Eigentlich hatte er geplant, in der folgenden Woche zu einer einjährigen Weltreise aufzubrechen. Er sah keine Möglichkeit, diese nun antreten zu können. Woher sollte er wissen, wie lange er hier gebraucht wurde?

Gegenüber dem Schreibtisch hing ein Bild von Isabel, auf dem sie fröhlich lachte. Ein ungewöhnliches Motiv für ein Portrait, doch Leonard konnte sofort nachvollziehen, warum sein Bruder es hierher gehängt hatte. Isabel war wunderschön und sprühte vor Lebensfreude. Allein dieser Anblick genügte, um einen jegliche Sorgen vergessen zu lassen.

Als er den Brief versiegelt hatte, erhob er sich und trat näher zu dem Gemälde. Er hatte sofort erkannt, dass es von Luca Romano, dem größten Maler dieser Zeit, gemalt worden war. Auch von Leonard selbst hingen zahlreiche von Romano gemalte Porträts an unterschiedlichen Orten.

Eine Unebenheit veranlasste ihn dazu, sich näher zu beugen und er sog überrascht Luft in seine Lungen, als er erkannte, dass auch dieses Gemälde von einem Riss verunstaltet wurde. Zum Glück fiel dieser Mangel nur bei näherer Betrachtung auf! Doch es war eine Schande! Wer machte so etwas? Wenn es Isabel besserging, wollte er sie danach fragen.

Die Sehnsucht des Prinzen

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