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Algier im Februar. Sturmböen, Nieselregen, sinkende Temperaturen. Die Stadt ertrinkt, ertränkt ihre Einwohner gleich mit. Überall Schlamm, man hat Mühe zu laufen. Zögert, ob man überhaupt aus dem Haus gehen soll, nie ist man warm genug angezogen. In den Bussen ist es eisig, die Klassentüren knallen im Luftzug, weil die Fensterscheiben zerbrochen sind, und die auf den Terrassen ausgespannten Laken sind wasserdurchtränkt.

Der Himmel verhangen, mit Wolken grau und schwer vom Regen, der schon bald so manche Stadt im Land überfluten wird. In den Bäumen ein Knacken und Knarren, das die Passanten in Angst versetzt. Die Vögel verstummt. Patschnass kehren die Kinder von der Schule zurück, mit schlammverschmiertem Schuhwerk.

Im Stadtzentrum kommen die Autos nur mühsam voran. Die Polizisten haben durchsichtige Regenmäntel über ihre blauen Uniformen gestreift. Sie versuchen, den Verkehr in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Aber sind sie wirklich zu etwas nutze? Sind sie hilfreicher als eine gewöhnliche Ampel? An der Antwort ist nichts zu deuteln, hundert Prozent der Algerier glauben, dass die Polizei das heillose Verkehrschaos in der Weissen Stadt eher verursacht denn behebt. Das wissen auch die Polizisten, deshalb sind sie ständig leicht gereizt. Zur Verkehrsregelung versetzt zu werden gilt als Strafe, als Demütigung. Der unbedeutendste Vorgesetzte kann seinen Untergebenen beim geringsten Verdruss dazu verdonnern, sich wochenlang an einem Kreisel die Beine in den Bauch zu stehen, mitten im Winter oder im Hochsommer bei drückender Hitze.

Auf Höhe der Schlucht der Wilden Frau hat sich eine riesige Schlange gebildet. Die Autofahrer sind nervös. Es wird geflucht, was das Zeug hält. Man kommt nur millimeterweise voran. Auf dem Rücksitz halten die Kinder durch die beschlagenen Scheiben hindurch Ausschau nach dieser berühmten Wilden Frau, die sie so fasziniert. Im 19. Jahrhundert soll sie hier mit ihren zwei Kindern gelebt haben, die sie nach dem Tod ihres Mannes alleine aufzog. Eines Tages, als besonders schönes Wetter war, brach die kleine Familie zum Picknick in das Wäldchen am Oued Kniss auf. Die Kinder trieben sich gar zu gern dort herum. Sie wussten, sie durften sich nicht in die Nähe der hochgefährlichen Schlucht begeben, aber es waren keine sehr artigen Kinder, sie tobten gern und balgten herum. Die Mutter, erschöpft, hielt kurz im Schatten eines Baums Siesta. Als sie aufwachte, waren die Kinder weg!

Nachbarn, Freunde, Gendarmen suchten die ganze Gegend ab. Bei Einbruch der Nacht unterbrach man die Suche. Die Mutter weigerte sich, nach Hause zu gehen, schrie sich weiter die Seele nach ihren lieben Kleinen aus dem Leib. Und verlor den Verstand. Niemand vermochte sie je dazu zu bewegen, den Wald zu verlassen.

Man erzählt sich, dass man sie an manchen Abenden noch immer sehen kann, am Rande der Schlucht. Wer sie erblickt hat, der schwört, dass sie in Lumpen gehüllt durchs Ruisseau-Viertel irrt. Man muss auf der Hut sein, darf sich ihr nur auf Zehenspitzen nähern, denn sobald sie einen entdeckt oder das leiseste Geräusch vernimmt, flüchtet sie hinter dichtes Gestrüpp.

Die Regentropfen, die um die Wette über die Wagenscheiben rinnen, trüben die Sicht; selbst mit weit aufgerissenen Augen gelingt es den Kindern nicht, dort die Silhouette der Wilden Frau zu entdecken. Die Strassen sind ein einziger Albtraum. Das Gehupe hallt in der allgemeinen Gleichgültigkeit wider. Die Fahrzeuge kommen nur mühsam voran, und die Fahrer, die entnervt sind, angespannt und erschöpft, fahren am Ende über Bürgersteige und Rettungswege.

Ab und zu macht ein Polizist von seiner Trillerpfeife Gebrauch und rudert heftig mit den Armen, »Los! Los! Weiterfahren!«, oder er winkt, wenn er gerade schlecht drauf ist, ihm die Nase eines Fahrers oder Beifahrers nicht passt, den armen Kerl mit knapper Geste an den Strassenrand, was dann noch weitere Staus zur Folge hat. Dann hebt ein langer Handel an zwischen Fahrer und Polizist, der nicht selten im Entzug des Führerscheins mündet. Wenn der arme Teufel einen in der Familie hat, der bei der Polizei, der Gendarmerie, der Armee oder auch nur im Rathaus arbeitet, darf er hoffen, ihn schnell zurückzubekommen. Andernfalls wird sein Leben zur Hölle, denn in Algier ohne Auto voranzukommen ist kaum möglich.

In diesem Februar 2016 hofft man im ganzen Land, es möge keine verheerenden Überschwemmungen, keine Toten geben. Hofft, dass die Ernte nicht in den Fluten versinkt. Der Regen ist ein Segen Gottes, der Gedanke ist niemandem fremd, und ein jeder stimmt dem zu, aber im Lauf der Tage erweist sich dieser Segen als zunehmend lästig, zäh und beschwerlich.

