Читать книгу Smartphone, Sorgen und Salbei - Karin Firlus - Страница 11
ОглавлениеKapitel 6: Advent, Advent, es brennt, es brennt!
Am dritten Adventssonntag saß Irene vormittags am Essraumtisch, einen Kugelschreiber in der Hand, ein leeres Blatt Papier vor sich. Drei rote Kerzen flackerten an ihrem Kranz, den sie aus Zeitmangel in diesem Jahr nicht selbst gebunden, sondern in einem Blumengeschäft auf der Maximilianstraße für teures Geld gekauft hatte. Die Kerzen steckten etwas schief auf den Zweigen, vier rote Pilze mit weißen Tupfern hingen traurig dazwischen, und die roten Schleifen mit den Goldrändern waren lieblos an den Kranz geklebt. Irene hatte zwei Zimtstangen und zwei Orangenscheiben an den Zweigen befestigt, damit sie wenigstens einen kleinen Beitrag zu dem Projekt Adventskranz beigetragen hatte. Aber selbst der schwache Zimtduft konnte keine heimelige Vorweihnachtsstimmung bei ihr erzeugen.
Draußen stürmten kalte Winde durch die Straßen, verfingen sich in den kahlen Ästen der Bäume, die stramm wie Soldaten am Rand des kleinen Spielplatzes am Ende der Straße standen. Sie wirbelten die letzten trockenen Herbstblätter durch die raue Luft und rüttelten an halb geschlossenen Fensterläden.
Irene überlegte, was sie an Weihnachten kochen sollte. Ein Braten mit Klößen schied aus. Es musste etwas sein, das nicht allzu fett und kalorienreich wäre. Aber etwas richtig Leckeres, das mit wenig Arbeitsaufwand zu kochen wäre, fiel ihr nicht ein. Sie konnte sich auch nicht wirklich auf dieses Thema konzentrieren, weil sie schon mit Unbehagen an den nächsten Tag dachte.
Ihr Chef hatte die Mitarbeiter praktisch zu einer Weihnachtsfeier gezwungen; er sah es als Muss an, dass alle daran teilnahmen, weil es „zum guten Betriebsklima einfach dazugehört“, wie er steif formuliert hatte. Als ob das „Klima“ in seiner Abteilung je gut gewesen wäre, seit er ihr vorstand.
Irene hatte in einem Restaurant für 18 Uhr einen Tisch für alle bestellen müssen. Das Essen wurde von der Firma übernommen – welch noble Geste, dachte Irene sarkastisch. Getränke mussten von den Mitarbeitern selbst gezahlt werden. Vielleicht hatte ihr Chef die Befürchtung, dass der Preis für die Getränke den des Essens übersteigen würde, weil sie sich den Alkohol aus lauter Frust nur so reinkippen würden. Verdenken könnte Irene es den anderen nicht, sie selbst würde sowieso nur Wasser trinken, weil sie ihr Auto dabei hatte.
Irgendwie würde sie diesen Abend überstehen müssen. Wie sich alle miteinander nett unterhalten sollten, wo die Atmosphäre im Büro unterkühlt war und jeder gegen jeden arbeitete, damit nur er selbst nicht derjenige war, der gekündigt wurde, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie seufzte. ‚Was bin ich froh, wenn der morgige Abend vorbei ist‘, dachte sie inbrünstig. Sie nahm sich jedenfalls vor, zu essen und danach unter irgendeinem Vorwand zu gehen. Sie wollte keine Minute länger als nötig bei Menschen bleiben, die sich das Jahr über nichts zu sagen hatten; und sich mit ihrem Chef zu unterhalten, war ihr definitiv kein Bedürfnis.
*
Sie war nicht die Einzige, der nicht wohl in ihrer Haut war. Zwar hatten alle etwas Nettes angezogen – Irene war mutig und hatte ihr neues Cocktailkleid gewählt, was ihr einige verwunderte und anerkennende Blicke, hauptsächlich von den männlichen Kollegen, einbrachte.
Aber keiner wagte es, sich unverkrampft zu geben, weil niemand wusste, was der Chef von ihnen erwartete oder wie er Dinge gegen sie verwenden würde, die sie vielleicht ausplauderten.
