Читать книгу Die Sehnsucht des Prinzen - Junia Swan - Страница 9
3. Kapitel
ОглавлениеDer Duke und die Duchess of St. Ives trafen am folgenden Vormittag in Begleitung ihres jüngsten Sohnes und ihrer Tochter ein. Kurz darauf ließ sich auch der Maler Luca Romano melden. Leonard klopfte an Isabels Tür und auf ihre Bitte einzutreten, ging er zu ihr. Sie saß am Fenster und blickte ins Freie, drehte aber kurz bevor er sie erreichte den Kopf in seine Richtung.
„Romano ist da.“
„Luca?“ Überrascht richtete sie sich auf.
„Ja, er ist vor ungefähr einer Stunde eingetroffen.“
Isabel sprang auf und etwas in ihrem Gesicht erhellte sich.
„Ich möchte ihn sehen!“
„Gut, ich werde es ihm ausrichten.“
Leonard verbeugte sich und schritt auf die Tür zu. Mit der Hand bereits auf der Klinke drehte er sich noch einmal in ihre Richtung.
„Habt Ihr das Kind gespürt?“
„Nein. Ich habe nicht darauf geachtet.“
„Ich werde nach einem Arzt schicken lassen.“
„Nein! Warten wir noch ein paar Tage. Wenn ich wieder etwas Ruhe habe, werde ich es sicherlich wieder fühlen.“
Unschlüssig musterte er sie und sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich werde später zu Euch kommen und für einige Zeit die Hand auf Euren Bauch legen. Wenn ich etwas spüre, gut. Sonst werde ich nach dem Arzt schicken lassen.“
„Ihr habt kein Recht, mich zu berühren!“
Zorn stieg in ihr auf, da ließ er die Klinke los und kehrte zu ihr zurück. Seine Hände umschlossen ihre Oberarme. Fest blickte er sie an.
„Ich bin für Euer Wohlergehen verantwortlich und auch für das Eures Kindes. Wenn Ihr nicht selbst in der Lage seid, Euch darum zu kümmern, werde ich es tun. Erst wenn Ihr wieder allein zurechtkommt, werde ich mich zurückziehen. Aber erst dann. Und bis dahin tut Ihr, was ich sage!“
Streng hielt er ihre Augen mit den seinen gefangen. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Erinnerungen an einen Kuss vor langer Zeit.
„Ihr seid ein Teufel“, murmelte sie in seiner Umklammerung gefangen und sein Gesicht wurde starr.
„Das habt Ihr mir schon einmal gesagt.“ Er gab sie frei und trat einen Schritt zurück. Es war jener Tag gewesen, als er sich in sie verliebt hatte. „Ich erinnere mich. Doch es ändert nichts. Ihr werdet meine Berührung ertragen müssen.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging.
Minuten später klopfte es an die Tür und Luca Romano trat ein. Isabel stürzte in seine Arme und der Mann zog sie an sich. Auch ihm rannen Tränen über die Wangen. In seiner Trauer um Rick war er ihr näher als all die anderen Menschen.
„Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er kurz davor zu sterben“, murmelte er. „Und jetzt ist es tatsächlich passiert. Nun, da keiner damit gerechnet hat!“
„Oh, Luca! Ich ertrage es nicht!“
Mit den Daumen wischte er die Tränen von ihren Wangen und sah sie zärtlich an.
„Ihr habt ihn gerettet, vergesst das nicht! Er war ein glücklicher Mann, als er starb.“
Isabel nickte, doch ihre Züge verfinsterten sich ein wenig.
„Ich wünschte, es wäre so! In letzter Zeit war er sehr unzufrieden mit mir.“
Bei diesen Worten begann sie fürchterlich zu weinen und er zog sie zurück an seine Schulter.
„Unzufrieden mit Euch? Das kann ich mir nicht vorstellen! Ihr wart das Wichtigste in seinem Leben!“
Sie wimmerte und klammerte sich an ihn.
„Glaubt Ihr mir? Zweifelt nicht an Euch!“
In jedem Schluchzen konnte er ihre tiefe Verzweiflung spüren.
„Versprecht mir, dass Ihr nicht beginnt, an seiner Liebe zu zweifeln! Könnt Ihr das?“
Sie nickte erschöpft, das Gesicht noch immer an seine Schulter gepresst. Sein Hemd war mittlerweile durchnässt. Als sie sich etwas beruhigt hatte, löste sie sich von dem Maler.
