Читать книгу Die Sehnsucht des Prinzen - Junia Swan - Страница 8

2. Kapitel

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Früh am nächsten Morgen erwartete Leonard den Bestatter mit dem Sarg. Er hatte sehr schlecht in Ricks Bett geschlafen. Außerdem war es ihm schwergefallen, das Schluchzen aus dem Nebenzimmer zu ignorieren. Erst im Morgengrauen war Isabel wohl vor Erschöpfung eingeschlafen.

Er hörte den Motor eines Autos und erhob sich. Sein Herz pochte angestrengt. Er hatte den Dienstboten aufgetragen, einen der kleineren Salons für die Aufbahrung vorzubereiten. Dorthin führte er wenige Minuten später den Bestatter und seine Träger.

Als der Sarg auf seinem Platz stand, hoben sie den Deckel ab und stellten ihn zur Seite. Dann vereinbarten sie, am folgenden Tag zu kommen, um den Sarg wieder abzuholen. Als sie gegangen waren, wagte Leonard einen ersten Blick auf den Leichnam. Es war nicht mehr sein Bruder, der da vor ihm lag, obwohl diese leere Hülle eines Menschen ihm auf eine merkwürdige Weise ähnlich sah. Doch alles, was Rick ausgemacht hatte, war nicht mehr hier. Leonards Herz zog sich zusammen und er trat noch einen Schritt näher. Der Bestatter hatte gute Arbeit geleistet und die schweren Kopfwunden gekonnt kaschiert.

„Rick“, sagte er leise, doch der Fremde vor ihm rührte sich nicht. „Ich werde jetzt Isabel holen.“

Isabel lag, nur mit einem von Ricks Hemden bekleidet, auf dem Bett, den Kopf unter einem Kissen vergraben, die Beine hatten sich von der Decke freigestrampelt. Leonard atmete tief durch und beugte sich über sie. Sanft berührte er sie an der Schulter. Am liebsten würde er sie schlafen lassen, doch er wusste, dass sie zu Rick wollte und es ihm nachtragen würde, wenn er sie nicht weckte.

Mit einem Ruck fuhr sie in die Höhe, während das Kissen zur Seite fiel. Im ersten Moment starrte sie ihn verwirrt an, doch in der nächsten Sekunde kehrte der Schmerz in ihren Blick zurück.

„Was wollt Ihr?“, fragte sie feindselig.

„Der Bestatter hat Rick gebracht.“

Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und eilte zur Tür.

„Ihr solltet etwas überziehen, Isabel!“

Sie hielt inne, nur um fahrig nach einem Morgenmantel zu greifen und hineinzuschlüpfen. Während sie ihn zuband, verließ sie den Raum. Verdattert sah er ihr einige Sekunden lang nach, dann folgte er ihr.

Im Salon brannten Kerzen und es herrschte eine Stille, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Isabel stand noch immer in der Tür, als Leonard sie einholte, als wagte sie nicht weiterzugehen. Doch dann straffte sie die Schultern und setzte einen wackligen Schritt vor den anderen. Als sie den Toten endlich erreichte, knickten ihre Knie ein und sie klammerte sich an den Sarg, um nicht zu fallen. Er war weg! Rick war weg! Erst jetzt wurde ihr die Endgültigkeit dieser Tatsache mit allen Konsequenzen bewusst.

„Liebster“, schluchzte sie und hob eine Hand.

Ganz zart strich sie über seine kalte Wange, die sich so anders anfühlte als früher. Leonard schloss leise die Tür und wartete daneben ab. Dann sah er, wie sie sich über ihren Mann beugte und einen Kuss auf seinen Mund hauchte. Auch die kalten Lippen fühlten sich auf ihrem Mund fremd an.

„Er schläft doch nur, Prinz Leonard, nicht wahr? Er schläft nur.“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme schnürte ihm den Hals zu. Er machte einen Schritt in ihre Richtung. Nur kurz hatte sie zu ihm gesehen, jetzt drehte sie sich wieder zu Rick.

