Читать книгу Die knallbunte Couch - Jutta Treiber - Страница 10
Kapitel 2
ОглавлениеDaher setzte er am nächsten Tag zuerst einmal seine gewohnte Routine fort.
Als er durch die menschenleere Hauptstraße spazierte, hörte er plötzlich lautes Schluchzen. „Ich bin wirklich schon ganz blöd“, dachte Herr Benno. „Gestern habe ich Stimmen gehört, und heute höre ich lautes Schluchzen, obwohl schon wieder niemand da ist.“
Das Schluchzen aber hörte nicht auf. Da erblickte Herr Benno auf den Stufen des leerstehenden Geschäfts ein Mädchen. Sie mochte etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, schätzte er. Sie saß zusammengekauert da und weinte.
Herr Benno überlegte, was er tun sollte. Einfach weitergehen, als hätte er nichts gesehen und nichts gehört? Das konnte er nicht.
Er ging die paar Schritte zu dem Mädchen hin und setzte sich neben sie auf die Stufen.
„Kann ich dir helfen?“, fragte er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Warum weinst du?“, fragte Herr Benno.
„Wegen der Schule“, schniefte das Mädchen unter Tränen.
„Eine schlechte Note?“
Das Mädchen nickte: „Ich hab auf die Mathematik-Schularbeit einen Fetzen … einen Fünfer gekriegt.“
„Und das ist soooo schlimm?“, fragte Herr Benno.
„Ja“, sagte das Mädchen. „Weil ich jetzt nämlich im Halbjahreszeugnis einen Vierer kriege, und damit ist mein Vorzug futsch. Meine Eltern werden sehr enttäuscht sein.“
„Hm …“, machte Herr Benno. Er konnte sich die Situation gut vorstellen. Auch er hatte ehrgeizige Eltern gehabt, denen seine Schulerfolge überaus wichtig gewesen waren.
„Ich verstehe dich“, sagte er zu dem Mädchen. „Aber es ist ja erst das Halbjahreszeugnis. Am Schulschluss kann das schon wieder ganz anders ausschauen.“
Das Mädchen nickte und wischte sich die Tränen ab. „Danke, dass Sie mit mir gesprochen haben“, sagte sie. Dann stand sie auf und lief weg.
Herr Benno blieb noch eine Weile auf den Stufen des Geschäfts sitzen. „Jetzt hab ich das Mädchen nicht einmal nach ihrem Namen gefragt“, dachte er.
Als er aufstand und weggehen wollte, hörte er abermals die leise Stimme, die ihm zuraunte: „Nimm mich! So nimm mich doch!“
Aber jetzt war wirklich niemand zu sehen.
Herr Benno schüttelte wieder den Kopf.
Es begann leise zu regnen. Als er ein Kind gewesen war, hatte es im Jänner immer geschneit. An Regen im Winter konnte er sich nicht erinnern.
Ein paar Tropfen klatschten auf die Stufen des Geschäfts und zerrannen.
Herr Benno beeilte sich nach Hause zu kommen.
Er ging mit leichten, federnden Schritten. Er war so fröhlich wie schon lange nicht.
Zu Hause bereitete er sich das Nachtmahl zu, aß mit großem Appetit.
Unter der Dusche begann er plötzlich zu singen. Ein Lied aus seiner Jugendzeit.
Und dann sang er noch eines. Und noch eines.
Er hatte schon ewig lang nicht mehr gesungen. Seine Stimme klang ein bisschen rau, aber nach und nach wurde sie geschmeidiger.
In dieser Nacht schlief Herr Benno fröhlich ein.
Er träumte von einem kleinen leerstehenden Geschäft. Es wirkte kalt und kahl. Doch plötzlich stand mitten im Geschäft eine knallbunte Couch, darauf saß das Mädchen von heute Nachmittag und lachte.
Herr Benno saß im rostroten Ohrensessel, er lachte auch. Und hörte sich selbst im Traum sagen: „Jeder Mensch hat eine ganz besondere Gabe. Die muss man herausfinden und nützen.“
Da wachte er auf.
Er wollte den Traum abschütteln. Ihn aus den Augen wischen. Aber der Traum ließ sich weder abschütteln noch aus den Augen wischen, er blieb in seinem Kopf. Fest.
Und als Herr Benno am dritten Tag wieder durch die menschenleere Hauptstraße spazierte und wieder die Stimme hörte, die „Nimm mich, so nimm mich doch!“ rief, wusste er, dass das leerstehende Geschäft zu ihm gesprochen hatte. Das kleine, das mittlere. Denn als Herr Benno genauer hinschaute, merkte er, dass es in Wirklichkeit drei leerstehende Geschäfte nebeneinander waren. In der Mitte das kleine, links und rechts zwei große. Von seiner Kindheit her wusste er noch, dass das linke Geschäft einmal eine Bäckerei gewesen war, das mittlere ein kleiner Buchladen und das rechte eine große Spielwarenhandlung.
Doch was sollte er, Herr Benno, mit dem Geschäft tun, das ihn gerufen hatte?
„Ich bin kein Kaufmann“, dachte Herr Benno. „Ich habe nichts zu verkaufen. Ich wüsste auch nicht, was ich verkaufen sollte.“
Er setzte sich auf die Stufen des mittleren Geschäfts. Er dachte an das Mädchen von gestern Nachmittag. Er hatte ihr ein paar Worte geschenkt. Er hatte ihr ein bisschen Zeit geschenkt.
„Zeit!“, dachte er. „Zeit … Ist das das ‚Zauberwort‘? Ich hatte mein ganzes Leben lang nie Zeit. Jetzt habe ich zu viel davon. Könnte ich nicht ein bisschen Zeit verschenken? Oder eventuell verkaufen? Oder verkaufen und verschenken, je nachdem …?“
Da hing plötzlich ein Entschluss, wie ein reifer Apfel auf dem Baum: „Ich werde dieses Geschäft mieten. Ich werde den Menschen Zeit schenken. Und denen, die es sich leisten können, werde ich sie verkaufen. Je nachdem …“
Sein Herz schlug Purzelbäume …
Sein Kopf auch …
Vor lauter Aufregung konnte er gar nicht einschlafen.
Aber irgendwann schlief er doch.
Und träumte wieder von der knallbunten Couch.