Читать книгу Nächster Halt Walding - Karen Sommer - Страница 7
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Оглавление„Was heißt, sie ist nicht hier? Wo soll sie sein! Du suchst sie jetzt und wenn Hannah hier auftaucht, kann sie was erleben!“
„Felix, sie ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, wann sie weg und wo sie hingegangen ist.“
„Ich hatte jetzt genug Geduld mich euch beiden. Ihr hattet alles, was man sich wünschen kann. Aber ihr habt es nicht geschätzt. Du wolltest es so! Du packst jetzt deine Sachen und ich suche dir eine Seniorenheim.“
„Aber Felix, ich habe hier ein Wohnrecht.“
„So lange zu lebst. Möchtest du wirklich hier bleiben? Dann wird es ein kurzes Wohnrecht.“
Felix lief wütend aus dem Zimmer und zückte sein Handy.
Maria saß blass auf der Couch. Sie war so froh, dass Hannah der Hölle entkommen war und hoffte, dass sie sich bereits weit weg befand. Und Felix sie niemals finden würde. Sie würde schon durchkommen. Vielleicht wäre ein Seniorenheim für sie gar nicht so schlecht.
Sie ging schon mal ihre Sachen packen und suchte im Telefonbuch nach diesem Dr. Weinhub. Den Brief von Hannah hatte sie wohlweislich zerrissen und im WC hinunter gespült und gegenüber Felix verschwiegen.
Am Westbahnhof herrschte das übliche Treiben. Menschen rannten zum Zug und vom Zug zur U-Bahn. Hannah sah verwirrt zu den verschiedenen Anzeigetafeln. Bahnsteig und Zugnummer zu finden, erwies sich als nicht so einfach. Dies war ihre erste Zugfahrt, die sie allein bestreiten wollte. Und das mit 22 Jahren. Der Zug würde erst in zwanzig Minuten abfahren. Hannah bummelte durch den Bahnhof. Sie war nervös und innerlich zerrissen. Tat sie das richtige? Ging es ihrer Mutter gut? Sie war so versucht, anzurufen. Einzige ihre Angst, dass Felix zum Telefon ging, hielt sie davon ab. Aber ein Anruf konnte ja nicht schaden. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer der Villa.
Schon beim ersten Läuten wurde abgehoben. „Hallo.“
„Mama, ich bin’s. Mir geht es gut.“
„Hannah, Gott sei Dank. Geh weg und melde dich irgendwann mal bei mir. Ich werde auch noch heute das Haus verlassen. Ich kann nicht lange reden. Felix sucht bereits nach dir. Wirf das Handy weg. Ich liebe dich. Und wenn du mich suchst: Meine letzte Ehe war wunderschön, aber es gab auch noch ein anderes Leben.“
Noch bevor Hannah etwas antworten konnte, war die Leitung tot. Was sollte der letzte kryptische Satz? Ein anderes Leben?
Wirf das Handy weg? Warum? Es war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Ihr Stiefvater hatte es ihr gekauft. Im Fernsehen hatte sie schon mal gehört, dass man damit Personen orten konnte. Ihre Mutter hatte wahrscheinlich Recht. Im Vorbeigehen entsorgte sie es in dem Papierkorb neben einem Schnellimbiss. Ihr Herz pochte. Schnellen Schrittes machte sie sich auf den Weg zum Bahnsteig. Das Ticket trug sie bereits in ihrer Manteltasche bei sich.
Der Zug war spärlich besetzt. Hannah hatte das Abteil für sich alleine. Die Landschaft zog unbemerkt an ihr vorbei. Mit jedem Kilometer wurde ihr leichter ums Herz. Sie dachte an das Baby. Der Start mochte etwas holprig sein, aber sie würde alles versuchen, um dem Baby ein echtes Leben zu ermöglichen. Keine Gefangenschaft. Keine Zwangsehe.
Und im selben Moment stieg ihre Angst vor dem Unbekannten. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Hätte sie Felix noch umstimmen können? Was würde aus ihrer Mutter werden? War sie in Sicherheit? Was sollte aus ihr werden? Und ihrem Baby? Der erneute Gedanke an das Baby überzeugte sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie in einem Ringelspiel.