„Ihr müsst mir helfen“, flehte sie plötzlich und wandte ihm erneut ihr Antlitz zu.

„Wobei?“

„Ich möchte mich noch einmal zu ihm legen.“

„Das ist vollkommen unmöglich!“

Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Bitte! Ein einziges Mal!“

„Ihr könnt Euch doch nicht einfach zu ihm in den Sarg legen!“

„Ich brauche Eure Hilfe. Hebt mich hoch und lasst mich zu ihm!“

Alles in Leonard sträubte sich gegen diesen verrückten Wunsch.

„Bitte! Ich muss ihn noch einmal fühlen! Ein letztes Mal will ich meinen Kopf an seine Schulter betten und meine Hand auf sein Herz legen! Bitte!“

Tränen rannen über ihre Wangen und er konnte sie nicht abweisen. Ohne von der Sache überzeugt zu sein, ging er etwas in die Knie und hob sie auf seine Arme. Es war das erste Mal, dass sie sich nicht gegen seine Nähe wehrte. Dann trat er neben den Sarg und zögerte.

„Bitte!“, flüsterte Isabel und er spürte, dass sie zitterte.

Ganz vorsichtig bettete er sie auf den Toten und zog seine Arme zurück. Isabel schloss die Augen und schmiegte ihr Wange an Ricks Halsbeuge. Eine ihrer Hände legte sie auf seine Brust. Leonard sah, dass sie weinte.

„Es fühlt sich nicht mehr an wie früher“, wimmerte sie und Leonard wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Da öffnete sie die Augen und suchte seinen Blick. Zögernd streckte sie eine Hand nach ihm aus und er kam ihrer Aufforderung sofort nach und hob sie wieder empor. Sie schloss die Augen, vergrub den Kopf an seinem Hals und legte eine Hand an seine Brust. Er wagte nicht, sich zu bewegen, während sie seinem Herzschlag lauschte und das beruhigende Pulsieren unter ihren Fingerspitzen pochen fühlte. Er senkte seinen Kopf ein wenig und sein Kinn streifte ihre Stirn. Ihr Atem kitzelte die Haut seines Halses. Mit den Lippen verharrte er an ihrem Haaransatz, ohne sich zu bewegen, gefangen von ihrer zerbrechlichen Gegenwart. Irgendwann hob sie den Kopf.

„Rick“, flüsterte sie, „Rick!“

Ihre Lippen öffneten sich und Leonard starrte darauf. Es war eine süße, langersehnte Einladung, doch an einen anderen gerichtet. Er räusperte sich.

„Isabel, was haltet Ihr davon, eine Kleinigkeit zu essen? Damit das Kind nicht verhungert?“

Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah ihn an. Es wirkte, als würde sie von weither zu ihm zurückkehren. Sofort wich sie etwas vor ihm zurück und er stellte sie vorsichtig auf den Boden.

„Wieso fühlt Ihr Euch mehr an wie Rick als er selbst?“

„Isabel, Rick ist tot!“

„Ich weiß“, fauchte sie wütend, „haltet Ihr mich für dämlich? Er ist tot! Ich weiß es, zum Kuckuck! Ich weiß es! Und Ihr, mein größter Feind, seid hier und seht ihm so ähnlich, dass es wehtut!“

Er konnte ihren schmerzlichen Blick nicht ertragen und wandte den Kopf ab.

„Nicht so laut! Denkt an den Toten!“

Isabel lachte auf und es klang erschreckend bitter.

„Wieso? Glaubt Ihr, es stört ihn? Glaubt Ihr, Rick macht das noch etwas aus?“

Sie fuhr herum, trat wieder neben den Sarg und ballte eine Hand zur Faust. Damit schlug sie dem Verstorbenen, nicht sonderlich fest, mehr wie eine symbolische Handlung, auf die Brust.

„Wieso hast du mich allein gelassen? Wieso bist du einfach gegangen?“

Nun schrie sie. Da trat Leonard hinter sie, umfasste sie an der Taille und zog sie von dem Leichnam fort.

