Читать книгу Morgen, Pony, wird's was geben - Karen Christine Angermayer - Страница 5

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Weißt du, wo Kanada liegt? Das ist ein großes, weites Land oberhalb von Nordamerika. Endlose Wiesen und Felder gibt es dort, gewaltige Berge, die dennoch freundlich aussehen, und Seen, die so still daliegen, dass sich der Himmel und die kleinsten Wölkchen darin spiegeln. Reißende Flüsse durchziehen das Land, in denen sich die Bären mit ihren riesigen Pranken den köstlichsten Fisch zum Mittagsfressen angeln. Auch Wölfen, Elchen und Kojoten kannst du dort begegnen. Und Stachelschweinen. Mit denen ist nicht zu spaßen, wenn sie sich bedroht fühlen oder ihre Jungen verteidigen!

Aus diesem wunderschönen Land stammt Holly. Holly ist ein wildes Pony, weiß mit lustigen schwarzbraunen Schecken, die über ihren ganzen Körper verteilt sind. Wilde Ponys haben kein festes Zuhause. Sie leben dort, wo es ihnen gerade gut gefällt und wo es leckeres Fressbares gibt.

Die letzten vier Jahre hatte Holly bei Linda verbracht. Wenn Hollys Herde vorbeikam, galoppierte sie immer noch ein paar Runden mit ihnen um die Wette. Doch sie und Linda hatten sich so sehr ins Herz geschlossen, dass Holly entschieden hatte, bei ihr auf ihrer kleinen Farm zu bleiben. Holly liebte es, wenn Linda ihr nach einem langen Ausflug das Fell bürstete. Das gab immer eine große Staubwolke, denn Holly wälzte sich gerne auf der Erde und im Gras.

Linda war um die fünfzig und Lehrerin für Indianerkinder gewesen in einem Reservat ganz in der Nähe ihrer Farm. Reservate sind Landstücke, die vor langer, langer Zeit den Indianern zugeteilt wurden, als die weißen Siedler kamen. Vor ein paar Wochen war Linda verstorben, ganz plötzlich. Sie hatte eine Krankheit, die sie von Tag zu Tag mehr geschwächt hatte. Vor ihrem Tod hatte sie noch rechtzeitig dafür gesorgt, dass Holly bei ihrer Cousine Gerda unterkommen konnte, die in Deutschland einen großen Bauernhof besaß. Linda wollte auf gar keinen Fall, dass Holly bei einem Pferdehändler in der Gegend landete, oder gar im Schlachthof, denn sie hatte immer gespürt, dass Holly ein sehr besonderes Pony war. Und auch jedes andere Tier hätte Linda nicht einfach in fremde Hände gegeben. Bei Gerda wusste sie Holly wunderbar versorgt.

Mit dem Auto und dem Schiff würde es mehrere Wochen dauern, um von Kanada nach Deutschland zu reisen, denn dazwischen lag ein großer Ozean. Und so hatte Linda für Holly einen Flug gebucht. Ja, du hast richtig gelesen: Ponys können fliegen. Auch wenn bestimmt nicht so viele Ponys wie Menschen jeden Tag hoch oben über den Wolken unterwegs sind.

Holly war gespannt wie ein Flitzebogen, wie es sein würde zu fliegen. Sie konnte zwar so schnell galoppieren, dass es sich anfühlte wie fliegen, doch hoch oben im Himmel war sie noch nie gewesen! Heute war es so weit. Bert, der Helfer, der auf Lindas kleiner Farm gearbeitet hatte und die Felder auch nach ihrem Tod weiter bewirtschaften würde, brachte sie zum Flughafen.

Holly sah sich noch einmal um, als Bert in seinen braunen Lederstiefeln auf sie zukam. Sie wieherte leise in Richtung des Hauses, in dem Linda gewohnt hatte. „Tschüs!“ hieß das.

Sie lächelte bei der Erinnerung daran, dass sie des Öfteren einfach vorwitzig ins Haus hineingelaufen war. Linda hatte sich dann immer lachend die Hände an ihrer Schürze abgewischt und sie sanft, aber bestimmt wieder in den Hof hinausgeführt. „Du willst wohl auf meine Couch? Die gehört mir!“, hatte sie gesagt. Sie hatte gewusst, dass es nur ein paar Tage dauern würde, bis Holly es wieder probierte. Holly hatte ihren eigenen Kopf.

