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Das introvertierte Gehirn

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Wir alle haben viele unterschiedliche Stimmen in uns, Gefühle, Erfahrungen, Charakterzüge. Ist das nun Produkt unserer Erziehung, oder ist uns unsere Art in die Wiege gelegt? Die Antwortet lautet: Ja, beides.

Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen zeigen sich nicht nur in unterschiedlichen Verhaltensweisen und Vorlieben, sie sind bis in Hirnfunktionen hinein nachweisbar, wie ich schon im vorhergehenden Kapitel beschrieben habe.

In einer Testreihe wurden Menschen zuerst einem Persönlichkeitstest unterzogen, danach wurden ihre Hirnströme untersucht. Im Gehirn vieler im Test als introvertiert eingestufter Teilnehmer wurde dabei entdeckt, dass ihre Gehirne, egal, ob sie arbeiteten oder ruhten, eine höhere elektrische Aktivität aufwiesen als die der anderen Probanden.

Das Gehirn eines introvertierten Menschen ist also anscheinend auch dann stärker stimuliert, wenn es keine Reize von außen bekommt. Wegen dieser von Natur aus höheren Gehirnaktivität haben die Stillen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen. Deshalb gelten introvertierte Menschen auch als besonders sensibel. Zu viele Reize sind für Introvertierte also schlechter zu verkraften als für Extrovertierte, und das gilt nicht nur psychisch, sondern auch physisch. Tatsächlich lässt sich belegen, dass auch das Immunsystem von Introvertierten sensibler auf Stressbelastung und Reizüberflutung reagiert als das von Extrovertierten. Das macht sie, wie AIDS-Forscher 2003 herausfanden, anfälliger für Infektionskrankheiten aller Art und lässt chronische Erkrankungen bei ihnen heftiger verlaufen.

Die Erforschung dieser Zusammenhänge der Reizverarbeitung im Gehirn geht vor allem auf Erkenntnisse des Psychologen Jerome Kagan zurück, der an der Harvard-Universität Experimente zu diesem Thema an rund 500 Säuglingen im Alter von vier Monaten durchführte. Er konfrontierte die Babys mit ganz unterschiedlichen Reizen: mit sich schwingenden, bunten Mobiles (Bewegungsreiz), zerplatzenden Luftballons (Geräuschereiz) oder mit starken Geruchseindrücken, zum Beispiel mit Alkohol betupften Wattestäbchen.

20 Prozent der Säuglinge reagierten besonders stark auf die für sie neuen, ungewohnten Situationen. Sie bewegten sich und strampelten stark, weinten, drückten angespannt den Rücken durch, ballten die Händchen zu Fäusten. 40 Prozent reagierten gelassen, der Rest der Babys bewegte sich zwischen diesen beiden Extremen.

Nach vielen Jahren wurden alle inzwischen herangewachsenen Kinder wieder ins Labor gebeten. Bei den durchgeführten Tests machte Kagan eine auffällige Entdeckung: Wer als Kind heftig auf Reize reagiert hatte, war als Erwachsener ein eher introvertierter Charakter (diese Langzeitstudie wird übrigens bis heute fortgesetzt, um zu erforschen, wie sich Reizverarbeitung und Charakterbildung im Laufe eines Lebens entwickeln und verändern). Es ist also gerade nicht so, dass ein introvertierter Mensch phlegmatisch und stoisch in sich ruht, im Gegenteil: Er zieht sich zurück, um sich nicht zu sehr mit Außenreizen zu überfordern.

Um sich wohlzufühlen, um optimal zu funktionieren, braucht das introvertierte Gehirn Ruhe.

Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Damit das Gehirn in seinen „Wohlfühlzustand“ kommt und optimal funktioniert, braucht es Anregungen von außen: Musik, Gespräche, Bewegung.

Der Psychologieprofessor Colin De Young von der Universität von Minnesota führte ausführliche Experimente an Studenten durch. Sein Ergebnis: „Das Ausmaß an Reizen, die Extrovertierte als angenehm empfinden, kann Introvertierte überwältigen.“ Seinen Forschungen zufolge lernen Introvertierte deshalb am besten in ruhiger Umgebung (maximal 65 Dezibel); Extrovertierte konnten sich besser konzentrieren, wenn es lauter war (um die 85 Dezibel).

Eine Studie der Universität North Carolina belegt, dass Introvertierte im Vergleich zu Extrovertierten ein deutlich erhöhtes Depressionsrisiko aufweisen. Ganz vorne auf der Skala fanden sich dabei übrigens die „männlichen sensiblen Macher“. Eine andere Studie derselben Universität stellte fest, dass im Falle einer Depression bei Introvertierten auch ein höheres Suizidrisiko besteht als bei Extrovertierten, wahrscheinlich, weil sie sich in schwierigen Situationen eher zurückziehen. Wenn man bedenkt, dass sie ihre Batterien im Alleinsein aufladen, ist das ganz nachvollziehbar. Wenn es aber nicht gelingt, eine Lösung zu finden, und durch den Rückzug Hilfe von außen verhindert wird, ergibt sich eine Abwärtsspirale, die irgendwann kaum noch aufzuhalten ist. Unter Umständen kann sich daraus eine – gefühlte oder tatsächliche – totale Isolation ergeben, in der Gefühle von Niedergeschlagenheit und Ausweglosigkeit ins Unendliche wachsen. Das Suizidrisiko betrifft anscheinend besonders introvertiert-spontane Persönlichkeitstypen, die ihre inneren Blockaden manchmal durch plötzliche Handlungen durchbrechen.

Dass introvertierte Menschen ein höheres Depressionsrisiko haben, scheint nachvollziehbar: Wer eher nach innen als nach außen gerichtet ist, wer Dingen auf den Grund zu gehen versucht und immer bereit ist, alles in seinem Leben zu hinterfragen, der ruft eben nicht nur Endorphine (die Glücksbotenstoffe des Körpers) auf. Etwas plakativ ausgedrückt: Eine Depression entwickelt man vermutlich eher, wenn man allein über den Sinn des Lebens nachgrübelt, als wenn man mit anderen unterwegs ist. Letzteres lenkt einen von den großen Fragen des Lebens (und den häufig darauf fehlenden Antworten) sowie den negativen Seiten der Welt eher ab, während Ersteres die Gedanken auf all das richtet, was das Leben schwierig und unwägbar macht.

Sind Introvertierte schüchtern?

Nein. Schüchternheit hat mit Angst zu tun: Angst vor der Beurteilung anderer, Angst aufgrund negativer Erfahrungen, Angst durch fehlende Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen. Solche Ängste kann jeder Mensch entwickeln, egal, ob er eher ex- oder eher introvertiert ist. Es gibt also sehr viele, auch in Sozialkontakten selbstbewusste Introvertierte, die einfach nur gern für sich sind, sich anderen zuwenden und allein sein können, für die Reden kein Selbstzweck und „etwas erleben“ genauso gut ein schöner Nachmittag mit einem Buch sein kann wie für andere Menschen ein Ausflug mit Freunden.

Sind Introvertierte hypersensibel?

Wie schon beschrieben wurde, haben introvertierte Menschen ein Gehirn, das sensibel auf Reize reagiert, weil es auch im Ruhezustand schon aktiv ist und deshalb von zu vielen zusätzlichen Außenreizen überflutet wird. Das ist auch bei hypersensiblen Menschen so. Laut der Psychologin Elaine Aron sind ca. 70 % hochsensible Persönlichkeiten auch introvertiert und 30 % eher extrovertiert.9

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