„Schluss, Isabel!“

Doch sie strampelte in seinen Armen, woraufhin er seinen Griff verstärkte.

„Lasst mich los!“, kreischte sie.

„Beruhigt Euch, ich bitte Euch!“

Sie atmete schwer, hörte aber auf, gegen ihn anzukämpfen. Zögernd stellte er sie auf die Beine.

„Wir werden etwas essen gehen. Ich bestehe darauf, dass Ihr mich begleitet!“

Feindselig fixierte Isabel ihr Gegenüber.

„Ich möchte bei Rick bleiben.“

„Ihr könnt nachher hierher zurückkommen, doch zuvor müsst Ihr etwas essen!“

„Wer hat Euch das Recht gegeben, mich herumzukommandieren?“

„Rick.“

„Pah!“

Noch bevor sie etwas sagen konnte, umschloss Leonard ihren Oberarm und führte sie aus dem Raum in Richtung Speisezimmer. Erschöpft ließ sie es geschehen, ihr Kopf hämmerte schmerzhaft und sie wollte nichts lieber tun, als sich ins Bett zu legen und nie wieder aufzuwachen.

Mit Argusaugen beobachtete er sie und drängte sie, ausreichend zu essen und zu trinken. Isabel wirkte gänzlich verloren, als sie geistesabwesend kaute. Ihr Morgenmantel stand ein wenig offen und Ricks Hemd blitzte darunter hervor. Ihr Haar hing wirr um ihren Kopf, als hätte sie vor Wochen das letzte Mal eine Bürste hindurchgleiten lassen. Wenn Rick sie so sähe, würde er Leonard die größten Vorwürfe machen, nicht besser auf sie Acht zu geben. Leonard verdrängte den Gedanken an ihn. Er war nicht mehr hier.

„Wir müssen es den Kindern sagen“, meinte er leise, bevor sie den Teller endgültig von sich schob.

Ihre Hand zerknüllte die Stoffserviette, die neben dem Teller lag.

„Ich kann das nicht“, flüsterte sie mit brechender Stimme.

„Wir werden es gemeinsam machen.“

Sie hob den Kopf, um ihn regungslos zu mustern und er fragte sich, was in ihr vorging.

Während Isabel versuchte, in ihm zu lesen, meinte sie, das erste Mal so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen zu fühlen. Leonard war hier und würde ihr beistehen. Sie musste nicht alles allein durchkämpfen. Um ihm nicht zu zeigen, was sie bewegte, senkte sie ihr Haupt und starrte auf ihre Hände.

„Sollen wir?“, fragte er und erhob sich.

Isabel nickte und folgte ihm aus dem Speisezimmer. Hinter ihm stieg sie die Treppe in den ersten Stock hinauf.

„Vielleicht solltet Ihr Euch vorher ankleiden?“, schlug er vor, als sie sich in Richtung der Kinderzimmer wandte.

Isabel sah an sich herunter und plötzlich erkannte sie, wie nachlässig sie sich vor ihrem Schwager gezeigt hatte. Erschrocken hob sie den Kopf und errötete. Mit den Händen fuhr sie durch ihr Haar.

„Himmel!“

Statt einer Antwort öffnete er die Tür zu ihren Gemächern und sie huschte an ihm vorbei und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Eine halbe Stunde später klopfte sie an die Verbindungstür und trat ein. Leonard saß auf einem Stuhl, ein leeres Glas in der Hand.

„Ihr trinkt bereits am frühen Morgen?“

„Nur zu besonderen Anlässen.“

Er erhob sich und stellte das Glas auf einen Beistelltisch. Sie sollte nicht merken, wie hilflos und unsicher er sich fühlte, nun, da er vor drei kleine Kinder treten musste, um ihnen zu erklären, dass ihr Vater nicht mehr zurückkehren würde. Wieso, Rick, hast du mir das angetan? Ich bin kein Vater, ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich sagen soll!