So entstand nach anfänglichem Schweigen eine gezwungene Konversation, die sich um unverfängliche, allgemeine Themen drehte. Keiner wollte sich eine Blöße geben, und an ihrem Tisch hätte man Eis gefrieren können, so unterkühlt war die Stimmung.
Sie hatte sich so weit wie möglich von Meinert entfernt hingesetzt, im Gegensatz zu Britta, die rechts neben ihm saß und mit der er sich ab und zu unterhielt. Irene verstand nichts davon, aber es war ihr auch egal. Falls die beiden planten, sie loszuwerden, damit Britta ihren Job bekam, würde sie das auch nicht verhindern können, wenn sie ihre Gespräche mithörte.
Meinert schlug Irene darin, einen schnellen Abgang zu machen. Er schaufelte Feldsalat und Lende mit Spätzle in sich hinein, als gelte es, einen imaginären Schnelligkeitsrekord aufzustellen. Dann bestellte er sich einen Espresso, trank ihn in einem Zug hinunter und stand auf. „Ich hoffe, Sie haben noch einen schönen Abend. Ich muss jetzt los. Meine Frau hat einen Termin, ich muss auf unseren Sohn aufpassen.“ Damit eilte er zum Erstaunen aller davon.
Nach einer kurzen Pause sagte sein Stellvertreter: „Hat einer von euch gewusst, dass er verheiratet ist und sogar ein Kind hat?“
Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. Irene dachte bei sich, dass das allein schon alles erklärte. Meinert war so unnahbar, dass keiner irgendetwas Privates von ihm wusste. Eine Kollegin aus der Buchhaltung brachte es auf den Punkt: „Es ist mir, ehrlich gesagt, egal, was ich von ihm weiß und was nicht. Uns fragt er ja auch nicht nach unseren privaten Verhältnissen, weil er es gar nicht wissen will. Wir sind doch sowieso nur Schachfiguren für ihn, die er nach Belieben hin und herschiebt, wie es ihm passt.“
Daraufhin erhob sich zustimmendes Gemurmel, jeder fing an, irgendetwas zu sagen, und nach einigen Minuten war eine lebhafte allgemeine Unterhaltung im Gange. So wurde die letzte Stunde doch noch fast gemütlich, wobei allerdings immer noch alle darauf achteten, nichts allzu Unbedachtes zu äußern, denn am nächsten Tag im Büro stand schließlich wieder jeder allein für sich gegen die anderen. Und schließlich wusste man nicht, wer unter ihnen als Meinerts Spitzel fungierte; denn dass er die unter den Mitarbeitern hatte, da war Irene sich sicher.
Als habe er nicht am vorherigen Abend mit ihnen zusammengesessen, kam Meinert noch früher als sonst ins Büro, wie immer ohne zu grüßen. Irene hatte gerade ihren Computer hochgefahren und war dabei, Kaffee zu kochen, als er hereingerauscht kam, den Mantel über dem linken Arm, die Zeitung in der rechten Hand.
„Gut, dass Sie da sind, dann können Sie gleich mit den Briefen für heute beginnen. Es gibt jede Menge zu tun, also zack, zack!“ Er ging strammen Schrittes in sein Büro, kam gleich darauf wieder heraus und knallte Irene seinen MP3-Player auf ihren Schreibtisch. „Das muss heute Mittag noch raus. Also lassen Sie Frau Augstein den Kaffee kochen und legen Sie los!“
Irene murmelte seinem Rücken ein „Guten Morgen“ hinterher und sobald er die Tür zu seinem Büro geschlossen hatte hob sie den rechten Mittelfinger und streckte ihn aus. Schließlich war Britta noch nicht da und somit konnte sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen.
Sie schaffte es an diesem Dienstag nicht, eine Mittagspause zu machen. So schob sie sich kurz nach eins beim Tippen eine Banane in den Mund und wagte es, sich zwischendurch eine Tasse Tee zu kochen. Um vier hatte sie Kopfschmerzen und konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. Britta war zwar morgens gekommen, aber eine halbe Stunde zu spät. Danach hatte sie auf ihrem Stuhl herumgehangen und gejammert, wie schlimm ihre Erkältung sei. Zur Untermauerung dieser Feststellung putzte sie ein-, zweimal die Nase und schniefte.