„Tschüs“, sagte Holly auch zu der alten Schaukel, auf der die Indianerkinder aus Lindas Schule so gern schaukelten. Ihre schwarzen Haare, in die bunte Bänder und Federn eingeflochten waren, flatterten dann immer im Wind.

„Auf Wiedersehen“, sagte Holly auch leise zu der großen Weide, deren Zaun Linda nie geflickt hatte, weil sie wusste, dass man wilde Ponys nicht einsperren durfte. Auf Wiedersehen sagten die Menschen, wenn sie sich wiedersehen wollten. Ob ich meine Heimat jemals wiedersehe, fragte sich Holly.

Ihr Bauch zwickte ein wenig, als sie Bert in den Anhänger folgte. Bert war ein schweigsamer Mann, doch Holly mochte ihn. Er hatte raue, aber sehr liebevolle Hände. Er machte sie gut im Hänger fest, dann tätschelte er ihr noch einmal den Hals.

„Machen wir uns auf die Reise, altes Mädchen, hm? Eine neue Zeit beginnt, für uns beide.“ Das waren mehr Worte, als Holly ihn jemals hatte sagen hören. Sie spürte, dass auch er Linda vermisste. Dann ging es los.

Sie fuhren über den Highway, eine große, breite Straße, auf der um diese Zeit viele Autos und riesige Lastwagen unterwegs waren. In Kanada nennt man sie Trucks. Aus dem kleinen Fenster des Anhängers konnte Holly die Wiesen und Berge sehen, über die sie so oft galoppiert war. Danach war sie immer so durstig gewesen, dass sie am liebsten den ganzen Nakota-See ausgetrunken hätte, der im Tal lag.

„Nicht so schnell, das Wasser ist eiskalt!“, hatte ihre Mutter sie fürsorglich gewarnt. Es stimmte. Das Wasser hatte die Temperatur von geschmolzenem Schnee, denn es kam von den Bergen. Das tat gut nach einem langen Spaziergalopp! Der See lag so still da, dass Holly ihr Spiegelbild in ihm erkennen konnte. Wenn sie ihre Nase leicht ins Wasser stupste, verschwamm ihr Gesicht und machte lustige Kreise. Von ihrem Spiegelbild im See wusste Holly, dass sie große, dunkle Augen hatte wie die Indianerkinder.

Ob die anderen Tiere auf Gerdas Bauernhof nett waren?

Sie stellte sich vor, wie ihr neues Zuhause aussah. Bestimmt war es sehr schön dort. Linda hatte Holly erzählt, dass Gerda und sie als Kinder wie zwei Schwestern gewesen waren. Sie hatten oft zusammen gespielt und viele Streiche ausgeheckt. Während Holly noch ihren Gedanken nachhing, wurde der Anhänger langsamer. Waren sie schon da? Holly sah aus dem Fenster und sah Autos über Autos, so weit ihr Auge reichte. Ein riesiger Parkplatz. Dahinter große, graue Gebäude aus Beton. Im Hintergrund starteten Flugzeuge.

Das Motorengeräusch des Wagens verstummte, und kurze Zeit später öffnete Bert die Klappe des Hängers. Er führte Holly über den Parkplatz in eine große Halle. Eine junge, sehr hübsche blonde Frau kam auf die beiden zu.


„Hallo, ich bin Conny“, sagte sie und schüttelte Bert die Hand. Er nickte und reichte ihr einen Stapel bedrucktes Papier sowie einen verschlossenen Umschlag, auf dem in Schreibschrift „Für meine liebe Gerda“ stand.

„Ah, sehr schön, Sie haben alle Dokumente dabei.“ Conny hatte grüne Augen und eine Stupsnase. Sie schaute sich die Papiere an. Den verschlossenen Umschlag ließ sie zu.

