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Die ewige Fahrt

Als Laura an diesem Vorfrühlingsmorgen das Flugzeug verließ und die Treppe hinunterging, schlug ihr eine für diese Jahreszeit ungewöhnliche Hitze entgegen, wie aus einem Backofen, dessen Tür plötzlich geöffnet wurde.

Um sie herum drängelten sich plötzlich die Passagiere auf engstem Raum, als flüchteten sie vor einem unsichtbaren Verfolger.

„Vergessen Sie die deutschen Gepflogenheiten! Sind Sie in Ägypten, machen Sie es wie die Ägypter! Hier geht Nichts ohne Nahkampf. Hier sind wir zu Hause, hier gelten unsere Regeln. Hier zählen nur diese!“, sagte eine füllige Frau scherzend und zeigte auf ihre pummeligen Ellbogen, als sie sah wie unschlüssig Laura weiterging.

Alle lachten brummig als Laura anfing, sich in dem Gewimmel durchzukämpfen.

Bis sie an der Grenzkontrolle angelangt war, klebten ihr bereits die Kleider auf der Haut, als hätte sie einen langen Marathonlauf hinter sich.

„Was hat eine so wunderschöne Blondine in zarten Jahren hier verloren und was treibt sie allein hierher?“, fragten die verschlingenden Blicke des jungen Grenzpolizisten. Sie muss doch von allen guten Geistern verlassen sein, muss er sich wohl gedacht haben.

Mit ihren leuchtend blonden Haaren, die ihr wie Seide auf die Schultern fielen und in ihrem pastellrosa knielangen Rock, der hin und her schwang, sah sie nämlich unverschämt gut aus. Er starrte sie mit flehender Bewunderung an und rieb sich über seine Augen. Sie hatte eine zarte, rosafarbene Haut, war rund, üppig wie eine reife Mango. Die Königin der exotischen Früchte. Eine Folter für das arme orientalische Auge.

Der junge Grenzpolizist schien unübersehbar zu genießen, was er sah. Er konnte gegen den Adam in sich nicht ankämpfen. Seine leicht versonnen schmachtenden Blicke verrieten dies.

„Großer Gott, lass mich daran ersticken“, sagten sie flehentlich.

Wie gebannt starrte er auf sie, von Kopf bis Fuß als würde er sie mit Laserblicken scannen und sie in seiner geistigen Datenbank zur späteren Verwendung speichern, als, wie aus dem Himmel, die scheppernde Stimme seines Kollegen, ihm tadelnd einen scharfen Befehl in einem provinziellen Dialekt zurief:

„Yalla Abdalla, schuf Schurlak!!! Los an die Arbeit!“

„…und werde nicht sentimental!“, plärrte er aus vollem Hals.

Es folgte gehemmtes Gelächter.

Der junge Grenzpolizist stieß einen Seufzer aus, hob seine Kappe und kratzte sich am Hinterkopf, als wäre es ihm etwas peinlich, bei seiner wahren Absicht ertappt zu werden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die anderen uniformierten Kollegen schnaubend auflachten.

Sie arbeite als Archäologin, „Ilm al-athar! Ilm al-athar!“, versuchte sie ihm auf Arabisch zu erklären, als er sie hinter einem erhöhten, vergitterten Schalter in gebrochenem Englisch nach dem Ziel ihrer Reise fragte und ihren deutschen Pass stirnrunzelnd in seinen Händen drehte.

„Arch--aeo--log--ist?!“, sagte er wichtigtuerisch und täuschte Erstaunen vor, während seine Brauen hoch bis zum Haaransatz schnellten und seine Augen hastig hin und her hechelten, als würde irgendwie der Begriff in ihm schwer wurmen.

„Ich weiß, Sie können sich es nicht vorstellen, aber das ist ein Beruf und sogar ein aufregender“, sagte sie lachend auf Englisch.

„Dass es noch etwas Anderes geben könnte als deutsche Touristinnen, liegt wahrscheinlich jenseits seines Vorstellungsvermögens…übersteigt seinen Horizont“, kommentierte sarkastisch die füllige Frau, die das Gespräch mitbekommen hatte, schob ihren Kaugummi von rechts nach links und ließ die Wimpern flattern.

Er runzelte die Stirn und überhörte ihren Kommentar. „Laura Talbrück“, flüsterte er vor sich hin mit übertriebener Ernsthaftigkeit, ihren für ihn komplizierten Namen buchstabierend und auf seinem Computer mit einem Zeigefinger zögerlich tippend.

Genüsslich drückte er seinen dicken Stempel in ihren roten Pass. Das feurige Erröten seiner Wangen verriet den Sturm der glühenden Empfindungen, die über ihn gerade hinwegfegten. Schnell erhaschte er verstohlen noch einen letzten Blick und wischte sich den Schweiß von der Stirn, was die Kollegen mit noch lauterem Gekicher quittierten.

„Gepriesen sei der Prophet!“, sagte er als Laura sich zum Gehen umwandte, und verzog seine Lippen zu einem langen lautlosen Pfeifen.

„Die goldenen Sommersprossen scheinen einem den Verstand geraubt zu haben“, frotzelte der Provinzler aus dem gegenüberliegenden Schalter mit einer gespielten, betörenden Stimme, ganz nebenbei, ohne ihn anzusehen.

Laura drückte sich dichter an eine Säule der Gepäckhalle und wartete auf ihre Tasche. Neugierig beobachtete sie, was um sie herum geschah. Die Fluggäste wurden immer nervöser, drängelten sich um das Förderband, hielten Ausschau nach ihren Koffern und beschwerten sich über die schleppende Förderung des Gepäcks.

Es dauerte lang, als würde es mit Kamelen herbeigeschafft. „Wann wohl die Karawane ankommt“, witzelte man.

Uniformierte Männer saßen in vielen kleinen Grüppchen lethargisch zusammen und verfolgten missmutig die Witze der Heimkehrer. Mit versteinerter Miene beobachteten sie sie Kürbiskerne knackend, Tee und ungesüßten türkischen Mokka schlürfend.