„Hat man Ihnen schon ein Zimmer zur Verfügung gestellt?“, fragte sie in sachlichem Ton und er ahnte, dass sie die Distanz brauchte, um ihre Fassung wiederzuerlangen.
„Ja, Mylady, danke. Ich werde mich zurückziehen. Wenn Ihr mich braucht, lasst es mich wissen.“
„Danke!“
Er strebte auf die Tür zu. Bevor er sie hinter sich zuzog, warf er einen letzten Blick in ihre Richtung.
„Ihr wart mehr, als er sich jemals erhofft hatte! Sein Sonnenstrahl! Zweifelt nicht daran!“
Sie nickte und hörte seine Schritte im Gang verhallen.
Isabel hatte sich wieder Ricks Hemd übergezogen und danach im Bett verkrochen. Sehnsüchtig streckte sie die Arme auf die andere Bettseite aus und griff ins Leere. Er war nicht mehr hier.
Im Laufe des Nachmittags hatten sie seinen Leichnam geholt. Nun gab es nur mehr Dinge, die er zurückgelassen hatte, seine Anwesenheit schwand mit jeder Minute. Sein Geruch vermischte sich mit anderen Düften, seine Ordnung löste sich auf.
Als es an der Tür klopfte, fuhr sie erschrocken in die Höhe. Im nächsten Moment trat Leonard ein, blieb überrascht auf der Schwelle stehen.
„Isabel? Schlaft Ihr schon?“
Am liebsten hätte sie so getan, als läge sie in tiefem Schlummer, doch sie saß aufrecht im Bett und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
„Nein.“
Im nächsten Moment flammte die Deckenleuchte auf und es gab keine Schatten mehr, um sich vor ihm zu verbergen. Unbehaglich zog sie die Decke höher bis zu ihrem Kinn. Nur kurz zögerte er, dann lenkte er seinen Schritt in ihre Richtung und setzte sich auf die Bettkante. Forschend betrachtete er sie.
„Wie geht es Euch?“
„Ausgezeichnet“, erwiderte sie sarkastisch und er seufzte.
Dann hob er eine Hand und wollte sie auf ihren Bauch legen, doch sie wehrte ihn ab.
„Was fällt Euch ein?“
„Wir haben bereits darüber gesprochen. Wenn Ihr Eurem Kind keine Beachtung schenkt, muss ich es tun. Legt Euch zurück und gebt endlich Ruhe! Meint Ihr, es macht mir Spaß?“
„Oh ja, das denke ich! Ihr seid ein Frauenheld, ein Lustmolch, ein Filou, wie er im Buche steht!“
Ein Muskel an seiner Wange zuckte, als er sie aufs Bett drückte. Mit einer Hand hielt er sie an der Schulter fest, die andere legte er auf ihren Bauch. Isabel atmete erschrocken ein. Allerdings war die Decke zu dick, um etwas fühlen zu können. Deswegen schlüpfte er mit einer Hand unter die Decke und tastete sich zu ihrem Körper vor. Als er sie berührte, zuckte sie zusammen. Leonard konnte ihre Wärme fühlen, als würde er ihre nackte Haut unter seinen Fingerspitzen ertasten. Hilflos wandte sie ihren Kopf ab und ertrug seine Nähe, während er eine geeignete Stelle für seine Nachforschung suchte. Endlich lag seine Hand vollkommen ruhig auf ihr, während er versuchte, in ihren Bauch hineinzuhören. Isabel schloss die Augen. Rick hatte seine Hand immer auf ihrem Bauch ruhen lassen, bevor er eingeschlafen war. Sie versuchte, nicht daran zu denken, trotzdem stieg große Sehnsucht in ihr auf. Unwillkürlich legte sie eine Hand über seine. Er reagierte nicht, wartete mit konzentriertem Blick auf eine Bewegung.
„Könnt Ihr etwas tun, damit es sich bewegt?“, fragte er nach einer Weile.
„Nein. Wie lange wollt Ihr warten?“
„Ich denke, eine Stunde.“
Isabel seufzte und atmete tief durch. Die Wärme seiner Finger strahlte in andere Regionen ihres Körpers aus. Sie wand sich ein wenig.
