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Die Vorherrschaft der Extrovertierten

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In zwei Stunden beginnt die Betriebsweihnachtsfeier. Die Kollegen werden dort sein, der redegewandte und charismatische Chef, ganz unterschiedliche Leute aus den anderen Abteilungen. Das Essen ist immer gut. Frau Müller wird mit ihrem trockenen Humor wahrscheinlich wieder alle zum Lachen bringen, und Kollege Frankmann hat mit Sicherheit ein heiteres Gedicht vorbereitet.

Und Sie? Freuen Sie sich schon auf einen netten Abend unter Menschen? Oder graust es Ihnen davor, weil Sie sich selbst stumm vor Ihrem Teller sitzen sehen, konzentriert kauend und den Blickkontakt mit den anderen vermeidend, während um Sie herum alles lacht und redet? Können Sie sich nur schwer überwinden, überhaupt auf diese Feier zu gehen, weil es immer so anstrengend ist, „Smalltalk“ zu betreiben und Sie ja nun nicht die ganze Zeit nur essen können, damit Sie beschäftigt wirken? Wenn das so ist, dann gehören Sie wahrscheinlich zu den „Stillen im Lande“.

Nun ist es nicht unbedingt ein Nachteil, kein Partyfreund zu sein. Für einen Mönch im Schweigekloster wäre das sogar ein echter Vorteil, aber in unserer Gesellschaft der Kommunikativen haben Sie wahrscheinlich oft das Gefühl, irgendwie „anders“ zu sein. Es scheint, als sei unsere Kultur eine Kultur der Extrovertierten. Wer erfolgreich sein will, muss Kontakte pflegen können. Kommunikationsfähigkeit ist ein wichtiger Schritt zum Erfolg.

Es ist eine gutgesicherte Erkenntnis, dass der lockere Augenkontakt mit anderen Menschen, der Smalltalk auf der Party oder mit Fremden im Aufzug, Schlagfertigkeit sowie schnelle und spontane Reaktionen helfen, erfolgreich zu sein. All das gehört nicht unbedingt zu den Stärken der Introvertierten. 1994 veröffentlichte der Psychologe Howard Giles eine Untersuchung, der zufolge man Menschen, die schnell und laut sprechen, als kompetenter und sympathischer wahrnimmt, als klüger, interessanter, sogar als besser aussehend. Verschiedene Untersuchungen zum Thema Lebensglück behaupten einheitlich, Extrovertierte hätten im Durchschnitt mehr Glück bei der Suche nach Jobs, nach Wohnungen und dem Lebenspartner. Im Flurfunk hören sie von der frei werdenden Wohnung, sind dem Chef eher im Bewusstsein, wenn er darüber nachdenkt, eine Aufgabe neu zu besetzen, und reagieren schnell genug, wenn sich eine Chance zeigt.

Der Idealmensch unserer Zeit ist gesellig, arbeitet gut im Team, ist gern unter Leuten, ist risikobereit und gut vernetzt. In den Pausen checkt er seine Mails, postet auf Facebook oder verschickt schnell mal eine Whats App. O. k., auch das ist jetzt etwas plakativ, passt aber trotzdem ins Bild.

In früheren Zeiten wurde der belesene, ruhige Mensch stärker bewundert als heute. Alleinsein (zu können) galt als ein wichtiger Teil der menschlichen Existenz. Dinge zu durchdenken, in sich zu bewegen war hoch angesehen. Das Denken im Rückzug galt sogar als Ideal. Arthur Schopenhauer schrieb zum Beispiel 1851 in seinen „Kleinen philosophischen Schriften“: „Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit einen zweifachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu seyn, und zweitens den, nicht mit Anderen zu seyn.“

Es gibt viele, die das auch heute so sehen. Sie sind gern mit sich allein, sie brauchen keine ständigen Inputs von außen. Sie stehen nicht gern im Vordergrund und fallen meist nicht groß auf. Viele unter ihnen reden leiser, während des Sprechens konzentrieren sie sich stark und vermeiden den Augenkontakt. Wenn sie zuhören, machen sie das mit allen Sinnen. Da sehen sie den anderen ganz genau an, um kein Detail zu verpassen.

Das alles ist anstrengend, denn in der Gegenwart anderer Menschen kann das Gehirn introvertierter Menschen nicht herunterschalten. Alles muss wahrgenommen werden, alles wird durchdacht. Die Worte entstehen (besonders in unbekannten Situationen und in der Gegenwart fremder Menschen) nicht beim Sprechen, sie müssen da sein, bevor sie ausgesprochen werden können. Deshalb brauchen introvertierte Menschen dringend Momente der Stille, um sich selbst zu hören und um sich vom allgegenwärtigen Lärm zu erholen. Für Introvertierte ist Sozialkontakt nur mit vertrauten Menschen und in vertrauter Umgebung ein Vergnügen, ansonsten ist es harte Arbeit, und „Networking“ ist im besten Falle eine Pflicht, aber keine Lust.