Endlich nach einer Weile ratterte das Gepäckband und brachte in quälender Langsamkeit die Koffer in die Halle.

Hurtig und genervt packten die Fluggäste ihre dicken Koffer, krampften die Hände um ihre Kartone und ihre Plastikeinkaufstaschen aus den Duty-Free-Shops. Jeder bemühte sich mit seiner Pyramide ab und verschwand eilend in Richtung Ausgang.

„Bringt Devisen, Leute! Überquert das Meer nicht um Wasser zu holen!“, sagte ein schnauzender Beamter barsch, mit einem wehmütigen Stich des Neids.

„Von dem asiatischen Zeug haben wir selber genug hier!“, setzte er mit schmetternder Stimme hinzu.

Als sich die Türen öffneten, weiteten sich Lauras Augen beim Anblick der vielen Familienangehörigen, die draußen hinter den Schranken, in der sauerstoffarmen Luft, warteten und spähten. Der von Lärm erfüllte Flughafen war plötzlich ein einziger Hexenkessel.

„Gott sei Dank seid ihr gut angekommen! Willkommen daheim, willkommen daheim! Sie erleuchten Ägypten!!“, begegneten sie rührselig jedem der Heimkehrer. Ein rührender Moment.

Etwas weiter rauften sich verzweifelte Leihautofirmen, Hotelvermittler und Taxifahrer um einige Touristen und redeten wild gestikulierend auf sie ein.

„Leute! Ihr seid ehrenwürdige Taxifahrer und keine Bettler! Benehmt euch!“, tadelte abfällig ein alter Herr.

Reisende versuchten, jeder auf seine Art, die nächste Transportmöglichkeit zu ergattern, nur um dem ganzen unerträglichen Rummel zu entkommen.

Kleine verstreute Gruppen lösten sich langsam auf.

Auch Laura eilte mit schnellen Schritten hinaus um nur so schnell wie möglich das tosende Durcheinander und das Gewirr hinter sich zu lassen.

Draußen regte sich kaum ein Lufthauch. Kairo brütete in einer erstickenden Hitze.

Laura war dabei ein Taxi heranzuwinken als eine hechelnde, verrauchte Stimme in ihrem Rücken erklang und eine süßlichblumige ägyptische Begrüßungssalve abfeuerte.

Als sie sich umdrehte blickte sie in das vom Wetter gezeichnete und zerfurchte Gesicht eines alten gedrungenen Taxifahrers, der mit einem breiten zahnlosen Lächeln vor ihr stand.

Halb in gebrochenem Englisch, halb auf Ägyptisch begrüßte er sie immer wieder mit den erlesensten Wendungen, die für ihren europäischen Geschmack bestimmt zu schwülstig klangen. Laura nahm sie so wie sie waren.

„Welcome…Welcome…Ich wünsche Ihnen einen Morgen voller taufrischer Rosen und Jasmin! Sie sanft duftendes Veilchen, Sie Jasmins´ Essenz! Was für ein Glanz in Ägypten! Ihr Besuch ist für uns eine Ehre.“

Laura hätte lieber mit ihm Arabisch gesprochen, aber er gab ihr keine Chance; er legte einen noch größeren Eifer an den Tag, so dass sie nicht Schritt halten konnte. Außerdem hatte das Klassisch-Arabisch, was sie in ihren drögen Vorlesungen gelernt hatte, mit dem Dialekt, den der Taxifahrer gerade sprach, wenig zu tun, um nicht zu sagen nichts. Zumindest kam es ihr so vor.

Der alte Fahrer öffnete übereifrig die Fahrertür des schwarzweißen Taxis älteren Baujahrs.

Laura stieg ein und nahm auf dem Rücksitz Platz. Der Taxifahrer quetschte sich mühsam in seinen Sitz und schloss die Tür so sachte wie möglich.

„Abu Huyam Abd-Essabur el-Harankesch!“, stellte er sich selbstbewusst vor. Laura stellte ihren Rucksack auf ihren Schoß und nannte die Zieladresse.

99, Rosengirlandengasse. Zamalek.

Der Taxifahrer murmelte ein paar Gebetsfetzen, bevor er versuchte, den alten Zündschlüssel herumzudrehen. Der Motor hustete und spuckte ein paarmal bevor er endlich ansprang.

Laura stellte die Zeit ein. Es war 5.30 Uhr in der Früh, als sie losfuhren, den Flughafen hinter sich lassend und sich langsam in den Verkehr einfädelten. Vornübergebeugt saß der alte Taxifahrer hinter dem Lenkrad, das er so fest umklammert hielt, dass seine Adern dunkelgrün hervortraten.

Es war recht viel Verkehr für einen Freitag. Kairo kennt nämlich keinen Ruhetag. Tag und Nacht bedeuten nichts. Die Menschen ebben und fluten in allen Richtungen, wie von unsichtbaren Strömungen bewegt.

Er betrachtete sie im Rückspiegel, an dem eine Hand der Fatima mit türkisfarbenem Auge in der Mitte baumelte.

Eine Zeit lang fuhren sie schweigend, bis der alte Taxifahrer sie mit der Frage überrumpelte:

„Wie lange werden Sie uns beehren?“, sagte er und drehte sich langsam wie eine Eidechse zu ihr.

„Solange meine Forschung dauert!“, kam ihr stockend über die Lippen.

Er möchte nicht unhöflich sein, er frage, weil sie nur mit einem kleinen Rucksack unterwegs war.

Der Taxifahrer erzählte, er fahre für sein Leben gerne Europäer, einzig und allein aus dem Grund, dass sie sehr praktisch reisen. „Keiner in der Welt reist mit so viel Aufwand, wie wir Ägypter. Wir Ägypter, wir sind unglücklich, wenn wir auf unserer Reise nicht die Pyramiden mit uns verlagern. Pyramiden sind immer in irgendeiner Art mit uns, egal wohin wir reisen. Wir sind die Pyramiden und die Pyramiden sind wir. Unzertrennlich!“, sagte er philosophierend und drehte sich langsam zu ihr um, über seine Formulierung lachend.