„Isabel“, rügte er. „Haltet still!“
„Ich will schlafen.“
„Dann schlaft! Lasst Euch von mir nicht stören!“
Sie drehte sich ein wenig und ihre Finger umschlossen seine Hand fester. Wenn er nicht aus einem bestimmten Grund hier wäre, hätte er seine Hand weggezogen, doch er musste Klarheit in diese Sache bringen. Plötzlich fühlte er einen ganz leichten Stoß.
„Hat es sich bewegt?“
„Hm?“
Verschlafen blickte ihn Isabel an.
„Das Kind. Ich glaube, es hat sich bewegt!“
Sie horchte in sich hinein und er fühlte eine erneute Bewegung.
„Ja, das ist der Kleine.“
Sie lächelte matt und er saß gebannt und hoffte auf ein weiteres Lebenszeichen.
„Es ist unglaublich! So etwas habe ich noch nie gefühlt! Es ist ein Wunder!“
„Ja“, stimmte sie mit sanfter Stimme zu, „das ist es!“
Schließlich zog er seine Hand weg, doch sie griff nach ihm und hielt ihn zurück. Mit großen Augen blickte sie bittend zu ihm auf.
„Rick fehlt mir so sehr! Ich kann es nicht länger ohne ihn aushalten.“
„Ihr müsst!“
Sie zögerte bevor sie weitersprach. „Euer Kuss vor vielen Jahren hat mich alles um mich herum vergessen lassen.“
Überrascht zog er die Augenbrauen in die Höhe.
„Isabel, ich weiß nicht ...“
„Bitte!“
„Nein, das ist keine gute Idee ...“
„Ihr habt tausende Frauen geküsst! Warum ziert Ihr Euch nun?“
„Ich habe noch nie eine Frau geküsst, deren Mann gerade gestorben ist und die ihn am nächsten Tag begraben musste.“
Sie ließ ihre Hand sinken und wandte sich ab.
„Ich habe Euch damals gesagt, dass ich ein schlechter Mensch bin.“
„Isabel, das seid Ihr nicht! Nur verwirrt und einsam. Doch ich kann Euch nicht helfen! Ich bin nicht er!“ Entschlossen wandte er sich ab und ging auf die Verbindungstür zu. „Gute Nacht.“
Ein Schluchzen entrang sich ihren Lippen und sie zog ein Kissen über ihren Kopf und krallte die Fäuste in die Matratze. Als dieser verzweifelte Laut an seine Ohren drang, hielt Leonard inne. Regungslos verharrte er, dann wandte er sich langsam um. Er konnte sie erstickt weinen hören. Sein Puls beschleunigte sich. Was war schon falsch daran, wenn er sie tröstete? Immerhin bat sie ihn darum!
Ohne länger darüber nachzudenken, kehrte er zum Bett zurück, setzte sich auf den Bettrand, entriss ihr das Kissen, schleuderte es fort, beugte sich über sie und suchte ihren Blick. Erschrocken drehte sie sich auf den Rücken und sah ihn an, während ihre Tränen versiegten. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus, dann schloss sie die Augen. Mit den Fingerspitzen strich er zärtlich über ihre Augenbrauen, die Nase und ihren Mund, den sie unter seiner Liebkosung etwas öffnete. Dieser Aufforderung konnte er nicht widerstehen und er neigte sich tiefer, um sie mit seinen Lippen zu umfangen. Zitternd schlang sie die Arme um seinen Nacken und zog ihn näher zu sich heran. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten mit einer Leidenschaft, die ihn geradezu benommen machte. Ohne es darauf angelegt zu haben, lag er Minuten später neben ihr, Isabels Leib fest an sich gepresst. Er fühlte jede Rundung ihres kurvigen Körpers. Meine Güte, er liebte sie doch! Sie war wie für ihn gemacht!
Irgendwann waren sie nackt und ihre Hände strichen über seinen Rücken, als suchten sie etwas. Sie machte ihn rasend und er vergaß alles um sich herum, blendete die Umstände aus, weshalb er hier war, vergaß, wer sie war. Alles, was zählte, war, dass sie in seinen Armen lag und ihm ihren Körper anbot. Leonard war verloren und sein Geist tauchte ab in den ekstatischen Strudel aus Begierde und Verlangen.
Erst als sich die Schleier seiner Lust wieder lichteten und er schwer atmend neben Isabel im Bett lag und an die Decke starrte, überfiel ihn die Gewissheit, dass er etwas unwiederbringlich zerstört hatte. Doch was es war, konnte er nicht benennen. Einzig der Gedanke, einen schweren Fehler begangen zu haben, ließ sich nicht mehr abschütteln.