Kurz nach elf stöhnte sie auf einmal und verkündete theatralisch: „Ich kann nicht mehr! Mein Kopf ist total zu und ich krieg keine Luft. Ich muss nach Hause auf die Couch!“
Irene, die von einer Erkältung bei ihrer Kollegin weder jetzt noch am Abend zuvor etwas bemerkte hatte, sah überrascht auf. „So schlimm kann es ja wohl nicht sein, dass du gleich gehen musst. Wir haben hier jede Menge Arbeit und Meinert hat heute Morgen ganz klar gesagt, dass alles noch heute raus muss.“
„Tja, meine Liebe“, Britta zog sich mühsam aus ihrem Stuhl hoch und griff sich an die Stirn, „das wirst du dann alleine schaffen müssen, denn ich kann einfach nicht mehr.“ Damit stolzierte sie zu Meinert ins Büro, schloss die Tür hinter sich und kam nach kaum einer Minute wieder heraus. „Ich habe ihm gesagt, dass er in den nächsten Tagen nicht mit mir rechnen kann. Ich muss mich erst einmal auskurieren.“ Sie nahm ihre Handtasche, zog die Winterjacke an und band sich ihren Schal doppelt um den Hals, als herrschten draußen statt schlappe zehn Grad plus eher Minustemperaturen. Dann ging sie.
Irene starrte ihr mit offenem Mund nach und fragte sich, wie diese Frau ungestraft krankmachen und sie mit der ganzen Arbeit allein hängen lassen konnte. Hatte sie denn gar kein Gewissen?
Als sie abends nach der Tagesschau mit Gabriele telefonierte, stieß die ein verächtliches „Pff“ aus. „Das macht diese Britta doch extra, um dir eine reinzuwürgen. Wahrscheinlich will sie in Ruhe ihre Weihnachtseinkäufe erledigen. Oder, wenn ich es mir recht überlege, kann der Zeitpunkt kein Zufall sein. Möglicherweise ist das sogar mit eurem Chef abgesprochen, damit er dich mit der Menge an Arbeit, die noch vor Weihnachten unbedingt erledigt werden muss, ordentlich unter Druck setzen kann. Denn irgendwie muss er dich doch dazu bringen, dass du Fehler machst, sonst hat er keinen Kündigungsgrund.“
Britta Augstein ließ sich von ihrem Arzt tatsächlich den gesamten Rest der Woche krankschreiben und Irene kroch freitagsnachmittags, statt um zwei um fünf und nach etlichen Überstunden in dieser Woche, auf dem Zahnfleisch aus dem Büro. Sie ging beim Supermarkt vorbei, holte sich Fertigsuppen und Bananen, dann fuhr sie nach Hause, zog sich bequeme Klamotten an und sank auf die Couch. Sie fragte sich, wie lang sie dieses Arbeitstempo noch würde beibehalten können und war sehr erleichtert, dass sie in der kommenden Woche nur noch montags würde arbeiten müssen, bevor sie fast zwei Wochen Weihnachtsurlaub genießen konnte.
Sie hatte zwar ihren Urlaubsbeginn am 23. eingetragen, aber am Tag zuvor hatte Meinert ihr verkündet, dass sie unbedingt montags noch einige unerledigte Arbeiten würde beenden müssen. Es waren völlig belanglose Vorgänge, die sie locker im neuen Jahr hätte angehen können; aber ihr Chef wollte sie nun einmal bewusst provozieren, und Irene tat ihm nicht den Gefallen, dagegen zu protestieren. Sie nickte nur stumm und füllte direkt einen neuen Urlaubszettel aus, den er mit zusammengepressten Lippen unterschrieb.
An diesem Freitagabend bekam sie von dem spannenden Krimi nach acht nur den Mord mit, danach schlief sie ein. Ihr letzter Gedanke war, dass solch eine Tötung im Affekt durchaus nachvollziehbar war.