„Haben Sie jemals einen Ägypter erlebt, der mit einem einzigen Koffer reist?“, sagte er in fragendem Ton und wandte sich wieder zu ihr. Sie bewegte ihren Kopf hin und her, hielt sich am vorderen Sitz fest und wünschte im Stillen, er würde geradeaus schauen. Der Verkehr war nämlich gerade nicht beruhigend. Alle rasten mit gewaltiger Geschwindigkeit und überholten zackig und gewagt, während der Motor des alten Taxis bedenklich schnaufte und ächzte.

„Der Karren braucht bald einen neuen Motor! Bald stirbt er ab… bald gibt er den Geist auf…“, sagte er mehr zu sich als zu ihr und schlug mit der Hand ermahnend auf das dünne Lenkrad.

An den Laternen, entlang der Straße, die den Flughafen mit der Innenstadt verband, hingen gigantische schwarz-weiße Bilder von Präsident Husni Mubarak in seinen jungen Jahren. Voller Stolz schaute er von oben herab als würde er alles aus der unangreifbaren Höhe seiner Macht betrachten.

„Minnak lillah ya Mubarak, Minnak lillah ya Mubarak!!! Gott seiest du geklagt, Mubarak!!!“, redete der alte Taxifahrermehr mit sich selber und seufzte immer wieder, wenn sie an einer solchen Straßenlaterne vorbeifuhren. Eine große Spur von Frustration war in seiner Stimme mitgeschwungen.

„Er soll sich zum Teufel scheren! Zum Teufel mit dem Kerl! Mein Blutdruck klettert jedes Mal hoch, wenn ich sein Bild sehe“, sagte er in den Rückspiegel schauend wo er sah, dass Lauras Blicke auf den Plakaten geheftet blieben.

„Das Regime steht ganz oben am Rande des Abhangs und es ist kurz davor, in die Tiefe zu sausen. Das Hochseil wird langsam dünner und der Abgrund darunter tiefer, bloß es will niemand glauben“, flüsterte er und führte mit zwei Fingern über seinen Mund, als würde er einen Reißverschluss schließen.

Abd-Essabur hatte gute Gründe zu glauben, dass es, vielleicht in gar nicht allzu ferner Zukunft, so kommen würde.

„Dieser Mann und sein Klüngel haben uns ruiniert. Sie haben uns versklavt, gedemütigt und ausgewrungen, dreißig Jahre lang leben wir nun schon unter seiner Fuchtel und seiner Knute!“, schnaubte er verächtlich, wobei er in den Flüstermodus verfiel.

„Stellen Sie sich vor“, erging er sich erneut in einem lawinenartigen Monolog über die Drangsale seines Lebens, „mit 20 Pfund am Tag konnte man früher eine ganze Familie festlich ernähren.“ Er tätschelte sich den Bauch. „Es gab Hähnchen, gefülltes Gemüse, es gab Muskraut mit Kaninchen, und … und am Ende jeden Arbeitstages hatte man sogar kleine Geschenke für die kleinen Kinder mitgebracht. Und heute? Die Reichen schwelgen im Überfluss und von uns wird immer wieder erwartet, den Riemen enger zu schnallen. Wir essen und trinken nach dem Kamelprinzip: Wenn wir die Gelegenheit haben, legen wir für die Hunger- und Durststrecken einen Vorrat an und schaufeln alles in Reichweite in uns hinein, wer weiß, sagen wir uns, ob wir so schnell wieder etwas bekommen. Den Duft von gegrilltem Fleisch kennen wir nur noch aus der Erinnerung. Bald dürfen wir uns mit Kutteln, Hunde- und Eselsfleisch trösten.“

Er warf Laura einen gequälten Blick zu. „Der Torschi, das eingelegte Essiggemüse und das strohige Brot, treiben dem Volk die Galle hoch. Uns läuft die Galle buchstäblich über. Mich würde es nicht wundern, wenn die Menschen bald übereinander herfallen. Hunger lässt nämlich Wolfszähne wachsen. Möge alles Übel sich von dir fernhalten, Ägypten!“

Laura fiel es schwer, Worte zu finden. Außerdem ließ er ihr gar keine Zeit zur Besinnung. Es schien auch so als erwartete er gar keine Antwort von ihr, als bräuchte er lediglich ein Ventil für einen langjährigen aufgestauten Zorn. Offensichtlich war er froh über die Gelegenheit, sich das Ganze von der Seele zu reden. So ließ sie ihn für zwei reden. Es war längst nicht alles zu verstehen, aber sinngemäß wusste sie, was ihm schwer auf der Seele lag.

Stolz holte er aus seinem alten Portemonnaie ein Bild heraus und seine Stimme nahm plötzlich den nachdenklichen Tonfall von jemandem an, der in einen alten schönen Traum versank: „Nasser!“, sagte er ehrfürchtig und legte den ganzen Stolz Ägyptens in seine Stimme. Eine Weile herrschte Stille, als würde er eine gebührende Schweigeminute einhalten, dann nahm er einen tiefen Atemzug, der einen gewichtigen Satz ankündigte.

„Ach Nasser! Dein Land braucht dich jetzt….“ In seiner Stimme schwangen alte rührselige Erinnerungen und so viel ermattete Sehnsucht. „Mich erfasst Wehmut, wenn ich an die alten Zeiten denke…“, setzte er nostalgisch fort und verstummte wieder mitten im Satz, schüttelte den Kopf, bevor er sich wieder seinen lauten Träumen hingab.

„Viele gescheite Leute bei uns sind heutzutage der Meinung, und denen stimme ich zu, dass wir einen neuen Gamal Abdel-Nasser brauchen.“

Er erzählte über Nasser als ob er ihn persönlich kannte und ihm nahestand. Wie einen geschätzten Arbeitskameraden: „Wir sagten zu Nasser…. Nasser sagte zu uns.“ Er verstand es, diese Geschichten so lebendig zu erzählen, dass Laura fast glaubte, sie selbst miterlebt zu haben.