Es war keine liebevolle Vereinigung gewesen, ähnlich eher einer Fahrt auf aufgewühlter See. Isabel hatte sich an ihn geklammert wie an ein Rettungsboot, mit geschlossenen Augen und Tränen auf den Wangen. Nun lag sie an ihn gedrückt, fuhr mit den Fingern über seinen Rücken, immer auf der Suche nach Ricks Narben, den Kopf an seine Schulter geschmiegt. So lag er, das Gesicht abgewandt, den Blick gen Himmel. Mit jeder weiteren Minute die verstrich, fragte er sich, was er getan hatte. Vorsichtig hob er eine Hand zu ihrem Hinterkopf und strich tröstend darüber. Immer wieder, bis sie sich unter seinen Liebkosungen entspannte und in tiefen Schlaf fiel. Er lauschte ihren Atemzügen und irgendwann übermannte auch ihn die Müdigkeit.
Als er am frühen Morgen erwachte, lag Isabel noch immer in seiner Umarmung und Leonard zog vorsichtig den Arm unter ihr hervor. Sie brummte unwillig und nahm eine andere Position ein. Nur kurz betrachtete er sie, das wirre Haar, die nackten Schultern, dann glitt er aus dem Bett und deckte sie fester zu. Im nächsten Moment floh er geradezu in Ricks Zimmer und schöpfte tief Luft, um jene Beunruhigung abzuschütteln. Er trat ans Fenster und blickte in den nebligen Morgen hinaus. In wenigen Stunden wurde sein älterer Bruder beerdigt. Verdammt, er lag noch nicht einmal in seinem Grab, da hatte Leonard sich bereits seine Frau genommen. Natürlich würde er sich ausreden können und behaupten, sie hätte ihn verführt. Doch sie war zurzeit nicht sie selbst, ihre Gefühle lagen offen und sie war beängstigend verwundbar. Er hätte ihr widerstehen müssen! Aber er hatte es nicht getan. Abfällig und von sich selbst enttäuscht, zog er die Mundwinkel nach unten. Es passte zu ihm, er besaß keinerlei Ehre. Immer das Vergnügen zuerst. In all den Jahren hatte er nie trainiert zu widerstehen. Wie sollte er es plötzlich können? Isabel hatte recht gehabt, als sie ihn einen Beau genannt hatte. Das war er tatsächlich; ein trauriger Fakt.
Ricks Gesicht stieg vor seinen Augen auf. Wenige Minuten nachdem sie Old Owl Wood verlassen hatten, um die zweistündige Fahrt ins Jagdgebiet anzutreten. Nachdenklich, mit gerunzelter Stirn, hatte er aus dem Fenster gestarrt und um ihn abzulenken, hatte Leonard von seinen Plänen berichtet, die Welt zu bereisen. Ausführlich hatte er erzählt, wie lange er zu bleiben gedachte und welche Länder er erforschen wollte.
„Mehr als ein Jahr willst du wegbleiben?“ Irritiert hatte ihn sein Bruder forschend betrachtet. „Das ist zu lange!“
„Ich kann mir kaum vorstellen, dass du Sehnsucht nach mir haben wirst“, hatte Leonard lachend erwidert.
„Das ist es nicht.“
Rick hatte sich mit der Hand übers Gesicht gestrichen, als würde ihn etwas stark beschäftigen. Er drehte den Kopf und blickte noch einmal zurück. Das Anwesen war nicht mehr zu sehen. Dann fuhr ein Ruck durch seinen Körper, als hätte er einen unumstößlichen Entschluss gefasst, doch er äußerte sich nicht mehr. Als sie die nächstgrößere Stadt erreichten, bat er darum anzuhalten und das Auto fuhr an den Straßenrand.
„Ich muss noch etwas erledigen“, sagte er und verschwand in einer Seitengasse.
Leonard wunderte sich nur kurz über das merkwürdige Verhalten. Allerdings war er sicher, dass Rick seine Gründe haben würde.
Nicht einmal eine Stunde später saß er wieder neben ihm und sie legten das letzte Stück zurück. Leonard schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verdrängen. Weshalb dachte er gerade jetzt daran? Besser er machte sich fertig. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, begab er sich ins Badezimmer.