Als der Bus am Marktplatz hielt, war Hannah überzeugt, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Der Bus war durch zahlreiche kleine Orte getingelt, die den Namen nicht wert waren. Einzelne Häuser. Viel Landschaft. Kaum Autos. Wenige Leute. Sie war vorher kaum aufs Land gekommen. Nur für wenige und seltene Ausflüge. Aber hier stand sie dort, wo sie niemals geglaubt hätte hinzukommen. Walding. Wenige Häuser säumten den Marktplatz. Die Kirche stand am südlichen Ende des kleinen Platzes.
Bei einem Rundumblick erkannte Hannah das Rathaus, einige kleine Geschäfte, ein Gasthaus und ein Café. Am nördlichen Ende zeigte ein bunter Wegweiser Richtung Schule und Kindergarten. Zahlreiche Blumenkästen, die derzeit schneebedeckt waren, belebten im Sommer bestimmt den Platz. Es sah heimelig und gemütlich aus. Dennoch hatte Hannah das Gefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Wo sollte sie hier eine Bleibe auftreiben?
Müde und etwas mutlos setzte sie sich auf die Bank unter einem großen Baum. Jetzt im Winter konnte sie nicht erkennen, welcher Baum das sein könnte.
„Grüß Gott. Warten Sie auf jemanden?“
Ein älterer Herr setzte sich ungefragt neben sie.
„Hallo. Nein … nein … ich kenne hier niemanden.“ Hannah antwortete leise.
„Für Urlaub ist es aber etwas zu kalt.“
Hannah lachte leise.
„Also, schönes Fräulein, was treibt Sie in unser schönes Walding?“
„Woher wissen Sie, dass ich nicht von hier bin?“ Es hatte keinen Sinn, den Mann zu belügen. Und er sah nicht so aus, als ob er ihr etwas Böses wollte.
„Mei, in diesem Ort kennt jeder jeden. Und ich lebe schon 76 Jahre hier. Und so ein hübsches Mädel wie dich, hätte ich mir bestimmt gemerkt.“
Hannah schmunzelte. „Ich suche einen Platz zum Bleiben und eventuell auch einen Arbeitsplatz?“ Sie war schon so verzweifelt, dass sie einem wildfremden Mann sofort ihre Probleme auflud.
Dieser hob überrascht die Augenbrauen.
„Aha. Das ist doch kein Problem.“ Er dachte kurz nach und sah dann auf seine Armbanduhr. „Aber jetzt ist der Simon noch Bestellungen ausliefern. Gehen wir mal etwas trinken.“ Er stand behende auf und ging flotten Schrittes Richtung Café. Hannah hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
„Ah, noch etwas. Die Sonnenbrille nimmst einfach runter. Wir wissen eh alle, was der Auslöser war. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir Waldinger können Gut und Böse voneinander unterscheiden.“
Verlegen steckte Hannah die Sonnenbrille in ihre Jacke. Das Veilchen war bestimmt gut zu erkennen.
„Ich hoffe, der andere hat auch was abgekriegt.“
Hannah schmunzelte und schüttelte traurig den Kopf. Ein Sonnenstrahl schob sich durch die Wolkendecke. Sollte das ein Zeichen sein?
Von außen wirkte das kleine Café unscheinbar. Als der nette Herr die Tür öffnete, drang eine Vielzahl an Stimmen auf sie ein. Es war ganz schön voll für einen Vormittag. Frauen und Männer saßen um verschiedenfärbige Tische. Kunterbunte Sessel standen ohne ersichtliche Ordnung locker im Raum. Er ging zielstrebig zu einem großen runden Tisch in der Nähe der Theke.
„Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin der Onkel Toni. Anton Huber. Aber alle sagen Onkel Toni, du also auch. Ich sag‘ gleich Du zu dir. Kannst ja meine Tochter sein. Oder sogar meine Enkeltochter.“ Onkel Toni zwinkerte.
Hannah lachte. „Ich heiße Hannah Neuhart.“
„Tee oder Kaffee?“
„Tee bitte. Ich bin keine Kaffeetrinkerin.“
„Andrea, bring uns zwei Schwarztee mit einem Schuss.“
„Ah, ich mag keine Zitrone im Tee.“
„Der Schuss hat sich auch nicht auf Zitrone bezogen.“ Onkel Toni zwinkerte schon wieder vergnügt.