„Der unsterbliche Anführer, der das ägyptische Volk verehrte und dessen Puls, Schlag für Schlag, fühlte. Das Inbild glühender Vaterlandsliebe und symbolischer Hoffnungsträger aller Ägypter: Fellachen, Arbeiter, Soldaten und einfache Menschen, wie ich. Zu seiner Zeit platzten wir vor Stolz. Der Ägypter trug den Kopf hoch. Sehr hoch, sooooo!“, sagte er voller Stolz und streckte seinen Kopf in die Höhe.

„Und heute?“, sagte er mit deutlichem Abscheu in der Stimme und machte eine Gebärde des Bedauerns, die auf den desolaten Zustand deuten soll. „Alle wollen bloß weg. Der moderne Auszug aus Ägypten!“ Er seufzte geräuschvoll und fuchtelte mit einer zusammengefalteten Zeitung, die auf dem Nebensitz lag, herum. „Junge Männer in ihrer ersten Blüte verirren sich in der libyschen Wüste und begeben sich in den Rachen des Todes, verfangen sich in dem heimtückischen Netz, das die ruchlosen und gewissenlosen Schlepper um sie herum spannen. „Schauen Sie!“, sagte er in herablassendem Tonfall und zeigte auf ein Bild von gestrandeten Leichen: „Selbst das Mittelmeer will sie nicht mehr und spukt sie aus wie bittere Früchte. Sie alle träumten davon, dass noch manch freundlicher Hafen auf sie wartete, mit immerwährendem Frühling. Hier gibt es keinen Frühling.“

Er hielt kurz inne, um dann schäumend weiter zu schimpfen. Laura schüttelte mitfühlend den Kopf. Er sprach von Doktoren, die mit ihm schichtenwechselnd Taxi fahren nur um sich ihre armseligen Hungerlöhne aufzubessern, wenn sie nicht gerade arbeitslos waren. Er sprach von Menschen, die ihre Organe verkaufen, um ihren kleinen Familien ein würdiges Leben bieten zu können.

Laura schüttelte bedauernd den Kopf, wusste aber nicht recht, wie sie den armen alten Taxifahrer trösten oder beruhigen konnte.

„Schwer vorstellbar, unglaublich“, sagte sie leise.

„Eine Unverschämtheit! Das ist unentschuldbar…“, sagte er heiser.

Er verstummte mitten im Satz und verfiel für einen kurzen Moment etwas beruhigt in träumerisches Schweigen. Im Radio des keuchenden Taxis lief gerade eine religiöse Morgensendung. Hingerissen lauschte er den Erzählungen, den Arm aus dem Fenster hängend, während Laura gerade noch den völlig verrauschten Ton mitbekommen konnte.

„Geduld ist schön. Wenn man im Leben geduldig wartet, kommt alles zu einem, als wäre es ein Stück von einem selbst. Wenn nicht diesseits, dann im Jenseits doppelt und dreifach… Das irdische Dasein sei nichts anderes als ein Acker für das Jenseits und Geduld ist sein Bewässerungskanal. Wer Geduld übt, dem gibt das Leben alles, was er begehrt“, sagte zuversichtlich der Prediger, der ein profundes Wissen über die Bewohner, die Geographie, die Schätze und die Animationsangebote des Jenseits zeigte.

Abd-Essabur lauschte angestrengt, wie der Tugendbold das Jenseits großspurig schilderte, so als hätte er dort gerade einen all inklusive Urlaub verbracht. Die vielen mit Brokat durchwirkten Ruhebetten, die Paradiesbewohnerinnen und die exotischen Früchte, die einem dort den Atem verschlagen. Es gibt keinen Dieselgestank und kein Verkehrschaos. Stattdessen gibt es bloß Ausritte auf geflügelten Pferden von einem Festmahl zum nächsten. Es wird nur noch geschmaust und bankettiert. Saftiges Fleisch und Weinflüsse ohne Ende, aus denen man so viel trinkt wie man möchte und dazu noch ohne Kater. Auf Abd-Essaburs Lippen hatte sich ein träumerisches Lächeln geschlichen. Er blieb eine ganze Weile still und seufzte erregt. Stöhnend träumte er von den lieblichsten Obstbäumen, unter deren Ästen er wandelte.

Das Stirnrunzeln war auf einmal ganz verschwunden und die Lippen bewegten sich stumm, als spreche er sein Gebet. Laura kam erst wieder ganz zu sich als sie erneut das Hupen hörte. Der Taxifahrer hatte nämlich einen nervösen Daumen, der in kurzen Abständen auf die Hupe drückte. Einfach so, als wäre das Hupen in seinen Ohren Musik.

Laura schaute auf die Datumsanzeige ihrer Uhr. Sie hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehengeblieben.

30. März 2010.

„Wir müssen uns beeilen, bevor wir in dichten Verkehr geraten“, sagte er besorgt und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch, während seine Hände sich fester um das Lenkrad schlossen.

Der Wagen holperte so stark, dass die Hand der Fatima schnell hin und her schwang - wie ein Pendel - und sie bekam Angst, dass das Taxi von einer der vielen Brücken abkommen könnte. Sie waren nämlich alle in einem schlimmen Zustand. Überall Spalten und Risse, manchmal fehlte gar der Brückenrand. Hier musste ein schwerer Wagen entgegen geknallt sein. Man konnte sehen, dass irgendjemand einen halbherzigen Versuch unternommen hatte, ein paar größere Löcher im Boden dilettantisch zu flicken. Die fehlenden Randstücke wurden jedoch nicht ersetzt und ließen den Blick frei auf das Chaos darunter.