Isabel hatte tief und fest geschlafen und in den wenigen Sekunden, bevor sie die Augen aufschlug, hielt sie ein Gefühl der Zufriedenheit umfangen. Alles war gut. Rick war hier. Doch im nächsten Augenblick stürzte die Wirklichkeit über ihr zusammen und sie richtete sich erschrocken auf. Ihr Herz begann zu rasen. Letzte Nacht hatte sie einen Mann geliebt und es war nicht Rick gewesen. Entsetzt fuhr sie sich mit einer Hand über den Mund. Wie konnte sie nur? Wieso hatte sie sich wie eine Hure verhalten? Wie tief war sie gesunken, sich einem anderen Mann hinzugeben, bereits wenige Tage nach dem Tod ihres geliebten Gemahls? War sie von allen Sinnen verlassen? Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so sehr geschämt wie in diesem Augenblick. Röte breitete sich von ihren Wangen bis über ihren Hals aus. Wie sollte sie Leonard jemals wieder in die Augen sehen können? Wie sollte sie sich selbst jemals wieder ansehen können? Und vor allen Dingen: Wie sollte sie an dem Begräbnis teilnehmen können, ohne sich in Grund und Boden zu schämen? Sie fuhr zusammen, als die Tür geöffnet wurde und ihre Zofe eintrat. Isabel schlüpfte schnell in Ricks Hemd und stand auf.
Die nächste Stunde verging mit Körperhygiene und dem Ankleiden sowie Aufstecken der Frisur. Als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie eine junge Witwe mit verräterisch großen Augen, in denen sie Verdorbenheit schimmern sehen konnte.
„Bitte verzeih mir, Rick“, flüsterte sie mit rauer Stimme und erinnerte sich an den Tag, als sich ihre Seelen das erste Mal vereint hatten.
Auf jenem Ball hatte es begonnen, sie in einem zerschnittenen Kleid, Rick mit einem Lächeln auf den Lippen. Er hatte ihren Liebesbeweis in der skandalösen Art ihrer Aufmachung erkannt. Ihr Liebesbeweis. Noch bevor sie länger darüber nachdenken konnte, griff sie nach einer Schere. Dann begann sie mit fest aufeinandergepressten Lippen zu schneiden.
Nun ließ es sich nicht länger hinauszögern und Leonard musste sich seiner Schwägerin stellen. Ihm graute davor und er wünschte sich insgeheim, ihr am vorigen Tag widerstanden zu haben und sich nun nicht den Kopf über dieses weitere Problem zerbrechen zu müssen. Er klopfte an die Verbindungstür und trat ein. Ertappt ließ sie die Schere sinken und fuhr zu ihm herum. Ungläubig starrte er sie an. Er konnte einfach nicht fassen, dass Isabel das getan hatte, wonach es aussah. Sie wollte doch unmöglich ihrem Mann in dieser Aufmachung die letzte Ehre erweisen! Beunruhigt stellte er fest, dass sie jedoch genau so wirkte.
„Meine Phantasie spielt mir übel mit, nicht wahr, Isabel?“
Sie legte die Schere beiseite und wandte sich ab.
„Isabel, Ihr könnt unmöglich so zur Beerdigung gehen!“
Leonards Stimme klang gereizt. Verdammt noch einmal, diese Frau war durch und durch verrückt!
„Es ist meine Nachricht an ihn.“
Leonard unterdrückte einen Fluch.
„Wie es aussieht, habt Ihr nicht bedacht, dass Rick es nicht sehen kann, aber jeder andere auf der Beerdigung schon. Wollt Ihr in eine Irrenanstalt eingeliefert werden?“
Isabel schluckte.
„Es ist egal, was die anderen denken.“
„Nein, ist es nicht.“
Noch immer wagte sie es nicht, ihn anzusehen. Deswegen starrte sie auf den Boden.
„Ich muss so gehen!“
„Wer sagt das?“
„Ich!“
Am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt.