„Äh, für mich auch bitte keinen Alkohol.“ Hannah dämmerte der „Schuss“.
„Na so was. Wenn du meinst.“
Eine strahlende Rothaarige brachte die beiden Teetassen. „Hi, ich bin Andrea. Zwei Mal Tee bitte sehr.“ Sie stellte die Tassen schwungvoll ab. „Heute kann ich euch leider wieder keinen Kuchen anbieten, ich habe noch immer niemanden gefunden, der für mich arbeiten möchte.“
„Macht nichts. Bring uns einen Teller mit Aufstrichbroten, damit Hannah hier etwas zwischen die Zähne bekommt.“
Hannah hatte wirklich Hunger. Es war bereits fast Mittag und sie hatte vor lauter Aufregung vergessen zu essen. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Alle drei lachten.
„Dann beeile ich mich mal. Scheinbar ist der Hunger größer als geglaubt.“
Als Andrea den Tisch verlassen hatte, beugte sich Onkel Toni interessiert über den Tisch: „Also Hannah, was erwartest du in Walding zu finden?“
Ja, was wollte sie hier. „Das weiß ich im Moment eigentlich auch nicht so genau. Ich … ich suche einen Platz zum Bleiben. Und vielleicht auch etwas Arbeit.“ Hannah legte ihre Hände in ihrem Schoß zusammen und blickte nachdenklich darauf.
„Wie sollte der Platz zum Bleiben denn aussehen?“
„Ein einfaches Zimmer würde reichen.“
„Du hast ja inzwischen bemerkt, dass wir es hier reichlich ländlich haben. Bist du dir sicher?“
„Nein. Ja. Ich weiß es noch nicht. Das lasse ich mal auf mich zukommen.“ Hannah setzte an: „Du musst verstehen, dass ich dort, wo ich bisher war, einfach nicht mehr bleiben konnte.“
„Verstehe. Ganz gut sogar. Walding ist ein herrlicher Ort, um neu zu starten. Du wirst sehen, es gibt viele tolle Plätze in unserem Ort. Und er hat den wirklichen Wohlfühlfaktor. Ich stell‘ dir gleich mal jemanden vor. Marie. Komm mal her.“
Eine zierliche junge Frau mit schulterlangen braunen Haaren drehte sich zu ihnen um und freute sich, sie zu sehen.
„Onkel Toni, was gibt’s Neues?“
„Marie, dass ist Hannah. Sie ist gerade hier bei uns gestrandet.“
„Hallo, woher kommst du?“
„Aus …“
Onkel Toni unterbrach sie: „Von weit her. Aber das ist nicht so wichtig.“
„Dein Auge sieht schlimm aus. Möchtest du eine kühlende Creme auftragen, dass es besser wird? Ich habe in der Handtasche immer Ringelblumensalbe. Das lindert etwas.“
„Danke, aber das ist nicht nötig. Das wird schon wieder.“
„Aber es ging schneller mit Salbe. Warte, ich streiche sie dir vorsichtig auf.“
Hannah wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie war noch keine Stunde in dem Ort und jeder kümmerte sich um sie, als ob sie sich schon ewig kannten.
„Also, ich wohne auf dem Bauernhof beim Ortseingang. Ich würde mich freuen, wenn du mich besuchen kommst, sobald du dich eingerichtet hast. Wo wirst du wohnen?“
„Ich habe noch keine Ahnung.“ Marie hob verwundert beide Augenbrauen.
„Ich denke, beim Simon wird das passen“, meldete sich Onkel Toni zu Wort.
Maria blickte erstaunt auf. „Beim Simon? Weiß er das auch schon?“
„Nein, aber er kann mir das ja nicht abschlagen.“
„Wenn der Simon dich nicht bei sich wohnen lässt, kommst du zu uns auf den Hof.“ Maria drückte freundschaftlich Hannahs Hand.
„Danke, aber das kann ich nicht annehmen. Du kennst mich ja nicht.“
„Dann gib uns eine Chance, uns kennenzulernen. Jetzt muss ich leider los. Thomas wartet auf sein Essen. Aber das nächste Mal sprechen wir ausführlicher.“ Maria beugte sich über den Tisch und drückte Hannah liebevoll an sich. „Tschüss, Onkel Toni. Tschüss, Hannah.“
„Tschüss.“
„Was möchtest du denn arbeiten?“, fragte Onkel Toni.