Verkrampft starrte Laura aus dem Fenster in den ewigen Verkehr. Sie dachte für einen Moment, ihr Herz bliebe stehen. Sie versuchte sich zu beherrschen und suchte vergeblich nach einer Kopfstütze, einer Armlehne oder einem Griff. Von einem Sicherheitsgurt keine Spur. Schließlich empfahl sie sich in die Obhut des Himmels und ergab sich ihrem Schicksal.

„Der Herr stehe dir bei, Laura!“, sagte sie sich im Stillen und klammerte sich fest an ihren Rucksack. „Der Kairoer Verkehr ist halt nichts für hyperphobische Europäer“, dachte sie für sich.

Keiner hielt sich an Verkehrsregeln oder Geschwindigkeitsbegrenzungen. Lastwagen, die auf der ganzen Welt rechts fahren, fuhren hier links. Sie wechselten so schnell von rechts nach links und wieder zurück, dass einem schwindlig wird. Jeder machte sein Ding, jeder überholte wie und wann es ihm das gerade passte und jeder quetschte sich in eine noch so kleine Lücke. Aus zwei Spuren machten sie vier. Von allen Seiten wird laut und ärgerlich gehupt. Sie blinkten rechts und fuhren links. Doch hinter dem Chaos müsste ein System oder ein Code stecken, der für Außenstehende nicht leicht zu knacken war, grübelte sie und sie brauchte nicht allzu lange, um festzustellten, dass sämtliche Verkehrsteilnehmer sich einzig und allein, stillschweigend darauf geeinigt haben mussten, nicht miteinander zusammenzustoßen. Alles ist in bester Ordnung, solange alles in seinem natürlichen Chaos ist. Wer für Ordnung sorgen möchte, schafft nur mehr Chaos. Spontaneität und Zuverlässigkeit in der Produktion des Chaos sind Dinge, die hier sehr gefragt werden, hatte sie sich sagen lassen, kurz vor ihrer Abreise. Alles ist eine lebensgefährliche Millimeterarbeit, doch es klappt irgendwie, wenn auch nicht immer. Die Ägypter beherrschen dieses Spielchen perfekt, Laura dagegen machte das schwindelig. Selbst Michael Schumacher würde es Schwindel erregen, dachte sie sich. „Wer die Fahrweise der Ägypter versteht, ist auf gutem Weg ihre Mentalität zu verstehen.“ Ein Tipp, den ihr Abd-Essabur lachend gab.

Sie verglich die lebhafte Geschäftigkeit Kairos mit der ländlichen idyllischen Atmosphäre Münsters. Seltsamerweise kamen ihr unvermittelt der kleine Ludgeri-Platz, wo die Kaninchen brüteten und hoppelten und die Münsteraner Fahrradfahrer mit ihrer Fahrradweg-Mentalität in den Sinn. Lächerlich! Wie sie sich ärgern, wenn man einen Hauch von den Normen abweicht, etwa wenn das Rücklicht nicht brennt, man keine leuchtenden Streifen an der Kleidung trug, wenn man sich nicht genug rechts hielt oder wenn man nicht rechtzeitig genug die Hand hebt um auf die einzuschlagende Richtung hinzuweisen. Wehe dem Fußgänger, der es wagte aus Versehen, die Fahrradspur ein klein bisschen in Anspruch zu nehmen. „Sind Sie lebensmüde oder von allen guten Geistern verlassen?“, bellten sie einem hinterher und tippten sich zänkisch an die Stirn.

Laura schaute gerade mit angehaltenem Atem wie eine vierköpfige Familie -Mann, Frau, Kind und ein Baby- ein Motorrad im Verkehrschaos Kairos als Transportmittel benutzte. Sie wunderte sich, dass so viele Leute auf einmal auf ein Motorrad gequetscht, ohne Helm oder dergleichen fuhren. Sie staunte, wie der Junge vorne auf dem Tank thronte, die Frau lässig hinter ihrem Mann saß, mit übereinandergeschlagenen Beinen und dem Baby auf dem Schoß, während dem Mann eine Zigarette im Mundwinkel klemmte. „So etwas bekommt man sonst im Zirkus zu sehen“, dachte sie sich. „Sie holen sich ganz gewiss den Tod!“

Laura hoffte inständig, dass das Baby unversehrt nach Hause kommt.

Das Taxi ruckelte und schaukelte, so dass ihr Magen sich jedes Mal hob und sank, wenn sie über ein tiefes Loch in der Straße hinweg schossen und sie mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Der Benzingestank erhitzte die Luft und verursachte einen unangenehmen Ruck in ihrem Magen.

Der Taxifahrer, träumte immer noch schweigend vor sich hin, schüttelte eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie sich hungrig an. Er nahm gierig einen Zug und blies den Rauch so grimmig aus, als wollte er damit sein Trübsal wegblasen. Er war ein leidenschaftlicher Raucher. Er rauchte die Zigaretten nicht, er rollte sie im Mund hin und her, nuckelte an ihr, kaute sie buchstäblich, man könnte meinen er möchte sie samt Papier und Tabak verschlingen. Es roch schwer nach Zündholz und Heu. Das gab Laura den Rest. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und war einer Ohnmacht nahe. Davon schien er nichts mitbekommen zu haben. Erst als Laura mit den Händen wedelte, um die beißende Rauchwolke zu zerstreuen, erst dann bat er um ihr Verständnis und blies entschuldigend den Rauch zu dem offenen Fenster hinaus.

Zum Glück mussten sie halten, denn der Kühler kochte über und ließ das Auto hopsen und schliddern wie ein wild gewordener Ackergaul.

Sie hatte eine kleine Pause gut gebraucht, um der Übelkeit erregenden Hitze im Taxi zu entkommen, und damit ihre Eingeweide wieder ihren Platz finden können. Von Luftschnappen war jedoch keine Rede. Kairo glich an diesem Tag einem stickigen Ofen. Draußen roch die Luft nach Verbranntem.

Für den alten Taxifahrer war es wieder eine Gelegenheit ein paar Zigaretten zu verschlingen, in seine Rauchschwaden einzutauchen und unablässig Dampf ablassen.

