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Wie ist es passiert? So sollten die pensionierten Militärs am Abend des 3. Februar ihre Freunde, Oberst Mohamed und Oberst Scherif, fragen, die den Streit zwischen den Generälen und den Jugendlichen miterlebt hatten. Sämtliche Männer, die da am Rand des Stadions stehen, sind hochrangige Offiziere, Oberst oder Oberstleutnant. Alle in den Sechzigern, nennen sie sich selbst »die jungen Pensionäre« und warten geduldig, dass auch für sie die Stunde an der Spitze des Staates schlägt. Der Armee haben sie, sobald sie konnten, nach ungefähr dreissig Dienstjahren den Rücken gekehrt. Die meisten von ihnen hatten sich gleich nach dem Abitur dort verpflichtet, um ihr Studium zu finanzieren und beim Aufbau des Landes mit dabei zu sein. In den siebziger Jahren machte die Armee jungen Leuten das Angebot, ihnen für die Dauer ihres Studiums ein monatliches Gehalt zu zahlen, als Gegenleistung für fünfundzwanzig Jahre Dienstverpflichtung ohne jede Möglichkeit, vorzeitig auszuscheiden. Kaum waren sie im Ruhestand, haben sie sich gleich wieder Arbeit gesucht. Im Geschäftsleben, an der Universität oder indem sie eigene Consultingfirmen gründeten.

An diesem Mittwochabend im Februar sind es ihrer ein halbes Dutzend, die sich da um Mohamed und Scherif scharen. Alle beben sie vor Ungeduld, eine köstliche Anekdote witternd, die Mundwinkel schon spöttisch verzogen, gieren sie nach Einzelheiten. Sie bedrängen Mohamed und Scherif wie Kinder, die vor dem Einschlafen auf ihrer Gutenachtgeschichte bestehen.

Und die beiden Männer lassen sich nicht lange bitten.

»Wir wussten gleich, dass das nur Generäle sein konnten, selbst wenn wir zu weit weg waren, um sie zu erkennen. Gepanzerte Limousine, ein Chauffeur, der ihnen die geöffneten Regenschirme hinhielt, ihr seht schon, was ich meine«, würde Mohamed erklären.

»Die klassischen Kennzeichen halt«, würde Scherif nachschieben.

Mohamed und Scherif sind alte Freunde. Sie kennen sich seit ihrer Zeit auf dem Gymnasium in Constantine. Beide waren sie dort im Internat, sind dann zusammen zum Studium nach Algier gegangen, haben am gleichen Tag den Vertrag mit der Armee unterzeichnet und ihn am Abend desselben Tages gemeinsam begossen, haben im Abstand von einigen Monaten geheiratet und sind beide mit dem Grad eines Obersten in den Ruhestand gegangen, vor ungefähr zehn Jahren war das.

Seitdem unterrichten sie einige Stunden wöchentlich an der Universität und treffen sich täglich, um durchs Viertel zu schlendern. Gemeinsam diskutieren sie über Gott und die Welt, reden über ihre ärmliche Kindheit in den Dörfern im Osten des Landes, ihre Zeit in der Armee, den jahrelangen Kampf gegen den Terrorismus während der Schwarzen Dekade, die unglaubliche Bürokratie der Armee, die kleinen Demütigungen durch die Chefs, die Eifersüchteleien mancher Kollegen, die weniger Diplome als sie vorweisen konnten, die vielen Soldaten, die im Kampf ihr Leben liessen, die Kälte in den Kasernen während der Grundausbildung, die Entbehrungen, den beruflichen Aufstieg, der zwar langsam, aber am Ende dann doch kam. Schliesslich haben sie die Armee mit einem der höchsten Dienstgrade verlassen, und nicht selten übergehen sie die traurigen Episoden, erinnern sich lieber an die Regimentswitze, die Freundescliquen oder das Ende des Terrorismus, das auch, ja, vor allem an das Ende des Terrorismus.