*
Samstags erledigte sie die letzten Weihnachtseinkäufe, damit sie montagsabends nach Arbeitsschluss nur noch Brot, Obst und ähnliches würde besorgen müssen. Sie fühlte sich innerlich gehetzt und hatte das unbestimmte Gefühl, sofort noch alles tun zu müssen, was nötig war. Nachmittags legte sie eine CD mit weihnachtlichen Melodien auf, um wenigstens ein bisschen in die richtige Stimmung zu kommen, und packte die wenigen Geschenke ein, die sie gekauft hatte. Auf einen Baum hatte sie dieses Jahr verzichtet; sie hatte ja seit Wochen jeden Tag länger gearbeitet, und schon die Vorstellung, an einem ihrer kostbaren und kurzen Feierabende noch einen Baum zu besorgen, ihn in ihrem Kleinwagen nach Hause zu bringen und auch noch schmücken zu müssen, trieb ihr den Schweiß auf die Stirn.
So hatte sie sich morgens ein paar Zweige für die Bodenvase gekauft; sie hängte einige schöne Kugeln daran und beschloss, dass diese spärliche Weihnachtsdekoration in diesem Jahr reichen musste.
Innerlich komplett ausgepowert und überhaupt nicht in vorweihnachtlicher Stimmung erwärmte sie sich kurz vor acht einen Teller Kartoffelsuppe von abends zuvor, als das Telefon klingelte.
„Frau Hofmann, hier ist Beimert vom Seniorenheim. Wir mussten den Notarzt rufen, der eben Ihre Mutter ins Krankenhaus hat einweisen lassen. Sie hatte heute Morgen schon -“
Irene ließ den Hörer sinken. ‚Na toll, das passt doch. Es ist mal wieder ein Feiertag in Sicht, ich muss mich dringend ein paar Tage entspannen, und ausgerechnet jetzt muss meine Mutter ins Krankenhaus‘. Seufzend stand sie auf, zog Schuhe und Mantel über und machte sich auf den Weg.
Ihre Mutter lag auf einer Liege in der Notaufnahme. Im Wartebereich saßen und standen etliche weitere Menschen herum, die genervt auf die Uhr sahen.
Irene ging zu ihrer Mutter. Sie lag da und wimmerte vor sich hin, aber als Irene sie fragte, ob sie Schmerzen habe und wenn ja, wo, bekam sie keine Antwort. Sie fragte sich, wie die Ärzte herausfinden sollten, wo das Problem war, wenn weder ihre Mutter noch die Pflegekräfte im Heim wussten, was ihr fehlte. Die Heimleiterin hatte nur gesagt, dass Frau Hofmann schon morgens wimmernd im Bett gelegen hatte und nicht fähig gewesen war aufzustehen. Irene fragte sich, wieso sie dann bis abends gewartet hatte, bis sie den Notarzt rief.
Eine gute Stunde später war die Reihe an ihrer Mutter. Sie schob sie selbst in das Behandlungszimmer und erklärte den Ärzten, dass ihre Mutter unter fortgeschrittener Alzheimer litt. Dass sie wimmerte und nicht ganz bei sich zu sein schien, bemerkte die Ärztin selbst. Sie ließ zunächst den Blutdruck messen, nahm Blut – „Es wird etwas dauern, bis wir die Werte haben, bei uns ist gerade die Hölle los“ – und fing dann an, auf Marga Hofmanns Bauch herumzudrücken. Das Wimmern ging sofort in einen Schmerzensschrei über und die alte Frau bäumte sich auf. Also ordnete die Ärztin einen Ultraschall des Bauchraumes an.
Eine halbe Stunde später begann die Untersuchung, bei der sich herausstellte, dass Irenes Mutter wohl an akuter Blinddarmentzündung litt. Sie müsse so schnell wie möglich operiert werden, sagte die Ärztin. Allerdings seien beide OPs momentan mit Notfällen belegt, es habe einen schweren Unfall auf der B9 gegeben. Aber sobald einer frei werde, sei ihre Mutter an der Reihe.