„Davor müsst Ihr an mir vorbeikommen! Ich werde es nicht zulassen! Rick würde mich umbringen, wenn er erführe, dass ich Euch in dieser Sache nachgegeben habe!“
Erschrocken wich sie einen Schritt zurück und blickte auf. Im nächsten Augenblick sah sie ihm in die Augen. Er konnte Reue und Scham darin erkennen und einen kleinen Funken Angst. Störrisch verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Kommt mit mir zu Eurer Ankleide!“
Ärgerlich umfasste er ihren Oberarm und zerrte sie mit sich zur Ankleide. Als sie die Tür erreichten und er diese aufstieß, begann sie, sich zu widersetzen. Er gab sie frei und hob eine Hand, um sich damit das Haar aus dem Gesicht zu streichen. In dem Moment zuckte sie zusammen und streckte abwehrend die Hände aus, als hätte sie Angst, dass er sie schlagen würde. Irritiert runzelte er die Stirn. Sie hatte den Kopf abgewandt und atmete schwer, als wartete sie darauf, dass er zuschlug. Leonard ließ den Arm sinken und starrte sie an. Sekunden vergingen, bis sie sich etwas gefasst hatte und die Hände fallen ließ. Sie wagte nicht, ihn anzusehen.
„Isabel, ich ...“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, als wollte er nicht glauben, was soeben passiert war. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Außer ...“
Wieder verstummte er und blickte sie an. Es war ein erbärmliches Bild, das sich ihm bot. Wie ein Häufchen Elend stand sie vor ihm, das Kleid in Fetzen, Tränen auf den Wangen, die Schultern gebeugt. Im nächsten Moment versteckte sie das Gesicht hinter ihren Händen und begann bitterlich zu weinen. Ihr Körper zuckte.
„Rick hat doch nicht etwa ...“
„Nein!“, stieß sie hervor und wirbelte herum, rannte auf das Bett zu und ließ sich darauf fallen.
Kurz rang er um Fassung, dann betrat er die Ankleide und suchte nach einem passenden Ersatzkleid.
„Habt Ihr noch ein anderes Kleid in schwarz?“
„Nein.“
Wäre er nicht derart entsetzt von ihrer Reaktion gewesen, hätte er sich maßlos über sie geärgert.
„Ausgesprochen clever, das einzige Kleid für einen Trauerfall zu zerschneiden!“
Ungeduldig suchte er nach einem Ersatz.
„Ich werde nicht gehen“, erklärte sie schniefend und er verließ die Ankleide augenblicklich und kehrte an ihre Seite zurück.
„Natürlich werdet Ihr gehen! Davor werdet Ihr Euch nicht drücken können!“
Sie richtete sich etwas auf und ballte die Hände zu Fäusten.
„Doch! Ich werde nicht gehen! Ich ertrage es nicht! Die ganzen Menschen ...“
„Es wäre ein Affront, wenn Ihr nicht ginget!“
„Ein Affront gegen wen? Rick? Mich selbst?“, fauchte sie.
„Menschen werden sich das Maul zerreißen!“
„Na und? Das tun sie, seit ich Rick geheiratet habe!“
Fest biss er den Kiefer aufeinander. War er froh, wenn er dieses Irrenhaus endlich verlassen konnte! Hoffentlich war Isabel bald in der Lage, wieder allein zurechtzukommen!
„Bitte!“
„Nein!“
Trotzig hielt sie seinem Blick stand. Um sich zu sammeln, wippte er auf den Fußballen kurz auf und ab, dann wandte er sich um.
„Wie Ihr meint“, gab er nach und verließ zornbebend den Raum.
Erst als die letzten Gäste abgereist waren, um vom Eklat, dass die Witwe an der Beerdigung nicht teilgenommen hatte, in aller Welt zu berichten, kehrte Leonard in Ricks Zimmer zurück. Er goss sich ein großes Glas Whiskey ein und ließ sich in einen Stuhl fallen. Der Tag war der reinste Horror gewesen! Nicht nur, dass Isabel komplett den Verstand verloren zu haben schien, waren nun seine und Isabels Eltern entrüstet von der jungen Frau. Wie es aussah, war sie nun in der Gesellschaft endgültig in Ungnade gefallen. Wie konnte sie auch nur so dumm sein und sich derart gehen lassen! Dieses entsetzliche Weib!
Nachdem er das Glas geleert hatte, knallte er es auf einen Tisch und erhob sich. Im Gehen lockerte er den Kragen seines Hemdes, dann trat er ohne anzuklopfen in ihr Zimmer. Sie saß auf einem Stuhl vor dem Fenster und trug noch immer das zerfetzte Kleid. Als hätte sie ihn nicht gehört, bewegte sie sich nicht.
„Hast du etwas gegessen?“, fragte er unwirsch und duzte sie ungeniert. Bei einer Verrückten musste man froh sein, wenn man überhaupt eine Antwort bekam.