In manchen Regionen hat der Regen ganze Dörfer überschwemmt. Die Strassen sind mit Ästen, Schrott, Blech und Abfall übersät. Die Busse, die sonst die entlegenen Weiler mit der nächsten Stadt verbinden, müssen für unbestimmte Zeit den Betrieb einstellen, was die Erwachsenen um ihre Arbeit, die Kinder um ihren Schulbesuch bringt. Aus dem Landesinneren hat das Fernsehen Bilder von Fahrzeugen übertragen, die von reissenden Schlammfluten fortgeschwemmt wurden. Die Leute jammern, dass der Staat keine Unterstützung schickt und wie so wenig Regen das ganze Land lähmen kann, aber kein Mensch wagt es, allzu lautstark den Regen zu kritisieren. Er ist das Werk Gottes.

Doch ein wenig Angst hat man schon. Man hat das Hochwasser des Jahres 2001 nicht vergessen, das das Babel-Oued-Viertel zerstört, fast tausend Todesopfer gefordert und Millionen von Dinar verschlungen hatte. Mancher Körper wurde nie wiedergefunden, und die Kinder von damals, heute junge Erwachsene, hoffen noch immer, selbst nach so vielen Jahren, auf die Rückkehr von Vater oder Mutter.

Anstelle von Gräbern Hunderte von Geschichten.

In der Cité du 11-Décembre in Dely Brahim legen mehrere Männer grosse auseinandergeklappte Pappkartons vor ihren Häusern aus, um einen halbwegs trockenen Zugang zu haben. Am Vortag war Adila, eine im ganzen Viertel bekannte Mudschahida, also eine ehemalige Unabhängigkeitskämpferin, im Schlamm ausgerutscht, und nun tut sie keinen Schritt mehr ohne ihren Gehstock. Das Rathaus weigert sich trotz der zahlreichen Bürgerproteste, die kleinen Strassen, die zu den Häusern führen, zu asphaltieren. In ordentlichem Zustand, weil regelmässig gewartet, sind nur die Strassen zu den Anwesen der Generäle.

Die Cité du 11-Décembre gibt es seit 1987. Anfangs umfasste sie 111 Parzellen, auf denen zum Teil schon die Häuser der einstigen Kolonialherren standen. Man kann sie leicht unterscheiden: Sie haben nur eine Etage, die modernen Bauten dagegen zwei oder drei.

Sämtliche Grundstücke wurden an Angehörige der Armee verkauft, ohne dass man die Siedlung deshalb je als »Militärsiedlung« bezeichnet hätte. Zu den erwähnten 111 Parzellen kamen später 74 weitere hinzu. In der Mitte dieses Ensembles, gegenüber dem Haus von Adila, liegt ein rund anderthalb Hektar grosses Terrain, unter dem bis zum Jahr 2010 die Gasleitungen verliefen.

Welche Pläne hatten der Stadtplaner, der Architekt oder der damals zuständige Funktionär wohl für dieses grosse Terrain gehabt? Vermutlich wollten sie dort Bäume pflanzen, ein paar Spielplätze anlegen, dazu Sitzbänke und hier und da eine Bahn fürs Pétanque-Spiel der Rentner. Nichts von all dem geschah, man überliess es sich selbst. Ebenso wenig wurden die kleinen Strassen asphaltiert, die zu den rund hundert Häusern führen. Die Stadt weigerte sich zu zahlen, mit der Begründung, das Verteidigungsministerium habe die Siedlung ja in Auftrag gegeben, und dieses machte sich nie die Mühe, auf die Anfragen einiger Soldaten zu antworten, die, an Disziplin und Respekt vor der Institution gewöhnt, stets sehr höfliche Schreiben verfassten, in wenig eindringlichem und schon gar nicht drohendem Ton.

Und so blieb das Terrain über Jahre hinweg einfach Brachland. Hin und wieder liessen sich dort ein paar streunende Hunde sehen. Doch nie sah man kleine Mädchen beim Seilspringen oder Gummitwisten, nirgendwo Schaukeln, nirgends Ruheständler, die gemächlich ihre Pétanque-Kugeln schoben. Nichts als ein dreckiges, an Regentagen verschlammtes, den Rest des Jahres über staubtrockenes Gelände voll Geröll und Felsgestein, dazu loses Gestrüpp, das im Winde trieb, der winters mächtig wehen konnte, und ein paar herrenlose Mülltonnen.

Eines Tages, vor vielleicht zwanzig Jahren, machte sich eine Gruppe von Kids daran, das Gelände zu säubern, Tore zu improvisieren, Grenzen abzustecken und sich einen Bolzplatz einzurichten. Und seit nunmehr (vielleicht nicht ganz) zwanzig Jahren wird der Platz von den Kindern und Jugendlichen der Siedlung, aber auch denen aus dem Viertel und der näheren Umgebung zum Kicken genutzt, in Zigtausenden von Matchs mittlerweile. Oh, ein Fussballplatz, wie er im Buche steht, ist es nicht. Den grünen Rasen, die exakten Linien, die Netze im Tor, all das kann man vergessen. Auf den ersten Blick sieht er wie ein Stück Brachland aus. Aber nur auf den ersten Blick.

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