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Introvertiertheit: Angeboren, anerzogen oder selbstgemacht?

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Unsere Persönlichkeit wird durch drei Bereiche geformt und beeinflusst:


„Introvertiert: Ruhe ausstrahlen – Zeit für mich und andere nehmen – sich auf das Wesentliche fokussieren – achtsamer mit sich sein – einfach über den Dingen stehen.“

Helga Rohra, Demenzaktivistin

Biologie, Prägung und Selbststeuerung formen meine Persönlichkeit. In der Grafik oben sind alle Bereiche gleich aufgeteilt – das ist in der Realität nicht so. In Wirklichkeit ist der Einfluss der drei Kräfte von Mensch zu Mensch unterschiedlich und verschiebt sich im Laufe des Lebens immer wieder. Der Anteil Schöpfung allerdings ist nachgewiesen stark und bleibt im Laufe unseres Lebens eine stabile Größe: Was mir in die Wiege gelegt wurde, das ist eben da. Ich kann lernen, damit umzugehen, es zu nutzen und zu akzeptieren, aber ich kann in diesem Bereich kein anderer Mensch werden. Ein introvertierter Mensch zu sein ist also weniger eine Sache der Lebensgeschichte, sondern vor allem eine Sache der Biologie (des Geschaffenseins) und, im Laufe unseres Lebens, unserer eigenen Entscheidungen.

Introversion prägt uns also, aber sie legt uns nicht fest.

Ein in seiner Veranlagung eher extrovertierter Mensch kann trotzdem durch Erfahrungen, Prägungen und Entscheidungen dahin kommen, sich introvertiert zu verhalten – und umgekehrt. Dazu ist zum Beispiel die Kultur, in der ich aufwachse, mitentscheidend. Ein in China aufwachsender „Extro“ wird sich wahrscheinlich anders entwickeln als einer in den USA. „Da sich unser Gehirn nach der Geburt noch stark weiterentwickelt, haben auch die Umgebung und die Kultur einen großen Einfluss auf die Ausprägung der Introvertiertheit“, sagt Dr. Sylvia Löhken, die eins der ersten deutschen Bücher zum Thema geschrieben hat.8

Im Laufe eines Lebens gibt es aber nicht nur Prägungseinflüsse und Genetik, auf die ich ja eigentlich nur reagieren kann. Ich selbst nehme ebenfalls Einfluss auf mich: durch meine Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen, durch die Sicht auf mich selbst, durch die Wünsche und Ziele, die ich anstrebe. Ich präge mich selbst.

„Der freie Wille gibt uns den Spielraum, die genetisch geprägte und kulturell gefärbte Persönlichkeit zu variieren, wenn ein Thema uns besonders am Herzen liegt“, schreibt Dr. Sylvia Löhken. Das bedeutet: Es ist möglich, als eher extrovertiert geschaffener Mensch durch die Reaktion auf die eigene Geschichte (das wäre dann Prägung), aber auch durch Entscheidungen und Training die introvertierten Anteile der Persönlichkeit zu stärken (das wäre Selbststeuerung). Genauso kann ein Introvertierter lernen, sich wie ein Extrovertierter zu verhalten. Trotzdem bleibt in beiden Fällen mein „Geschaffensein“ stabil. Und in der Regel werde ich für diese erlernten Verhaltensweisen mehr Energie aufwenden müssen als sonst.

Heute ist sehr gut nachgewiesen, dass Intro- bzw. Extrovertiertheit als Charakterzug einen sehr hohen biologischen Anteil hat. Man könnte sogar sagen: Introvertiertheit ist eine uns angeborene und über die Lebensspanne recht stabile Eigenschaft, die nicht nur mit Charakter, sondern unter anderem mit einer typischen Reizverarbeitung im Gehirn einhergeht.

„Das Maß an Stimulation, das Extrovertierte als anregend empfinden, kann für Introvertierte überwältigend oder störend sein.“

Colin De Young, Psychologin

In verschiedenen Studien wurde bei introvertierten Personen eine höhere Hirnaktivität festgestellt – unabhängig davon, ob sie arbeiteten oder sich ausruhten. Möglicherweise dient diesen Menschen die Wendung nach innen als eine Art Schutzwall gegen zu viele Reize.

Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau, aber meine ehemalige Jungscharleiterin erzählt folgende Geschichte:


Da wurde ein junges Mädchen mit in die Gruppe gebracht. Eine andere Gruppenteilnehmerin hatte sie eingeladen, und so saß die etwas übergewichtige, dunkelhaarige Teilnehmerin jetzt in der Gruppe und tat keinen Mucks. Bei der Begrüßung sah sie nicht auf und nuschelte nur sehr leise ihren Namen (Monika?) in Richtung des Fußbodens. Sie sang nicht mit, aber die Andacht schien sie aufmerksam zu verfolgen, ihr Blick hing regelrecht am Mund der Jungscharleiterin. Ansonsten schien sie gut darin, sich fast unsichtbar zu machen. Selbst ihre Bewegungen wirkten zurückgenommen. Sie zog die Schultern hoch, als erwarte sie einen Schlag. Aber das störte keinen, und im Schlepptau ihrer energischen Freundin kam sie ab da regelmäßig zur Gruppe.

In der 5. Stunde wirkte sie schon etwas lockerer, sang leise mit, und man konnte erahnen, dass sie eine schöne Stimme hatte. Sie lächelte sogar zurück, als die Jungscharleiterin sie anlächelte, und nickte, als sie gefragt wurde, ob sie sich wohlfühle.

Aber vielleicht hätte man sie in dieser Gruppe trotzdem noch jahrelang Monika genannt, wenn ihre Freundin sie nicht in der 5. oder 6. Stunde energisch in die Seite geknufft und gesagt hätte: „Verflixt, Karin, nun sag endlich, dass du gar nicht Monika heißt! Wenn du auch immer so flüsterst, da versteht dich ja kein Mensch. Jetzt bist du hier doch schon zu Hause!“ Und ich, denn ich war dieses Kind, soll (wieder mal sehr leise) geantwortet haben: „Ist doch egal, wie man mich nennt. Ich weiß ja, dass ich gemeint bin“.

Das war vor 40 Jahren. Inzwischen sehe ich die Menschen an, wenn ich mit ihnen spreche. Ich rede zwar immer noch relativ leise, aber meine Sprache ist lebendig und farbig. Ich rede im Gegensatz zu früher bewegt und manchmal sogar zu schnell. Das habe ich beim Erzählen unzähliger Geschichten in Kinderstunden und Jungscharen gelernt, in denen ich irgendwann mitzuarbeiten begann. Dabei kam mir meine Liebe zu Büchern sehr zugute, und die Bestätigung durch meine ZuhörerInnen ermutigte mich, dass ich es wert bin, gehört zu werden.

Ich habe Kommunikation später sogar zu meinem Beruf gemacht. Aber in mir gibt es auch immer noch das Mädchen von damals, das kommt mit in jede neue Situation. Heute wird es von einer Erwachsenen begleitet, die es liebevoll und mit Verständnis an die Hand nimmt (und das bin auch wieder ich selbst). Schizophren? Nein, normal.

Karin Ackermann-Stoletzky

Introvertiertheit

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