In einem lustigen Kauderwelsch aus Arabisch, Deutsch und Englisch mochte er ihr ein paar seiner Geheimnisse verraten, die ihm in der letzten Zeit aufs Gemüt drückten. Sein größter Traum wäre es nämlich, seine Blechkiste gegen einen Mercedes einzutauschen. Es müsse ja nicht unbedingt eine nagelneue Mercedeslimousine sein, Hauptsache vorne sitze der Stern. Mit dem Stern vorne fahre es sich besser und der Fahrkomfort erhöht sich, meinte er felsenfest überzeugt.

„Meine Blechkarre ist nämlich ein trotziger Esel geworden. Ich habe das Gefühl, dass wenn ich Gas gebe, sie förmlich nach hinten springt, und wenn ich den Rückwärtsgang einlege, hüpft sie nervös nach vorne“, sagte er und brach in Gelächter aus. Er schien sich nicht mehr halten zu können.

Sein zweiter Traum wäre gewesen, soviel glaubte Laura verstanden zu haben, seine Frauen gegen Mertel auszutauschen.

Er schwieg ganz kurz, machte ein paar tiefe Züge, sah etwas träumerisch, wie sich die Rauchkringel von seiner Zigarette nach oben ausbreiteten. Er liebte Ankila Mertel (so sprach er den Namen aus), über alles, sagte er während der Zigarettenrauch aus seinen Nasenlöschern strömte. Er habe in seinem Leben vielen Frauen den Kopf verdreht und etliche kämpften um ihn und sind bis heute unglücklich in ihn verliebt, sagte er halb im Ernst, halb im Spaß und zwirbelte mit seinen dicken Fingern seinen buschigen Schnurrbart; ein großer Rosenkavalier und Herzensbrecher, schauspielernd, während ein breites selbstgefälliges Lächeln auf seinem Gesicht erschien.

Er schwieg eine Weile in Erinnerungen versunken, dann schwor er beim Leben des Propheten und allem, was ihm heilig war, alle Frauen der Welt wegzustoßen, just wenn die deutsche eiserne Lady mit dem schönsten Blick und der sanftesten Stimme der Welt, ihn einmal einladen würde. Seine Bewunderung für sie sei nämlich grenzenlos. Von ihrem eisernen Willen und politischem Geschick können sich viele arabische Staatsmänner eine fette Scheibe abschneiden.

„Schade, dass du keine Araberin bist, Miss Mertel!“, bedauerte er, während er den letzten Zug von seiner Zigarette nahm, kurz bevor der Filter glühte, und auf das Dach seiner „Blechkiste“ schlug. Diese Frau hat den Verstand von zehn Männern. Davon schien er überzeugt.

„Ich glaube, sie liebt die Araber!“, offenbarte er.

Laura wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht und konnte sich dabei ein Grinsen nur schwer verkneifen, als ihr das reizende Bild von Abu Huyam Abd-Essabur el-Harankesch und „Miss Mertel“ in den Sinn kam, händchenhaltend durch das Brandenburger Tor spazierend. Sie würden ein hübsches Paar abgeben. „Welche Frau der Welt könnte dieser Anmut und diesem Charme widerstehen“, rang sie sich ein dünnes Lächeln ab.

Nach einer Weile der Träumerei ging die Raserei von neuem weiter.

„Ma tiqlaqiiiisch! Keine Sorge! Bald müssten wir in Sichtweise von Zamalek sein“, sagte der Taxifahrer beruhigend als er ihre Müdigkeit und langsam wachsende Unruhe bemerkte.

Weit in der Ferne erschien das Zentrum unter einer düsteren Smoghülle, die wie eine schwere Glocke über der ganzen Stadt lag, als ziehe gerade ein heftiger Sandsturm über sie hinweg. Schweigend saß Laura erstarrt im Taxi, das rumpelnd und mit heulendem Motor dahin brauste. Durch das unklare Seitenfenster betrachtete sie die Stadt, die wie im Zeitraffer hinwegflog. Es war das pure Hinübergleiten in ein anderes Universum. Sie fuhren an vielen kleinen, grün beleuchteten Moscheen vorbei und über viele Autobahnbrücken, bevor sich der Nil endlich zeigte. Sie fühlte sich desorientiert und spürte nichts von dem Frohlocken, das sie erwartet hatte.

„Das ist der Nil!“, deutete der Taxifahrer mit einer ruckartigen Kinnbewegung, ohne das Lenkrad loszulassen. Sie sah fast nichts durch die schmutzigen Fensterscheiben. Für einen Moment dachte sie in einem Gruselfilm zu sein. Ein trüber dichter Dunst lag wie ein Tuch über dem Nil und verhüllte die ganze Stadt, die abwechselnd hervortrat und wieder verschwand, wie eine geisterhafte Erscheinung, die auf einer trübgrauen Leinwand flackerte. Mühsam kurbelte sie das Fenster runter und spähte durch die Nebelwolke hinaus, die sich intensiver über dem Fluss bildete. Ihre Augen weiteten sich langsam. Wie gebannt schaute sie hin und geriet allmählich in einen Schockzustand. Die Bewunderung, die sie früher empfunden hatte, fiel auf einmal von ihr ab und war wie im Nu verflogen. Es ist einfach alles so viel anders, als erwartet. Kairo, wovon sie ihr ganzes Leben geschwärmt hatte und das sie aus den vielen Filmen, Vorlesungen kannte und aus den Büchern, die sie schon als Kind voll Sehnsucht und Verlangen durchblätterte, war prächtig, unvergleichlich schön, einfach magisch-orientalisch.

„Nein! Das darf nicht wahr sein! Das ist nicht mein Nil und das ist nicht mein Kairo!“, sagte sie sich in tadelndem Tonfall und mit wehmütigem Beiklang.

Die Stadt, die sie in jenem Moment wahrnahm, hatte eine gewaltige Ausdehnung erreicht. Sie erschien in den Frühstunden dieses Tages trist und farblos und bot einen schäbigen Anblick. Vielleicht war ja der dichte Dunst schuld, dachte sie sich.