Die amerikanische Bloggerin Kate Bartolotta hat das sehr schön beschrieben: „Stellen Sie sich vor, jedem von uns steht ein Glas voll Energie zur Verfügung. Introvertierte Menschen brauchen für nahezu jede soziale Interaktion einen Schluck aus diesem Glas, während bei extrovertierten Menschen das Glas durch solche Kontakte wieder aufgefüllt wird. Den meisten von uns Introvertierten gefällt das. Wir teilen gern, und wir sind gern mit anderen Menschen zusammen. Aber wenn das Glas leer ist, brauchen wir einfach etwas Zeit, um wieder aufzutanken.“1


Ich liebe meinen Beruf, obwohl ich dabei viel mit Menschen zu tun habe. Im Laden ist meine Rolle klar: Da kommt jemand, der eine Brille braucht, ich stelle seine Werte fest, berate ihn, passe die Brille an … Ich weiß, worum es geht, ich bin in meinem Fach gut, ich arbeite genau und mit Sorgfalt, und die Kunden werden möglichst optimal bedient.

Aber jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit gehe, mache ich mir schon auf dem Weg Gedanken, was ich mit meiner Mitarbeiterin reden soll. Es ist verrückt, aber ich lege mir wirklich oft schon vorher irgendeinen Satz zurecht, der über „Guten Morgen“ hinausgeht. Vielleicht mal was über das Wetter, oder „Gut geschlafen bei dem Vollmond?“. Ich bin dann immer froh, im Hinterzimmer verschwinden zu können, denn einfach nur stumm neben ihr zu stehen ist für mich unglaublich schwer, etwas zu sagen aber ebenso. Obwohl ich mich bemühe, bin ich mir sicher, dass sie mich für arrogant hält. Denn „ein Schwätzchen einfach so“, das ist für mich wie die Besteigung des Mount Everest!

N.N.

Nach Heiko Ernst (Psychologie heute, 01/​2011) brauchen „Introvertierte etwa zwei Stunden Erholung für jede Stunde ‚Sozialkontakt‘. Dann sind sie wieder fähig und willens, sich der Geselligkeit und dem Smalltalk der Extrovertierten auszusetzen.“

Introvertierte Menschen lieben es, in einer kleinen Gruppe mit vertrauten Menschen über relevante Themen zu reden. In Menschenmassen und oberflächlichen Kontakten fühlen sie sich isoliert.

„Im 21. Jahrhundert haben wir ein neues Kulturzeitalter erreicht, das Historiker als Persönlichkeitskultur bezeichnen“, erklärt die Autorin Susan Cain in ihrem Buch „Still“. „Wir haben uns von einer Agrarwirtschaft zur Geschäftswelt hin entwickelt. Die Menschen ziehen plötzlich aus den Dörfern in die Großstädte und arbeiten nun nicht mehr mit Leuten zusammen, die sie ein Leben lang gekannt haben, sondern müssen sich unter völlig Fremden bewähren.“2

Die vielen Menschen, die laut und in großen Massen auftreten, führen bei Introvertierten schnell zu einer Reizüberflutung und berauben sie auch körperlich ihrer Energie.


Nicht „richtig“?

Als ich neun Jahre alt war, fuhr ich zum ersten Mal ins Ferienlager. Meine Mutter packte mir einen Koffer voller Bücher ein, was mir wie eine ganz normale Sache vorkam. Denn in meiner Familie war die wichtigste Gruppenaktivität das Lesen. Dies mag Ihnen ungesellig vorkommen, aber für uns war das eben eine andere Art des Zusammenseins. Eingenistet in die Wärme der Familie, die einen umgibt, kann man zugleich in dem Abenteuerland im eigenen Kopf umherstreifen. Ich stellte mir vor, dass es im Ferienlager auch so sein würde, nur noch besser. Ich stellte mir zehn Mädchen vor, die in einer Hütte sitzen und in aufeinander abgestimmten Nachthemden Bücher lesen.

Das Ferienlager war eher wie eine Studentenparty ohne Alkohol. Und am ersten Tag ließ unsere Gruppenleiterin uns antreten und lehrte uns unser Motto, das wir nun jeden Tag für den Rest des Sommers vortragen mussten, um den Gemeinschaftssinn zu wecken. Und das ging so: „R-O-W-D-I-E, ja, so schreiben wir, ‚rowdie‘ [‚rauflustig‘]. Rowdie, rowdie, wir sind rowdie“. Tja. Es war mir ein totales Rätsel, wieso wir so rauflustig sein sollten und das Wort auch noch falsch schreiben mussten. Aber ich sang das Motto. Ich sang es mit allen anderen. Ich gab mein Bestes. Und ich wartete einfach darauf, dass ich meine Bücher lesen gehen konnte.