„Ich habe Konditorin gelernt. Und es hat mir immer Spaß gemacht, etwas zu backen.“
„Konditorin? Ich engagiere dich sofort!“ Andrea hatte den letzten Satz gehört und klinkte sich sofort ins Gespräch, als sie einen Teller mit Aufstrichbroten vor Hannah abstellte. „Was immer zu backen möchtest, ich bezahle dich dafür. Meine bisherige Lieferantin ist umgezogen und ich suche dringend jemanden, der mir fürs Café bäckt.“
Hannah blickte ihr Gegenüber verwirrt an. „Ist das Ihr Ernst?“
„Sag‘ doch nicht Sie zu mir. Wir sind hier alle per Du. Und ja, es ist mein Ernst. Meine Kunden sind auch ganz unkompliziert. Hauptsache süß. Mit und ohne Obst. Mit und ohne Schlagobers. Ich wäre für jeden trockenen Gugelhupf dankbar. Bitte, Hannah, sag ja.“
Hannah blickte nur verwirrt zwischen Andrea und Onkel Toni hin und her. Es sah so aus, als ob sich doch etwas zum Guten wenden könnte. „Ja, ich suche mir jetzt mal eine Bleibe und dann würde ich gerne auf dich zurückkommen und ich hoffe, dass wir uns irgendwie einig werden.“ Hannahs Wangen färbten sich rot. Dies war ihr erstes Bewerbungsgespräch und sie hatte sich kaum vorbereitet und schon sollte es vorbei sein.
„Das mit der Bleibe habe ich schon geregelt.“ Verwirrt blickten die beiden Frauen Onkel Toni an.
„Sie kann bei Simon bleiben.“
„Simon? Hast du ihn gefragt? Ich weiß nicht, ob das das richtige ist.“ Unsicher zog Andrea die Augenbrauen hoch.
„Sicher. Der weiß zwar noch nichts von seinem Glück, aber es ist zu seinem besten. Wir fahren dann gleich mal zu ihm hoch.“
„Ich muss noch bezahlen.“
„Aber nein, das geht aufs Haus. Schließlich freue ich mich auf deine Backergebnisse. Du lebst dich ein und wenn du so weit bist, kannst du gerne mal eine Kostprobe backen. Ich habe hinten eine kleine Küche, darin lässt sich sicher problemlos etwas zaubern. Und dann machen wir es uns beide aus.“
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, zu diesem Simon zu fahren. Gibt es denn keine anderen Zimmer, die ich mieten könnte?“ Hannah war von den Blicken von Andrea verunsichert. Scheinbar war es für Simon nicht in Ordnung, dass Hannah bei ihm wohnen sollte. „Hat er überhaupt ein Zimmer zu vermieten? Was tue ich, wenn ihm das nicht passt?“
„Mach dir doch nicht so viele Gedanken. Wir fahren jetzt mal hin und du wirst sehen, es wird sich fügen. Der Simon ist ein guter Kerl, aber er hat halt viel Arbeit und ist ganz alleine auf seinem Hof. Und mit seinen Ziegen ist er eben auch ein wenig ein Außenseiter.“
Hannah fügte sich die Informationen im Kopf zusammen. Bauernhof. Etwas abseits. Ziegen. Außenseiter. Simon.
„Wir fragen ihn, ob du nicht in dem Zubau wohnen kannst, den er damals für seine Mutter gemacht hat. Der steht eh schon seit zwei Jahren leer. Und da gehört eh Leben in die Bude. Da hättest auch deine eigene Küche. Es ist zwar klein, aber ihr würdet getrennt sein. Da kann er fast nichts dagegen haben.“
Onkel Toni packte die Reisetasche in einen klapprigen Opel. Ohne Kennzeichen. War dieses Fahrzeug überhaupt noch verkehrstauglich?
„Steig ein, Mädel. Es ist zwar nicht weit, aber ich bin zum Laufen zu alt.“
Unsicher ging Hannah zur Beifahrertür. Die klemmte.
„Fest ziehen.“ Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und fast hätte sie Hannah in der Hand gehalten.