Entschlossen straffte er die Schultern und warf Isabel einen schnellen Blick zu. Sie beobachtete ihn aus vom Weinen geröteten Augen.

„Ich weiß nicht, wie ich es ihnen vermitteln soll“, gestand sie mit rauer Stimme, genauso hilflos und überfordert mit der Situation wie er.

„Wir werden ihnen sagen, dass Rick eine lange Reise angetreten ist. Irgendwann werden sie nicht mehr nachfragen.“

Isabel nickte.

„Ja, so werden wir es machen.“

Sie wartete, bis Leonard die Tür geöffnet hatte, dann folgte sie ihm.

Niemals zuvor schien ihr der Weg zu den Zimmern ihrer Kinder so weit. Als sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, schwappte Kindergeschrei und Lachen in ihre Richtung und Isabel atmete tief durch.

„Mutter und Onkel Leonard!“, rief Victoria und stürzte in ihre Richtung. „Onkel Leonard, bist du zu Besuch? Hast du Vater mitgebracht?“

Sie umschlang sein rechtes Bein und er tätschelte unbeholfen ihren Kopf. Das Kindermädchen drückte Isabel die kleine Lizzy in die Arme und diese hauchte ihrer Tochter zärtliche Küsse auf die Wangen. Es fiel ihr schwer, die Kinder anzusehen, ein jedes erinnerte sie an ihren Verlust. Annabelle kam mit einem Buch in ihre Richtung und bat ihren Onkel, es ihr vorzulesen. Der Situation nicht gewachsen, warf er Isabel einen hilflosen Blick zu. Diese reichte Lizzy zerstreut gerade dem Kindermädchen zurück, dann küsste sie Annabelle und Victoria, drehte sich um und verließ mit abwesendem Blick den Raum. Nun richteten sich zwei große Augenpaare auf ihn, ihre Gesichtchen zwei riesige Fragezeichen.

„Was ist mit Mutter? Wo ist sie hingegangen?“

Leonard räusperte sich unbehaglich.

„Vielleicht will sie eurem Vater einen Brief schreiben. Er ist nämlich auf Reisen gegangen und wird sehr lange nicht mehr hierher zurückkommen.“

Enttäuscht sahen ihn seine Nichten an.

„Aber warum hat er sich denn nicht verabschiedet?“, wollte Annabelle wissen.

„Das hat er doch! Erinnert ihr euch nicht daran, als ich ihn abgeholt habe? Es ist schon ein paar Tage her. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass er jedem von euch einen Kuss gegeben hat und ich meine mich zu erinnern, dass er euch bat, brav zu sein.“

„Stimmt“, stellte Annabelle fest. „Er hat sich verabschiedet.“

Sie blickte auf das Buch in ihren Händen, dann sah sie wieder zu ihrem Onkel empor.

„Liest du mir die Geschichte jetzt vor?“

„Gut“, gab er sich geschlagen und befreite sich aus Victorias Umklammerung.

Unsicher hob er sie auf seine Arme und ging mit ihr zu einem gemütlichen Lehnstuhl. Vorsichtig setzte er Victoria auf einen seiner Oberschenkel, während Annabelle auf den anderen kletterte. Vertrauensvoll reichte sie ihm das Buch und Beklemmung machte sich in ihm breit. Diese kleinen Menschen zählten auf ihn, schenkten ihm ihr ganzes Vertrauen. Es war ein ungewohntes Gefühl, so dringend gebraucht zu werden. Bisher hatte er es vermeiden können, doch nun … Es machte ihm Angst. Das alles hier war ihm eine Nummer zu groß. Er hatte kein Problem damit, das Herzogtum zu verwalten, vielleicht auch deswegen, weil die größte Last noch auf den Schultern seines Vaters ruhte. Doch das hier, diese Abhängigkeit seiner Nichten und vielleicht auch seiner Schwägerin von ihm, machte ihn komplett unruhig. Es war einfach zu viel: Sein Bruder lag tot einen Stock tiefer in einem engen Sarg, die Liebe seines Lebens weinte sich die Augen aus dem Kopf und seine Nichten forderten seine Aufmerksamkeit ein. Zum Glück hatte er den Bestatter damit beauftragt, die traurige Nachricht zu verbreiten. Er rechnete damit, dass die Verwandtschaft bald anreisen würde. Ob Isabel bedachte, dass sich Old Owl Wood bald in einen Taubenschlag verwandeln würde?