Doch diese Irre vor ihm schwieg.
„Isabel, ich habe gefragt ...“
Langsam hob sie den Kopf und musterte ihn. Die Hilflosigkeit dieser Geste besänftigte ihn etwas und er seufzte. Wie es aussah, würde er nicht so schnell entkommen wie erhofft. Im nächsten Augenblick schluchzte sie auf und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Zögernd beugte er sich zu ihr und berührte ihren Oberarm, doch sie ließ sich nicht trösten. Deswegen schob er seine Arme unter ihren Körper und hob sie empor. Fest hielt er sie an sich gedrückt, während sie ihren Kopf an seine Schulter zurücksinken ließ.
„Ich liebe dich, Rick, ich liebe dich! Bitte vergib mir!“
Leonard setzte sich mit ihr aufs Bett und versuchte, etwas von ihr abzurücken.
„Ich bin nicht Rick“, erinnerte er sie sachlich. „Hör auf mit diesem Unsinn!“
„Sei Rick“, bettelte sie verzweifelt und schlang die Arme um seinen Hals.
Doch er löste sich von ihr, legte sie aufs Bett und wich vor ihr zurück.
„Ich werde den gestrigen Fehler nicht ein weiteres Mal wiederholen“, erklärte er fest und wandte sich ab. Bei seinen Worten zuckte sie zusammen, trotzdem sprang sie aus dem Bett und trat hinter ihn.
„Geh nicht!“, flehte sie.
„Zieh endlich etwas Anderes an!“, forderte er und drehte sich wieder zu ihr.
„Nein, ich sehe nicht ein ...“
„Raus aus diesem Aufzug! Wo sind deine Nachthemden?“
Widerspenstig erwiderte sie seinen Blick, da machte er einen Schritt auf sie zu, griff nach dem Kleid und riss es entzwei. Erschrocken fuhr sie zusammen und blickte ihn entsetzt an.
„Wie könnt Ihr es wagen ...“
„Dein Kleid ist bereits unwiederbringlich kaputt und du hast nicht den Anschein gemacht, es in der nächsten Stunde abzulegen. Ich habe dir nur geholfen.“
Gnadenlos entblößte er ihre Schulter. Sie rührte sich nicht, war gefangen in der Erinnerung an jene Nacht, als Rick sie das erste Mal geliebt hatte. Teilnahmslos ließ sie Leonard gewähren, der sie vollkommen nackt auszog. Dann ging er zum Bett und griff nach Ricks Hemd. Entschlossen zog er es über ihren Kopf.
In ihren Gedanken schwirrte alles durcheinander, Ricks Hände, die sie an sich zogen, sie streichelten, an die Hand nahmen. Seine Hand, die den scharfen Brieföffner umklammerte und zustieß, während sie leise aufschrie und das Gewebe reißen hörte. Sein Antlitz, aus dem das Lächeln mit jedem Tag mehr geschwunden war und schließlich seine Stimme, zornig bebend. Isabel begann zu zittern. Nein, das war nicht wirklich geschehen. Sie hatte sich alles nur eingebildet. Rick hatte sie geliebt und er hätte niemals etwas getan, was ihr schaden könnte!
Mittlerweile starrte Leonard sie besorgt an. Es schien, als wäre sie weit weg und er hatte keine Ahnung, wie er ihr helfen konnte. Doch plötzlich klarten ihre Augen auf und sie sah ihn forschend an. Im nächsten Moment drehte sie sich um, griff nach der Schere und eilte in Ricks Zimmer. Alarmiert folgte er ihr auf den Fuß. Sie schritt geradewegs auf seine teure Anzugjacke zu, die über einer Sessellehne hing und Leonard verengte verwirrt die Augen. Im nächsten Moment griff sie nach dem Kleidungsstück und schnitt den Ärmel ab. Dann drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn abwartend an.
Minutenlang konnte er nicht glauben, was sie soeben getan hatte. Ungläubig starrte er auf den Ärmel, der nun am Boden lag. Dann suchte er ihren Blick. Sie hatte eindeutig den Verstand verloren! Ohne sich zu bewegen, ließ sie die Schere fallen und trat einen Schritt auf ihn zu.