Immer wieder tauchten heruntergekommene Hausboote, rostige Autos mit platten Reifen und abgebrochenen Seitenspiegeln in Erscheinung. Überall ein Häusergewirr, Vernachlässigung und Verfall. Häuser mit unverputzten roten Ziegeln erweckten den Eindruck einer willkürlich hingeworfenen Siedlerstadt, die über Jahrzehnte hinweg von allein ohne Hilfe von Stadtplanern gewachsen war und in der sich Zuzügler einfach dort niedergelassen hatten, wo es gerade eine Lücke gab.

Ihr enttäuschter Blick blieb eine Weile an einem Bild Mubaraks hängen und sie legte ihre Stirn missbilligend in Falten. Mühevoll schluckte sie die Splitter eines zerplatzten Traumes hinunter. Die Städte sind letztendlich das Produkt ihrer Regierenden. Kairo ist zu dem geworden, was diese aus ihr gemacht haben: ein farbloses, lautes, chaotisches Labyrinth. Hier und dort eine Müllhalde. Plastikflaschen. Plastiktüten. Die Straßen ein Schmutzfeld.

Das letzte Mal, als sich die Stadt herausgeputzt hatte, erzählte Abd-Essabur, war, als Barack Obama Kairo seinen ersten Besuch abstattete. In kürzester Zeit war ein Teil der Stadt in Ordnung, aufgeräumt und die Straßen blitzsauber gefegt und abgespritzt. Man hatte Hunde, Katzen und Bettler verjagt und alle Formen des Elends regelrecht weggeschrubbt. Es wurde nichts dem Zufall überlassen. Über Nacht wurden Straßen asphaltiert, Laternen aufgestellt und saftgrüne Palmen gepflanzt, Bordsteine wurden frisch gestrichen. Und parkende Autos abgeschleppt. Plötzlich erkannte man, dass diese Stadt doch Bürgersteige hatte. Die Stadt wurde über Nacht blitzblank. Und was man nicht wegpusten konnte, wurde hinter die Cache-misère gebracht, um das Gebrechen der Stadt zu verdecken. Fassade. Fassade. Alles Fassade! „Es hat ausgeschaut, als würde man Lippenstift auf dickem Rotz auftragen“, sagte Abd-Essabur und musste selber über seine Formulierung lachen. Er wollte nicht mehr aufhören zu lachen.

Langsam bog das Taxi von der Brücke ab und nach einer Weile verkündete ein Schild, dass sie sich in Zamalek befanden. „Ein elegantes Stadtviertel in bester Lage, eine geschützte Insel, ein friedliches Plätzchen! Willkommen im Garten von Eden!“, sagte der Taxifahrer und seufzte wehmütig. „Hier sind die meisten Prominenzen und Exzellenzen, hier wohnen Diplomaten, ausländische Experten und die cremigen und wohlhabenderen Ägypter.“ Wie er die letzten Wörter betonte, das klang verbittert, fast verächtlich.

Lauras Blicke wanderten zu Straßenfegern und jungen Müllmännern in schäbigen Kleidern, die gerade einen roten Chevrolet mit einem fetten Logo beluden. Wem die Arme bis zu den Ellbogen im Müll stecken, wünscht man keinen Morgen voller Jasemin und Zimtäpfeln! entzifferte sie auf dem Wagen.

Ihre zarten Rücken krümmten sich unter der Last der Müllberge, die die Herrschaften Tag für Tag produzierten. Sie schlurften unter ihrer Last vornüber gebeugt mit watschelnden Schritten die Straße hinauf in Richtung der nächsten Mülltonnen dieses reichen Viertels, immer wieder den Riemen der Tragetasche richtend, die ihnen von den zarten Schultern zu gleiten drohten.

Hier und da wühlten Kinder im Schulalter in den Abfällen und steckten sich, was sie aus den Abfalleimern gefischt hatten und noch verwerten könnten in die Jackentaschen.

Das Taxi umfuhr verrottende Säcke mit diesem und jenem, Mülltonen, die überquollen mit Imbiss- Verpackungen, streuenden Hunden und Katzen. Überall unheimlich viele Katzen.

Mit einer geschmeidigen Drehung des Lenkrades bogen sie in eine schmale Gasse, die mittendrin versteckt war, wie ein Irrgang in einem Irrgarten. Er legte eine prompte Vollbremsung hin, dass er selbst fast an die Windschutzscheibe knallte.

„Hier sind wir, Alhamdu lillah ala Salama! Gepriesen sei Gott, dass wir heil angekommen sind!“, sagte der Taxifahrer und deutete auf ein altes etwa fünfgeschossiges Haus. Laura streckte ihr Rückgrat und atmete langsam aus, als hätte sie während der gesamten Fahrt den Atem angehalten. Sie gab sich keine Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. Wer hier schon einmal Taxi gefahren ist, weiß, warum man hier einander nach jeder Fahrt gratuliert, dass man unversehrt angekommen ist.

Autofahren ist generell, wie in den Krieg ziehen, man weiß nie, ob man heil zurückkehrt, aber man zieht trotzdem dahin.

Laura trat vor das Haus und schaute sich beinah verängstigt um. Sie wusste nicht wohin sie sich wenden sollte. Sie reckte ihren Hals und starrte auf ein grauverwittertes, etwas verfallenes Gebäude, dessen Anstrich völlig abgeblättert war.

Nile View stand auf einem alten Schild in schöner Kalligraphie.

Das Haus, aus der englischen Kolonial-Zeit, war in einem schlechten Zustand. Es war vermutlich von Anfang an nicht sonderlich solide gebaut und mittlerweile äußerst marode. Hier wohnen bestimmt keine Diplomaten und keine „hohen Tiere“, dachte sie sich. Es lagen mindestens ein Dutzend mickerige Katzen herum. Sie maunzten und schmiegten sich, ihre Schwänze wedelnd, gleich an ihr Bein. Als würden sie sie willkommen heißen oder ihr etwas erzählen wollen.