Nachdem sich Leonard endlich aus den Fängen der Kinder befreit hatte, fühlte er sich, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen und es wäre bereits weit nach Mitternacht. Dabei war es noch nicht einmal Mittag!

Der Butler meldete ihm die Ankunft Pater Pauls. Ein Glück, der Geistliche wüsste vielleicht, wie man Isabel helfen konnte! Wo war sie überhaupt? Er klopfte an ihre Gemächer, doch sie reagierte nicht. Deswegen suchte er weiter und fand sie im Salon neben seinem aufgebahrten Bruder. Sie stand neben ihm und starrte auf ihn herab, mit ihren Gedanken weit weg. Gut, sie stellte im Moment keine unmöglichen Dinge an, deswegen konnte er ohne Sorge zu Pater Paul gehen.

Nachdem sie einander begrüßt hatten, wollte der Pater wissen, wie es Isabel ging.

„Sehr schlecht“, erwiderte Leonard. „Vielleicht können Sie ihr helfen?“

Pater Paul zuckte mit den Achseln. „Mylady ist sehr stark. Ich bin überzeugt, dass sie ihr Leben bald wieder im Griff hat. Doch ich würde ihr gern Worte des Trosts vermitteln.“

„Sie ist bei dem Verstorbenen. Es wäre schön, wenn Sie eine Totenmesse halten könnten.“

„Natürlich.“

„Ich bringe Sie zu Lady Isabel.“

Sie hatte sich in den letzten Minuten nicht bewegt und zuckte zusammen, als Pater Paul ihr eine Hand auf die Schulter legte. Als sie ihn erkannte, lächelte sie müde.

„Pater! Seht nur! Jetzt ist es geschehen!“

Der Angesprochene drehte den Kopf in Ricks Richtung. Es war unerträglich zu sehen, wie reglos er nun hier lag, dieser starke Mann, dem er jahrelang Unrecht getan hatte. Voller Entsetzen erinnerte er sich an jenen Tag, da Rick unter seinen Händen fast gestorben wäre, wenn Isabel nicht für ihn gekämpft hätte.

„Nun geht es ihm gut, immerhin ist er bei unserem Herrn!“

Pater Paul malte ein Kreuz auf die Stirn des Toten.

„Aber er sollte hier sein! Hier wird er dringender gebraucht als im Himmel!“

„Gottes Wege sind unergründlich. Habt Vertrauen, Mylady!“

Isabel wandte sich ab und entdeckte Leonard, der noch immer neben der Tür stand und vor sich auf den Boden starrte. Trotzdem entging ihm nicht, dass sie zusammenzuckte, als sie ihn sah.

„Meine Güte, könnt Ihr die Haare nicht anders tragen? Ich denke jedes Mal, er ist es, wenn ich euch sehe!“

Leonard blickte sie an und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar.

„Tut mir aufrichtig leid“, bedauerte er, dann sah er zu dem Geistlichen. „Pater Paul wird eine Messe für Rick abhalten.“

„Vielen Dank“, sagte Isabel und ließ sich auf einen Stuhl an der Wand sinken.

Am späten Nachmittag zog Leonard Isabel von Ricks Seite fort und in den großen Salon.

„Ich muss dringend mit Euch sprechen“, erklärte er.

„Worüber? Es gibt nichts, was wir miteinander zu bereden hätten.“

„Das Kind in Eurem Leib. Wann habt Ihr es das letzte Mal gespürt?“

Entgeistert starrte sie ihn an.