„Holly. Was für ein schöner Name.“ Sie lächelte Holly an. „Ich werde dich auf dem Flug begleiten“, erklärte sie ihr. Bert tätschelte Holly noch einmal kurz den Hals, dann nickte er Conny zu und ging. Holly wieherte leise zum Abschied, während Conny ihr Halfter nahm. „Komm, ich bringe dich zu den anderen Tieren.“

In einer zweiten großen Halle warteten viele Tiere auf ihren Abflug. Große Hunde hockten in Transportboxen. Manche schauten ängstlich, andere waren ganz entspannt und dösten. Drei Pferde reisten mit Holly: eine fuchsfarbene Stute, ein junger Apfelschimmel und ein stolzer schwarzer Araber mit Fell, das glänzte, als sei er stundenlang gebürstet und mit Glanzspray eingesprüht worden.

„Wart ihr schon mal in Deutschland?“, fragte Holly die anderen Pferde, als Conny gegangen war. Sie hatte Holly an einer Vorrichtung festgemacht. Die Stute und der Schimmel schüttelten den Kopf. Der Araber nickte.

„Und, wie war es?“ Holly war ein sehr neugieriges Pony, das immer alles wissen wollte und am liebsten sofort.

„Hab den ersten Platz gemacht!“, prahlte der Araber und warf selbstbewusst seine zu akkuraten Zöpfen geflochtene Mähne nach hinten. Aha, ein Turnierpferd, dachte Holly.

„Nein, ich meine das Land. Wie war das Land Deutschland?“, fragte sie noch einmal.

„Keine Ahnung, kann ich mich nicht daran erinnern“, schnaubte er.

Holly seufzte. Nun, sie würde es bald erfahren.

Acht Stunden dauerte der Flug, hatte Linda ihr erzählt. Waren acht Stunden eine lange Zeit? Holly wusste es nicht. Sie wusste, dass es in der Natur den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang gab. Im Sommer war die Zeit dazwischen länger als im Winter, weil im Winter die Tage kürzer waren. Ob das in Deutschland genauso war? Holly hatte so viele Fragen, dass sie fast platzte.

Dann wurden sie verladen. Alle Begleiter – neben Conny waren es noch drei andere junge Männer und Frauen – brachten die Tiere durch einen langen, schlauchartigen Gang in den Transportraum des Flugzeugs. Die großen Hunde und andere Tiere, die in Boxen reisten, wurden auf einem kleinen Wagen in den Bauch des Flugzeugs gefahren. Die fuchsfarbene Stute, der Schimmel und Holly bekamen eine Box zu dritt. Der preisgekrönte Araber flog in einer eigenen Box. Conny zog Hollys Gurt um den Bauch fester, mit dem sie im Flugzeug gesichert war.

„Nach dem Start mache ich ihn wieder lockerer, aber bis wir die Flughöhe erreicht haben, müsst ihr sicher stehen. Okay?“ Holly nickte. Sie verstand jedes Wort. Plötzlich begann der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren. Es ging los! Die Stute neben ihr wieherte leise und nervös. Der Apfelschimmel rollte ängstlich mit den Augen. Hollys Bauch kribbelte auch ein bisschen vor Aufregung, aber sie hatte keine Angst. Sie liebte Abenteuer, und nun war sie die erste aus ihrer Herde, die fliegen durfte. Wenn das die anderen wüssten! Linda hatte einer Freundin vor einigen Wochen erzählt, was man gegen Flugangst tun konnte. Daran erinnerte sich Holly jetzt, als sie sah, wie unsicher die beiden anderen Pferde waren.

„Ihr müsst ganz langsam rückwärts von hundert bis eins zählen“, empfahl sie ihnen.

„Ich kann aber nicht zählen!“, rief die Stute verzweifelt.

„Ich auch nicht“, gab der Schimmel zu.

„Es ist ganz leicht! Ich helfe euch“, beruhigte Holly sie. Sie war sich auch nicht mehr ganz sicher, doch sie sagte einfach alle Zahlen auf, die sie jemals in ihrem Leben gehört hatte. Laut zählte sie: „56, 97, 43, 12, 37, 18, 2, 99 …“

Die anderen beiden hörten ihr aufmerksam zu. Ob es das Zählen war oder einfach Hollys wohlklingende, ruhige Stimme, war nicht zu sagen. Doch die Stute und der Apfelschimmel waren so abgelenkt, dass sie nicht bemerkten, wie das Flugzeug auf der Startbahn immer schneller wurde und schließlich in den Himmel abhob und in Richtung ihrer neuen Heimat flog. Das Abenteuer konnte beginnen.

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