Aber als ich das erste Mal mein Buch aus meinem Koffer nahm, kam das coolste Mädchen im Schlafraum zu mir und fragte mich: „Wieso bist du denn so ruhig?“ – Das war natürlich das genaue Gegenteil von R-O-W-D-I-E. Und als ich es das zweite Mal versuchte, kam die Gruppenleiterin zu mir mit einem ganz besorgten Gesichtsausdruck und wiederholte ihre Aussage über Gemeinschaftsgeist und dass wir alle hart daran arbeiten sollten, kontaktfreudig zu sein.

Also legte ich meine Bücher weg, zurück in ihren Koffer, und packte sie wieder unter mein Bett, wo sie den Rest des Sommers blieben. Ich fühlte mich deswegen etwas schuldig. Ich fühlte, dass die Bücher mich brauchten, sie riefen mich, und ich ließ sie im Stich. Aber ich öffnete den Koffer nicht mehr, bis ich am Ende des Sommers wieder zu Hause bei meiner Familie war.

Jetzt habe ich mich für diese Geschichte entschieden. Ich hätte Ihnen 50 andere genau wie diese erzählen können – bei jeder wurde mir vermittelt, dass mein ruhiges und introvertiertes Wesen irgendwie nicht der richtige Weg war, dass ich doch versuchen sollte, mehr extrovertiert zu sein. Und tief in meinem Innern empfand ich dies immer als falsch, ahnte ich, dass Introvertierte ziemlich großartig waren, so, wie sie waren. Aber ich verleugnete diese Intuition über Jahre hinweg und wurde ausgerechnet Anwältin an der Wall Street anstatt Schriftstellerin, wie ich es mir immer gewünscht hatte – nicht zuletzt, weil ich mir beweisen musste, dass ich auch mutig und bestimmend sein kann. Und ich ging immer in volle Bars, obwohl ich ein schönes Abendessen mit Freunden eigentlich bevorzugt hätte. Und diese selbstverneinenden Entscheidungen traf ich so instinktiv, dass ich mir ihrer nicht einmal bewusst war.

Viele Introvertierte machen dies, sicher ein Verlust für uns, aber auch ein Verlust für unsere Kollegen und unsere Gemeinschaft. Ein Verlust für die Welt, auch wenn das hochtrabend klingen mag. Denn wenn es um Kreativität und Führungsverhalten geht, brauchen wir Introvertierte, die tun, was sie am besten können. Ein Drittel bis zu einer Hälfte der Bevölkerung ist introvertiert – ein Drittel bis zu einer Hälfte. Das ist einer von zwei oder drei Ihrer Bekannten. Auch wenn Sie vielleicht selbst extrovertiert sind, dann spreche ich über Ihre Kollegen, über Ihre Partner, Ihre Kinder und die Person, die jetzt neben Ihnen sitzt – sie alle unterliegen dieser Voreingenommenheit, die tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Wir verinnerlichen das schon früh, ohne für das, was wir tun, Worte zu haben. (…)

Wenn wir davon ausgehen, dass stille und laute Menschen in etwa dieselbe Anzahl an guten oder schlechten Ideen haben, dann sollte der Gedanke, dass nur die lauteren und energischeren Menschen sich durchsetzen, uns besorgt aufhorchen lassen. (…)

Sorgfalt, Analyse, Konzentration – das sind die Stärken der Stillen. Warum geben wir ihnen trotzdem immer wieder das Gefühl, nicht gut genug zu sein?3

Die Herausforderung, Kontakt mit anderen Menschen aktiv zu gestalten, beginnt für introvertierte Menschen schon in ihrer Kindheit. Sie sind (zumindest in Gegenwart Fremder) in sich gekehrter als andere, und Eltern machen sich manchmal Sorgen, wenn sie ihr Kind als zurückhaltend und schweigsam erleben. Oft spielen solche Kinder gern allein, und ihr reiches Innenleben zeigt sich in kreativen und phantasievollen Rollenspielen mit sich selbst oder ihren Spielzeugen. Oft lesen sie gern, malen oder machen vielleicht Musik.

„Als introvertiertes Kind und Jugendliche war ich in meinem Kopf gefangen und habe furchtbar gelitten. Auf meine Umwelt wirkte meine versteinerte Miene wohl eher hochnäsig.“

Martina Ziel

Ein in sich gekehrtes Kind, bereits durch etwas Lärm und „Trara“ überfordert, wird, so fürchten die Eltern, im Leben Probleme bekommen.

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