Mohamed hat aus freien Stücken den Dienst quittiert, kaum dass er mit dem Bau seines Hauses fertig war, der ihn mehr als fünfundzwanzig Jahre in Atem hielt. Scherif dagegen hat lange gezögert, den Antrag zu stellen, obwohl er die reguläre Dienstzeit längst erreicht hatte und es ihm freistand zu gehen. Einige Monate nach seiner Verabschiedung hat Mohamed dann den Freund angerufen, um ihn zu überzeugen, dass es auch für ihn an der Zeit sei, ins zivile Leben zurückzukehren: »Wenn du zu lange wartest, wird die Armee dich entlassen, und das steht dann für immer so in deinen Papieren.«

»Ich weiss, aber ich bin noch nicht so weit.«

»Bei mir steht ›auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausgeschieden‹. Ich bin ein freier Mann, nicht wie diese Militärs, die warten, bis man sie rauswirft, und die dann den Rest ihrer Tage damit verbringen, total deprimiert im Offizierskasino herumzuhängen.«

»So werde ich niemals enden!«

»Über die, die den Absprung nicht schaffen, macht man sich lustig, und ich will nicht, dass es dir ebenso geht. Warte bloss nicht zu lange, sonst werden sie dich am Ende noch demütigen. Und weisst du, wie es dann weitergeht?«

»Ja … sie werden mir eines Morgens ein Schreiben schicken, um mir mitzuteilen, dass ich meine Sachen packen, meine Dienstmarke abgeben, meinem Chauffeur ade sagen und mein schönes Häuschen binnen drei Monaten räumen muss.«

»Genau so, und in diesen drei Monaten musst du dich komplett neu organisieren, musst eine Wohnung und eine neue Arbeit finden, denn dein Ruhegehalt wird dir kaum genügen, all das …«

»Ich weiss, aber ich bin jetzt dreissig Jahre bei der Armee, was sollte ich denn im zivilen Leben mit mir anfangen?«

»Weisst du, Scherif, ich kenne Leute, die lebten in ihrer Dienstvilla wie du und fanden sich über Nacht im Ruhestand wieder, mit der Auflage, sich schleunigst zu verziehen. Du musst in die Gänge kommen. In Dely Brahim, gleich neben meinem, ist ein Haus zu verkaufen, der Mann ist gestorben, die Frau braucht dringend Geld und will das Haus, so schnell es geht, abstossen.«

»Ich weiss nicht, ob ich mir das leisten kann, in Dely Brahim zu leben.«

»Leih dir Geld von irgendwem, du wirst es zurückzahlen. Ich werde dich mit der Witwe in Kontakt bringen, sie ist ein wenig deprimiert und sehr einsam, ihre Kinder leben in Kanada und sind noch nicht mal zur Beerdigung des Vaters zurückgekommen! Sie hat keine Ahnung, was das Haus wirklich wert ist, ich bin sicher, du wirst es zu einem guten Preis erstehen können. Und im Zivilsektor gibt es unendlich viele Möglichkeiten für junge Armeepensionäre, die seriös sind wie wir, dazu diplomiert und perfekt zweisprachig. Da findet man immer Arbeit!«

Und Scherif beantragte die Versetzung in den Ruhestand und zog zu Mohamed nach Dely Brahim.

Immer wenn sie über Politik reden oder die Regierung kritisieren wollten, gingen sie spazieren, kreuz und quer durchs Viertel. Sie wussten ja, sie wurden abgehört, überwacht, beschattet. Es kam vor, dass sie den Wagen eines Typen vom Geheimdienst gerade gegenüber ihrem Zuhause entdeckten. Den grüssten sie dann jedes Mal. Und der arme Kerl antwortete auch jedes Mal, ein wenig verlegen, aber nicht wirklich böse, enttarnt worden zu sein. Eines Tages schlug Mohamed ihm lachend vor: »Wenn du willst, geb ich dir eine Kopie meines Terminkalenders, dann ist es für dich leichter, mir zu folgen, wenn ich wegfahre. Ich habe nichts zu verbergen, das kannst du deinen Vorgesetzten mal ausrichten!«