Irene richtete sich auf eine lange Wartezeit im Krankenhaus ein, aber die Ärztin meinte, sie solle heimfahren. Sie wisse nicht, wie lange das Ganze dauern würde, und sollte „etwas Unvorhergesehenes“ passieren, würde sie sie benachrichtigen. Also unterschrieb Irene die Einwilligung zur OP, hinterließ ihre Telefonnummer und fuhr nach Hause.
Um halb zwölf legte sie sich ins Bett, konnte jedoch nicht einschlafen, weil ihre Gedanken Amok liefen.
Hätte sie doch im Krankenhaus bleiben sollen? Würde die Operation gelingen oder würde ihre Mutter heute Nacht sterben - ein paar Tage vor Weihnachten? Und wenn ja, wie sollte sie die Beerdigung organisieren, so kurz vor den Feiertagen? Hatte sie für diesen Fall überhaupt alle notwendigen Papiere? Nach einer Stunde stand sie auf und holte die Dokumentenmappe aus dem Fach im Wohnzimmerschrank. Nach kurzer Suche fand sie die Geburtsurkunde ihrer Mutter und das Testament. Die Patientenverfügung lag dahinter – die nahm sie gleich heraus, um sie im Krankenhaus abzuliefern - die Police für die Sterbeversicherung war auch da.
Irene atmete erleichtert aus und ging zurück ins Bett. Sie wälzte sich hin und her und machte sich Vorwürfe, dass sie überhaupt daran gedacht hatte, dass ihre Mutter sterben könnte. Mit dem Suchen der erforderlichen Unterlagen beschwörte sie ihren Tod doch schon gewissermaßen herauf, rügte sie sich.
Irgendwann gegen drei fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, dass ihr Chef ihr nicht den erforderlichen Tag freigeben wollte, damit sie ihre Mutter bestatten konnte. Daraufhin kündigte sie fristlos.
Sie wachte kurz nach sechs schweißgebadet auf und heulte hemmungslos.
Was war das nur für ein Leben? Nichts als Probleme und Aufgaben, die sie überforderten. Womit hatte sie das nur verdient?
Sie fand dennoch in einen leichten Schlaf zurück, stand um halb acht auf, duschte und frühstückte. Dann fuhr sie ins Heim, um Nachthemden, Handtücher und Toilettenartikel einzupacken; ihre Mutter hatte nämlich nur eine Liste der Medikamente, die sie einnehmen musste, bei sich gehabt.
Irene zuckte unter dem vorwurfsvollen Blick von Meike zusammen, die sie fragte, wie es ihrer Mutter gehe, woraufhin Irene sagte, sie sei wohl in der Nacht operiert worden, aber Näheres wisse sie noch nicht.
Im Krankenhaus erfuhr sie, dass ihre Mutter noch auf der Intensivstation lag. Dort hing sie an diversen Apparaturen, aber die diensthabende Schwester versicherte ihr, dass Marga Hofmann die OP den Umständen entsprechend gut überstanden habe und im Laufe des Tages auf Station verlegt werde. Irene atmete auf.
„Aber es war knapp, der Blinddarm war kurz vor dem Durchbruch!“
Sie saß am Bett ihrer Mutter, die mit geschlossenen Augen und offenem Mund da lag, und hielt ihre schlaffe Hand. Sie überlegte sich, ob sie die Heimleiterin wegen fahrlässigen Verhaltens belangen sollte, entschied sich aber dagegen. Der Ermessensspielraum, wann ein Mensch an einer akuten Krankheit litt, war bei pflegebedürftigen Alten offensichtlich ein anderer als bei jüngeren Menschen. Irene ertappte sich bei dem hässlichen Verdacht, dass bei der Heimleiterin Gedanken an eine lange Warteliste auf einen Heimplatz bei ihrer Entscheidung, ihre Mutter nicht gleich morgens einweisen zu lassen, eventuell eine Rolle gespielt hatten. Aber wie sollte sie das beweisen? Und vielleicht tat sie der Frau ja Unrecht.
Sie blieb eine Stunde, dann fuhr sie heim und nahm sich vor, nachmittags noch einmal zu kommen.