„Na los, mein Prinz, bestraft mich doch!“
Herausfordernd lächelte sie ihm ins Gesicht und er fühlte Zorn über so viel Unverschämtheit in sich aufsteigen. Was bildete sich diese schreckliche Person eigentlich ein? Niemand durfte sein Gewand zerschneiden, ohne mit den Konsequenzen leben zu müssen! Allerdings war sie nicht mehr zurechnungsfähig. Auch das noch! Am Ende hatte er sie für den Rest seines Lebens an der Backe! Er schalt sich einen Narren, das er einmal gemeint hatte, sie zu lieben. Er musste blind gewesen sein! Sie hatte den Verstand verloren! Noch immer stand sie da und sah ihn abwartend an.
„Was ist los? Weshalb schlagt Ihr mich nicht?“
„Wieso sollte ich das tun?“
Sie deutete auf den Ärmel.
„Du bist nicht bei dir! Ich schlage weder Frauen noch Verrückte.“
„Wie schmeichelhaft“, stellte sie fest, bückte sich und hob die Schere wieder auf.
Dann trat sie auf ihn zu. Sie griff nach seinem Hemd und noch bevor er realisiert hatte, was sie plante, zerschnitt sie den feinen Stoff. Da packte er ihre Hände.
„Ich kann mir kaum vorstellen, dass Rick sich das hätte bieten lassen“, meinte er mit zusammengebissenen Zähnen.
„Hätte er nicht.“
„Und was hätte er gemacht?“
Kurz blitzten ihren Augen auf und er meinte, so etwas wie Schmerz zu erkennen. Doch Augenblicke später erwiderte sie ungerührt seinen Blick, während sie beharrlich schwieg.
„Hast du jemals eines seiner Hemden zerschnitten?“
„Nein.“
„Warum fängst du dann bei mir damit an?“
„Bei wem sonst?“
Seine Augen verengten sich, mit seiner freien Hand entwand er ihr die Schere und legte sie außerhalb ihrer Reichweite ab.
„Ich muss davon ausgehen, dass du deiner Sinne nicht mehr mächtig bist. Anders kann ich mir dein Verhalten nicht erklären.“
Vielleicht war das eine interessante Idee, schoss es Isabel durch den Kopf. Sie könnte ihm vorspielen, verrückt zu sein. Dann würde er schnellstmöglich abreisen. Deswegen begann sie, unvermittelt zu lachen und er lockerte den Griff, sodass sie ihre Hände befreien konnte. Das nützte sie aus, um sich kichernd im Kreis zu drehen. Leonard konnte sich nicht erklären, was er sah und in ihm zog sich alles zusammen. Nein! Niemals würde er mit ruhigem Gewissen abreisen können! Sie war nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für das Ungeborene und die anderen Kinder. Verdammt!
„Isabel“, flüsterte er mit bleichen Lippen, doch sie ignorierte ihn und ihr Kichern steigerte sich zur Hysterie.
Da packte er sie und gab ihr einen Klaps auf die Wange, um sie wieder zur Besinnung zu bringen. Erschrocken hielt sie inne und starrte ihn an. Ungläubig hob sie eine Hand auf die leicht gerötete Stelle, dann senkte sie den Blick. In der nächsten Sekunde begann sie zu weinen.
„So fest war es nicht“, murmelte Leonard beklommen und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Sofort begann sie gegen ihn anzukämpfen, doch er gab nicht nach, zog sie in seine Arme und hielt sie fest. Als er spürte, dass seine Kraft nachließ, schob er sie zum Bett, drückte sie darauf und platzierte sich auf ihr, um sie zu bändigen. Noch immer schlug sie um sich, wurde aber immer schwächer, während sie ihre letzte Kraft verließ. Irgendwann lag sie regungslos unter ihm und er blickte erschöpft auf ihr Antlitz herab. Da öffnete sie die Augen und sah ihn an. Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln.
„Ich weiß nicht, was mit dir los ist“, erklärte er frustriert, „oder wie ich dir helfen kann. Ich bin vollkommen überfordert.“
„Reist morgen ab“, bat sie leise, doch er schüttelte bedauernd den Kopf.
„Wie könnte ich?“
Da drehte sie den Kopf von ihm fort und er gab sie frei. Er stemmte sich in die Höhe und wandte sich vom Bett ab. Er hörte, wie sie von der Matratze kroch und ihre nackten Füße über den Boden huschten, das Öffnen und Schließen der Verbindungstür. Im nächsten Moment war alles still und er fragte sich ernstlich, wo er da hineingeraten war.