Seit ihrer Rückkehr ins zivile Leben geniessen Scherif und Mohamed es, frei von der Leber weg reden zu können, das hat ihnen in all den Jahren bei der Armee doch sehr gefehlt. Sie haben die Zähne zusammengebissen, Karriere gemacht, hohe Dienstgrade bekleidet, dabei immer fest überzeugt, sie hätten sich insgeheim den rebellischen Geist ihrer Jugend bewahrt und seien gegen das System gefeit, sie gehörten ja nicht wirklich dazu. Als sie dann im Ruhestand waren und ihre Häuser in der Cité du 11-Décembre in Dely Brahim bezogen hatten, engagierten sie sich nach und nach in Oppositionsparteien, meldeten sich dort lautstark zu Wort, um alle wissen zu lassen, dass es einen politischen Wechsel brauche. »Jetzt sind wir an der Reihe«, wiederholten sie ein ums andere Mal im Verlauf ihrer zahllosen Spaziergänge. »Ja, bald sind wir dran.« Und dieses »Wir« umfasste die Männer ihrer Generation, die vor der Unabhängigkeit geboren waren und noch immer nicht ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hatten, weil die noch Älteren sie daran hinderten. Dieses »Wir« war mehr als ein vager Traum. Es war ein Versprechen, ein Schwur. Eines Tages, davon waren Mohamed und Scherif überzeugt, würden diese Älteren das Feld räumen und ihren Platz an sie abtreten müssen.

An diesem 3. Februar, als General Saïd und General Athman auf dem Bolzplatz eintrafen, blieben die beiden Freunde auf Abstand und diskutierten weiter über die bevorstehenden Wahlen. Mohamed, der gerade eine Oppositionspartei gegründet hatte, redete seinem Freund zu, dort Mitglied zu werden. Es war ihm gelungen, ehemalige Minister, pensionierte Militärs, Universitätsprofessoren und zwei noch aktive Richter für seine Partei zu gewinnen. Scherif zögerte. Er mochte das Leben, wie es gerade war, ganz gerne und fürchtete eventuelle Repressalien gegenüber seiner Frau und den Kindern. Und ausserdem hatte er soeben einen lukrativen Vertrag als Kommunikationsberater bei der Provinz Constantine abgeschlossen. Wenn er jetzt in die Partei seines Freundes eintrat, würde der Gouverneur ihm dann nicht den Vertrag wieder kündigen? Das Geld konnte er gut gebrauchen, in Dely Brahim zu leben überstieg seine Mittel, doch das traute er sich seinem Freund nicht zu sagen.

Erst als sie immer heftigeres Geschrei vernahmen, hatten Mohamed und Scherif den Blick wieder dem Bolzplatz zugewandt und die Jugendlichen gesehen, die sich da mit den Generälen schlugen. Auch Adila war unter ihnen, die Mudschahida, die mit ihrer Krücke auf die beiden Männer einschlug, angefeuert von der Verrückten mit dem roten Haar: »Nur zu! Auf den Rücken! Auf den Hintern! Spalte ihnen den Schädel!« Die Szene kam ihnen so surreal vor, dass sie sekundenlang erstarrten und sich fragten, ob sie nicht Opfer einer Halluzination waren.

Dann aber spurteten sie los.

»Wir haben versucht, uns zwischen die Jugendlichen und die Generäle zu werfen«, erklärte Mohamed.

»Genau, versucht haben wir es, aber es war ganz schön kompliziert«, pflichtete Scherif ihm bei.