„Mein Kind?“

Statt einer Antwort nickte Leonard.

„Ich weiß es nicht, ich habe nicht mehr darauf geachtet.“

„Gestattet Ihr? Darf ich fühlen, ob es sich bewegt?“

Verwirrt suchte sie seinen Blick.

„Aber wozu? Ich spüre selbst, wenn es sich bewegt und im Moment tut es das nicht.“

„Warum nicht?“

„Vielleicht schläft es?“

Überrascht lüpfte er die Augenbrauen. „Kinder schlafen im Mutterleib?“

„Ich denke schon, was sollen sie denn sonst die ganze Zeit machen?“

„Einleuchtend.“

Prinz Leonard starrte noch immer auf ihren Bauch.

„Ich mache mir diesbezüglich Sorgen.“

Isabel atmete tief durch.

„Das müsst Ihr nicht. Ricks Sohn ist stark.“

„Sagt mir Bescheid, wenn Ihr es das nächste Mal spürt.“

Unwillig runzelte Isabel die Stirn, doch sie sagte nichts.

„Ich habe die Haushälterin angehalten, die Gästezimmer zu richten“, berichtete Leonard nach einer kurzen Pause.

„Wozu das?“

„Ich rechne damit, dass in den nächsten Stunden die ersten Trauergäste eintreffen werden.“

Isabel wurde blass.

„Trauergäste?“, flüsterte sie.

„Natürlich. In zwei Tagen findet die Beerdigung statt.“

„Schon in zwei Tagen? Das ist viel zu früh! Vorgestern hat er noch gelebt!“

Leonard seufzte schwer.

„Ihr müsst ihn gehen lassen. Wir können ihn nicht ewig hier bei uns behalten.“

„Es spricht keiner von einer Ewigkeit. Nur ein paar Tage mehr.“

„Der Bestatter wird ihn morgen holen.“

Sie wurde noch blasser und Tränen stiegen in ihre Augen.

„Morgen schon? Bitte, lasst ihn noch länger bei mir!“

„Das geht nicht. Sein Körper verfällt, Isabel.“

Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht zwischen den Händen.

„Das ist zu schlimm! Sie bringen ihn von seinem Zuhause weg! Und dann wollen sie ihn in diese kalte Erde legen. Euer Gnaden, ich will nicht, dass er dort bei den Würmern liegt! Bitte! Ich will das nicht!“

Hilflos musterte Leonard die junge Frau.

„Das ist nun einmal der Lauf der Dinge“, meinte er sachlich. „Besser Ihr findet Euch damit ab!“

Sie ließ die Hände sinken und blitzte ihn wütend an.

„Mehr als Phrasen dreschen könnt Ihr nicht? Behaltet Eure abgeschmackten Redewendungen für Euch und verschont mich mit diesem widerwärtigen Sermon! Der Lauf der Dinge! Vielen Dank auch!“

Diese Frau war ein Vulkan, stellte Leonard unbehaglich fest und war froh, dass er über ein relativ dickes Fell verfügte. Deswegen konnte er ihre Worte an sich abprallen lassen. Doch eine Stimme in ihm fragte ihn, ob das wirklich die Frau war, die er liebte. Ob er sich seine Gefühle für sie nicht vielleicht eingebildet hatte.

Als er sie betrachtete, wie sie mit vor Zorn geröteten Wangen vor ihm stand, stellte er überrascht fest, dass die Gefühle, die ihn sonst in ihrer Nähe immer befallen hatten, verschwunden waren. In ihm war es still, als er seinen Blick über ihren Körper gleiten ließ. Keine Sehnsucht, kein Verlangen, keine Liebe mehr, die ihn quälte. Kein Bedürfnis, sie in die Arme zu ziehen und zu küssen.

Sie musste die Überraschung in seinen Augen gesehen haben, denn sie musterte ihn fragend. Er räusperte sich.