Laura wühlte in ihrer Tasche und reichte dem alten Taxifahrer das Geld, das er zuerst entschieden zurückwies und erst nach wiederholtem Bitten mit überschwänglich blumigen Dankesworten entgegennahm. Das war ein gutes Omen für seinen langen Tag voller Jasminblüten. Er küsste die Scheine und führte sie an seine Stirn. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Bleiben Sie in Gottes Obhut, Miss! Sie bringen Licht zu uns! Ihre Anwesenheit verleiht ganz Ägypten Glanz!“

Er öffnete das Handschuhfach und stöberte eine Weile darin herum, schließlich förderte er eine zerknitterte Visitenkarte ans Tageslicht. Er gab ihr seine Telefonnummer und bat sie, ihn nicht zu vergessen bei ihrer Rückkehr, seiner „Mertel“ und Germany herzliche Grüße vom ägyptischen Volk und von Abu Huyam Abd-Essabur el-Harankesch, dem attraktivsten Taxifahrer Kairos, auszurichten.

„ I lobe you Germany, Of Wadersee Miss! Esch Lebe Desch… Ankila Mertel! Esch Lebe Desch Gerrar Schnöder, Backenbauer, Merzedes…!“, trällerte er freudestrahlend in seinem besten Deutsch. Dann lachte er fidel aus vollem Halse und skandierte abschließend mit gereckter solidarischer Faust ein dreifaches Es lebe Ägypten!

Sein Lachen war ansteckend. Sie machte ihm die Kampfgeste nach und lächelte etwas neckisch.

Ihr ging gerade das Bild Abu Huyam Abd-Essaburs und „Miss Mertels“ durch den Kopf, wie sie romantisch harmonisch und verträumt durch das Brandenburger Tor Hand in Hand schlendern. Sie fand das Bild witzig und war sicher, sie würde sich bei späterem Nachdenken immer wieder darüber amüsieren. Wenn sie bei der Fernsehsendung „das Paar des Jahrhunderts“ mitmachen, würden sie zweifelsohne den ersten Preis gewinnen.

Abd-Essabur zog an der Zigarette, die seinen Mund nie verließ und stieß den Rauch seitlich aus. Er winkte grob, mit beiden Händen, bevor er in seine widerspenstige Karre einstieg und mit brüllendem Motor und qualmenden Auspuff wegfuhr. Laura winkte zurück. Irgendwie war er ihr ein Stück ans Herz gewachsen. Es war schließlich eine ewige abenteuerliche Fahrt gewesen, vom Flughafen bis nach Zamalek. Sie blieb stehen und vernahm das müde Ächzen des verbeulten Taxis, das den kleinen Irrgarten langsam verließ und wieder Richtung Flughafen rumpelte.

Sie blickte etwas verzweifelt um sich. Sie wusste nicht recht wohin sie sich genau wenden sollte, als sie ein Schlüsselknirschen hörte, sich eine kleine Tür knarrend öffnete. Ein schmächtiger Mann in einem langen abgewetzten gräulichen Gewand, einen hellblauen Turban über seinem Mondgesicht mit buschigem Schnurrbart gewickelt, tauchte hüstelnd auf, sich den Schlaf aus den Augen wischend. Der Pförtner, dachte sie sich. Hier nannte man ihn Bawwab. Diese gehörten wie auch ein Privatfahrer in Kairo zum Statussymbol. Vor jedem Haus stand eine ganze Armada von ihnen. Je mehr vor der Haustür hocken, desto wichtiger sind die Hausherren und desto höher deren soziales Ansehen. Man zeigte seinen Reichtum durch ausreichend Personal.

In einem starken einheimischen Akzent begrüßte er sie freundlichst, er hatte sie bereits erwartet. Bevor sie den Mund aufmachen konnte, griff er, noch halb im Tran, nach ihrem Rucksack. Er öffnete ihr die eiserne Tür und schob sie zusammen mit ihrem Rucksack in den kleinen schmuddeligen Fahrstuhl, der sie ein bisschen an die Fahrkörbe eines Bergwerkes im Ruhrgebiet erinnerte. Der Fahrstuhl ratterte nach oben und hielt abrupt im letzten Stock. Sie gingen ein paar Treppen höher und schon befanden sie sich auf der Dachterrasse. Sie konnte es kaum erwarten, endlich heimzukommen. Sie war zum Umfallen müde und konnte ihre Beine kaum noch spüren.

„Hier ist Ihre Wohnung mit schönem Nilblick“, sagte der Bawwab während er sich an dem Schloss zu schaffen machte und an ihm heftig ruckte und rüttelte, bis es endlich nachgab.

Stolz führte er sie hinein und merkte, dass sie die Nase rümpfte. Beide mussten husten, als sie den Staub und die stark nach Putzmittel riechende Luft einatmeten.

„Maalisch! Maalisch! Es macht Nichts!“, sagte er tröstend mit einem verlegenen Grinsen. „Just polish! Just polish!“, sagte er sanft und schenkte er ihr ein freundliches Lächeln.

Als ihm klar war, dass sie seine Worte nicht mehr aufnahm und die Hand vor den gähnenden Mund hielt, machte er sich davon.

Sie fing sich und in der Tür stehend warf sie ihm noch ein Wort des Dankes hinterher. Dann schloss sie Tür und Fenster und schob den Riegel vor, obwohl der Geruch penetrant war. Den Vorhang ließ sie offen, er war sowieso nur Zierrat. Sie merkte wie die Müdigkeit in ihr hochkroch und eine große Mattigkeit über sie kam. Die Fahrt vom Flughafen kam ihr ewig lang vor, länger als der Flug an sich.

So kickte sie ihre Schuhe weg und ließ sich auf das kleine quietschende Bett niedersinken. Sofort fiel sie in einen unendlich tiefen Schlaf.

Blick auf den Nil

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