»Wir hatten Mühe, zu verstehen, was eigentlich los war. Am Anfang waren da nur ein paar Jugendliche, darunter mein Sohn Jussef, und ich habe ihn von dort weggedrängt, so gut ich konnte.«

»Er war wie besessen, ya Si Mohamed!«

»Ja, ich weiss nicht, was in ihn gefahren war …«

»Dann haben die Generäle ihre Waffen gezogen.«

»So war es, wir haben gesehen, wie sie die Waffen zogen.«

»Der Chauffeur ist im Wagen geblieben, er wirkte völlig verschreckt, der Feigling.«

»Aber dann hat er sein Handy genommen und wild herumtelefoniert.«

»Einer der Generäle hat einem der Jugendlichen einen ganz gemeinen Fusstritt verpasst!«

Unisono entfuhr allen Mündern tadelndes Gemurmel.

»Schämen sollten sie sich!«

»Man tritt keinen Mann unter der Gürtellinie, selbst wenn man General ist.«

Scherif fuhr fort: »Und dann bekam Jussef die Waffe des einen Generals zu packen, die der direkt auf ihn angesetzt hatte! Verzeih, Mohamed, aber dein Sohn hat da wirklich Bockmist verzapft.«

»Ich weiss … dabei ist es gar nicht seine Art, sich zu schlagen …«

»Ja, normalerweise ist er ein ganz besonnener Junge.«

»Du weisst doch, wie die Jungs heute so sind, hängen den ganzen Tag im Internet herum und denken am Ende, sie hätten das Recht, zu tun, was sie wollen.«

Die versammelte Männerschar drängte die beiden, die Geschichte weiterzuerzählen.

»Die beiden Generäle waren sehr überrascht, dass es meinem Sohn gelungen war, sich der Waffe zu bemächtigen.«

»Sie hatten gedacht, der blosse Anblick der Pistolen würde alle zur Räson bringen.«

Mohamed fügte erregt hinzu: »Die drei Jugendlichen haben das ausgenutzt, um sich auf die Generäle zu stürzen!«

»Es war unglaublich!«, bestätigte Scherif.

»Sie haben sie beleidigt! Sogar ihre Mütter haben sie beleidigt!«

»Die alte Adila hat gar nicht mehr aufgehört, mit ihrer Krücke auf die Generäle einzudreschen. Sie war schon ganz rot im Gesicht und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, wegen ihres Knöchels und dem ganzen Schlamm.«

»Und dazu dann noch die Verrückte mit dem roten Haar, die auf einmal anfing, unsinniges Zeug zu kreischen. Uns war gar nicht wohl in unserer Haut.«

»Und dann sahen wir die Gendarmen anrücken.«

»Mein Sohn Jussef hat seine Freunde gewarnt und sie weggeschickt. Das waren Jugendliche aus dem Cheraga-Viertel. Er hatte Angst, die Gendarmen könnten sie sich am Ende noch schnappen. Ihre Eltern sind einfache Sekundarschullehrer …«

»Die Gendarmen haben Jussef und die alte Adila abgeführt. Die rothaarige Verrückte wäre am liebsten auch mit zur Gendarmerie gekommen, aber niemand wollte sich mit ihr abgeben.«

Die Militärs schütteten sich jetzt vor Lachen aus: »Die Generäle haben die Waffe gezogen, stellt euch das mal vor!«

»Ja, aber auf die Jugendlichen hat es gar keinen Eindruck gemacht.«

»Das hat den Generälen aber mal gutgetan, so eine kleine Abreibung!«

»Und die alte Adila mit ihrer Krücke, die auch mit dreingeschlagen hat!«

»Na klar, der Alten, der darf man nicht in die Quere kommen.«

»Die versteht keinen Spass!«

»Das hätte ich mal sehen wollen!«

Zwar stimmt Mohamed ins Gelächter seiner Freunde mit ein, denn er will ja Haltung zeigen, aber insgeheim macht er sich langsam Sorgen um seinen Sohn, der noch immer nicht heimgekommen ist. Er ist ihm nicht nachgelaufen, wütend, wie er war, über das Benehmen des jungen Mannes, aber je mehr Zeit verstreicht, umso weniger optimistisch sieht er den kommenden Dingen entgegen.

Hat man in Algerien je Generäle erlebt, die einer Revolte mit Wohlwollen begegnet wären?

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