Sie aß ein trockenes Knäckebrot und knabberte an einer Karotte, dann legte sie sich auf die Couch, wo sie gleich darauf einschlief. Gegen zwei wurde sie wach und als sie auf Toilette ging, fuhr sie sich mit der Zunge mehrmals über einen Backenzahn. Sie brühte sich einen Pfefferminztee auf und erst, als durch die heiße Flüssigkeit auf ihrem Zahn ein stechender Schmerz in ihren Kiefer schoss, wurde ihr mit einem Schlag bewusst, dass sie Zahnschmerzen hatte.
Auch das noch! Sie schaute in den Spiegel, konnte aber nichts Auffallendes entdecken. Im Laufe des Nachmittags wurden die Schmerzen schlimmer und als ihre Zunge das Zahnfleisch um die schmerzende Stelle herum entlangfuhr, bemerkte sie eine Schwellung. Sie ging in die Küche und holte aus ihrer Tiefkühltruhe die kleine Plastikschale heraus, in der sie im Sommer Salbei eingefroren hatte. Sie legte sich ein großes Blatt aufs Zahnfleisch neben dem schmerzenden Zahn und hoffte, dass das Kraut noch nicht zu alt war, um seine heilende Wirkung zu entfalten. Frischer Salbei wäre natürlich besser gewesen, aber den hatte sie nicht. Sie wollte auf diese Weise bis zum Montagmorgen durchhalten, ohne auf Schmerztabletten zurückgreifen zu müssen.
Dann lümmelte sie auf der Couch, ließ den Fernseher laufen und wappnete sich innerlich für den unausweichlichen Termin beim Zahnarzt am übernächsten Morgen. Zum Glück handelte es sich um den letzten Zahn in der rechten unteren Reihe, das hieß, dass sie voraussichtlich keine Brücke brauchen würde.
Montagsmorgens wachte sie nach einer unruhigen Nacht, in der sie zwei Mal ein neues Salbeiblatt aufgelegt hatte, mit weniger Zahnschmerzen auf. Sie zwang sich zu duschen und als Frühstück einen Haferbrei zu schlürfen, den sie hasste, der aber sättigte, ohne dass sie ihre Zähne hätte übermäßig belasten müssen.
Dann rief sie um halb acht im Büro an und sprach, da um diese Zeit noch niemand da war, auf den Anrufbeantworter, dass sie Schmerzen habe, zuerst zum Zahnarzt gehen müsse und noch nicht wisse, wann sie kommen könne. Beim Zähneputzen hatte sie plötzlich einen schlechten Geschmack im Mund. Als sie ausgespült hatte und die Stelle neben dem wehen Zahn im Spiegel betrachtete, war sie zwar gerötet, aber die Schwellung war verschwunden. Erleichtert, dass der Eiter wohl zum Großteil abgeflossen war, fuhr sie los.
Dann stand sie zehn vor acht vor der Arztpraxis und war überrascht, dass die Tür noch geschlossen war, bis sie das Schild entdeckte, das in Augenhöhe angebracht war.
Liebe Patienten, unsere Praxis ist vom 23.12. bis einschließlich 03.01. geschlossen. In dringenden Notfällen wenden Sie sich bitte an … Telefonnummer und Adresse des Stellvertreters waren angegeben. Fluchend fuhr Irene in die Stadt, ergatterte die buchstäblich letzte freie Lücke auf dem nahegelegenen Parkplatz und eilte in die Arztpraxis.
Natürlich stapelten sich die Patienten. Sie hatte keinen Termin, es war Montagmorgen und einen Tag vor Weihnachten – eine optimale Situation, um einen Vormittag wartend und mit Schmerzen zu vertun. Als sie dann endlich auf dem Stuhl saß, war ihre immerwährende Angst vorm Zahnarzt dem dringenden Wunsch gewichen, einfach die nervigen Schmerzen loszuwerden, egal, was er mit ihr anstellen würde.
Eine kleine Erleichterung kam, als die Spritze anfing zu wirken. Das Ziehen war dann nicht so schmerzfrei, wie sie sich das gewünscht hätte. „Bei Entzündungen tut‘s immer etwas weh.“, meinte der Arzt lapidar.