„Rick wird morgen abgeholt und übermorgen beerdigt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

Da er ihre Anwesenheit im Augenblick nicht länger ertrug, wandte er sich ab und verließ den Raum.

Eine Dienerin meldete Isabel die Ankunft ihrer Eltern und diese Nachricht versetzte sie in Panik. Das letzte, was sie im Moment brauchte, waren andere Menschen. Schlimm genug, dass Leonard ständig um sie herumschwirrte! Aber dass jetzt auch noch ihre Eltern da waren, empfand sie als nahezu unerträglich. Trotzdem begab sie sich nach unten.

„Mein liebstes Kind“, rief die Countess of Sussex und umarmte ihre Tochter erfreut. „Weshalb schaust du so traurig? Sei froh, dass du den Teufel endlich los bist! Der schlechte Ruf deines verstorbenen Mannes hat auch auf unsere Familie ein ungünstiges Licht geworfen, wie du weißt. Abgesehen davon sitzt du nun nicht mehr hier in dieser schrecklichen Einöde fest! Ich will gar nicht daran denken, was du unter ihm erdulden musstest.“

Die Worte trafen sie mit einer Wucht, die sie fast zu Boden schmetterte und sie befreite sich aus dem Griff ihrer Mutter.

„Wie kannst du so etwas sagen?“

Das Lächeln erstarb auf den Lippen der anderen Frau.

„Sag bloß, du bist traurig? Aber mein Kind, es ist sicherlich besser so! Das denken alle!“

„Es ist nicht besser so!“, schluchzte Isabel auf und sah zu ihrem Vater, der neben dem Sofa stand und sich bis jetzt nicht gerührt hatte.

„Marian, lass es gut sein! Es ist der falsche Zeitpunkt für derlei Gespräche! Meine liebe Tochter, ich möchte dir mein aufrichtiges Beileid aussprechen.“

Isabels Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich war sehr glücklich mit Rick“, flüsterte sie. „Ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt!“

„Ich weiß, Kind“, beschwichtigte der Earl. „Es ist ein großer Verlust für dich und die Kinder.“

„Und für mich“, ergänzte Prinz Leonard, der sich bis zu diesem Augenblick im Hintergrund gehalten hatte.

Überrascht wandte sich Isabel ihm zu. Hatte er diese Worte wirklich gesagt? Meinte er sie ernst? Plötzlich zwinkerte er ihr verschwörerisch zu und schenkte ihr ein leichtes Lächeln. Als er sich wieder ihren Eltern zuwandte, blickte er ausgesprochen ernst.

„Man hat meinem Bruder Unrecht getan. Er war ein großartiger Mann“, fuhr der Prinz fort. „Er verdient es nicht, nach wie vor verachtet zu werden.“

„Verzeihung“, meinte die Countess pikiert und musterte den jüngeren Mann flüchtig, dann wandte sie sich wieder an ihre Tochter. „Wurde uns ein Zimmer gerichtet?“

„Ja, Mylady“, kam Leonard Isabel zuvor. „Man soll es Euch zeigen.“

Als die junge Witwe mit Leonard wieder allein war, atmete sie tief durch.

„Das geht über meine Kräfte! Muss ich mir von allen anhören, wie froh sie über Ricks Tod sind?“

„Wenn Ihr möchtet, halte ich für Euch bis zur Beerdigung die Stellung und Ihr könnt Euch zurückziehen.“

„Das würdet Ihr für mich tun?“

Leonard nickte, wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Noch vor wenigen Tagen war er an der Seite seines Bruders durch den Wald gepirscht. Wie schnell konnte sich die Welt verändern!

„Danke!“

Es war das erste Mal, dass sie sich bei ihm für etwas bedankte und er warf ihr einen überraschten Blick zu.

„Wie gesagt, ich habe Rick versprochen, mich um Euch zu kümmern. Ihr braucht Euch nicht zu bedanken.“

Nur kurz erwiderte sie seinen Blick, dann schritt sie zur Tür und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Die Sehnsucht des Prinzen

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