Irene fragte sich, ob die Spritze überhaupt wirkte, als ein dunkler Schmerz ihr bis in den Kopf hinauf schoss. Es waren mehrere Versuche nötig, den Zahn komplett aus dem Zahnfleisch und dem Kiefer zu lösen, und auch danach war der Arzt sich nicht sicher, ob er alle Einzelteile erwischt hatte. Er legte einen Streifen entzündungshemmendes Material in die Lücke, verschrieb ihr ein schmerzstillendes Mittel und wollte sie am Weihnachtstag vor zwölf noch einmal sehen.
„Nach den Feiertagen müssen Sie dann zu meinem Kollegen in Mutterstadt gehen, um den Streifen erneuern zu lassen. Er hat samstags für Notfälle von zehn bis zwölf geöffnet.“
Sie fuhr zuerst in die nächste Apotheke, um sich das verschriebene Schmerzmittel zu besorgen.
Ihre Lippe war noch geschwollen, sie hatte ein pelziges Gefühl im Mund und war noch leicht benommen von der Spritze, als sie im Büro ankam. Es war kurz vor zwölf und Meinert lief Amok. „Hätte dieser Arztbesuch nicht warten können bis nach den Feiertagen? Es ist eine Frechheit, mich hier hängen zu lassen, obwohl Frau Augstein immer noch mit Grippe im Bett liegt und ich hier in Arbeit nur so versinke. Aber eines sage ich Ihnen: Das wird ein Nachspiel haben! Und die Arbeit wird noch vor dem 24. erledigt.“ Damit verschwand er in seinem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.
Irene sank auf ihren Stuhl und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hätte ihrem Chef so viel erklären können, um sich zu rechtfertigen, aber was hätte das gebracht? Es war ihm doch egal, dass ihre Mutter krank war und sie selbst nicht mit Zahnschmerzen hätte arbeiten können. Er war eben auf Krawall gebürstet und würde sich von ihrer momentanen Situation sicherlich unbeeindruckt zeigen.
Während sie sich dem ersten Brief des Tages widmete, schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob er sie würde kündigen können, weil sie morgens als erstes beim Zahnarzt gewesen war anstatt ins Büro zu kommen. Aber sie hatte einfach keine Kraft mehr, sich darüber auch noch zu sorgen. ‚Und außerdem‘, dachte sie, ‚geht es mir bestimmt schlechter als dieser Ratte von Britta, die mich schamlos im Stich lässt‘.
Als festen Vorsatz fürs neue Jahr nahm sie sich vor, ihrer Kollegin nicht mehr zu helfen, wenn sie sie wie üblich bat, ihre Briefe auf Rechtschreib- und Kommafehler durchzusehen. Stattdessen würde sie ihr den Rechtschreibduden unter die Nase halten.
Wie in Trance spulte sie die zu erledigenden Aufgaben ab. Natürlich ließ sie ihre Mittagspause ausfallen und trank stattdessen beim Tippen mehrere Tassen Kamillentee; sie hätte sowieso noch nichts essen können mit der frischen Wunde im Zahnfleisch. Sie verließ um sieben das Büro. Meinert war bereits um halb fünf gegangen, und Irene war es völlig egal, ob sie alle wichtigen Briefe fertiggestellt hatte oder nicht. Sie war einfach nicht mehr fähig sich zu konzentrieren.
Sie fuhr ins Krankenhaus zu ihrer Mutter. Es ging ihr besser. Sie lag relativ ruhig in ihrem Bett, war wach, aber völlig orientierungslos. Als Irene ihr erzählte, wo sie war und dass sie operiert worden war, konnte sie mit dieser Information wohl nichts anfangen. „Will nach Hause“, sagte sie immer wieder. Und: „Wann kommt dein Vater endlich von Montage heim?“
Die Schwester informierte sie darüber, dass am morgigen Vormittag ein Krankenwagen käme, der sie im Liegendtransport ins Heim zurückbrächte.
„So früh nach der OP wollen Sie sie schon entlassen?“
Die Schwester zuckte mit den Schultern. „Wir können hier nur Medikamente geben, und das können die im Heim auch.“
Irene wurde mit einem Mal bewusst, dass das Krankenhaus vor den Feiertagen wahrscheinlich möglichst viele Patienten loswerden wollte. Sie fragte sich, ob ihre Mutter das Bett je wieder verlassen würde. Solch eine Operation war ja schließlich kein Pappenstiel, ihr alter Körper würde diesen Eingriff erst einmal verarbeiten müssen. Und ob sie dann noch in der Lage wäre, Anteil an einem Leben außerhalb ihres Bettes zu nehmen, war für Irene fraglich.
Um halb neun fuhr sie nach Hause, schob sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen und fiel um zehn ins Bett. Zuvor nahm sie noch eine zweite Schmerztablette, weil die Wunde angefangen hatte zu pochen.
Dienstags war sie um acht beim Zahnarzt. Sie musste nicht lange warten. Eine kleine Erleichterung gab es; die Wunde schien sauber zu verheilen, der Arzt konnte keine Zahnreste entdecken. Er erneuerte den Streifen mit der Wundmedizin und wünschte ihr frohe Weihnachten.
Irene ging in den Supermarkt, um Brot, etwas Obst und einen Salat zu kaufen. Im Drogeriemarkt daneben holte sie zwei Windlichter. Sie fuhr zum Friedhof zu Johannes‘ Grab, wo sie bereits in der Woche zuvor ein weihnachtlich arrangiertes Gesteck auf die Grabplatte gestellt hatte. Jetzt kam ein Windlicht dazu.
Sie stand vor dem hellgrauen Granitstein mit der Inschrift „Johannes Hofmann, 1945 – 1991“ und dachte bei sich, ‚Was immer auch gekommen wäre, mit ihm zusammen wäre es für mich leichter gewesen‘. Sie fegte ein paar Blätter von der Platte und ging zum Grab ihres Vaters.
„Papa, die Mutti hat es doch nochmal geschafft; du wirst wohl noch ein wenig auf sie warten müssen.“ Sie zündete die Kerze in dem anderen Windlicht an, dann fuhr sie in ihre Wohnung, zog Pyjama und Morgenmantel an und machte sich über eine große Portion Vanillepudding her, da sie es nicht wagte, etwas Festes zu essen. Sie putzte danach vorsichtig die Zähne, dann kuschelte sie sich auf ihre Couch und döste.
*
Als sie eine Stunde später aufwachte, blinkte der Anrufbeantworter; sie hatte ihn beim Heimkommen nicht gesehen. Um halb neun morgens, als Irene noch beim Zahnarzt auf dem Stuhl saß, hatte Sabine angerufen. Sie und Robert könnten leider doch nicht kommen, sie seien beide stark erkältet und hätten Fieber. Weihnachten falle für sie sozusagen aus.
Irene rief zurück. Sabine sagte „Oh“, als sie von Irenes Zahnproblemen hörte, und „Ach herrje!“ wegen der Operation ihrer Großmutter, und danach: „Naja, dann hast du wenigstens ein paar ruhige Tage, um dich zu erholen. Gott sei Dank musst du sie nicht selbst gesund pflegen, sie wird ja im Heim umsorgt. Dann wünsche ich dir trotz alledem frohe Weihnachten, Mama!“
Irene gab die Wünsche zurück und war noch drauf und dran, ihrer Tochter zu sagen, wie wenig ihre Mutter dort „umsorgt“ wurde, ließ es aber dann. Sabine hätte ihr wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt, und außerdem fiel es ihr gerade schwer, viele Worte zu machen. Sie wollte nur noch in Ruhe gelassen werden.
Während sie ihr Geschirr abspülte, dachte sie, dass sie zwar enttäuscht war, ihre Tochter schon wieder nicht zu sehen, aber die Erleichterung darüber, kein aufwendiges Menü für abends vorbereiten und Konversation machen zu müssen, gewann die Oberhand.
Sie räumte die Wohnung auf und saugte durch, dann duschte sie und zog das dunkelblaue Kostüm an, das sie zu offiziellen Anlässen trug. Sie fuhr ins Heim und brachte den Pflegerinnen eine Tüte mit Gebäck aus der Konditorei, Pralinen, eine Flasche Sekt und ein Kuvert mit Karte und Scheinen.
Meike bedankte sich überschwänglich, dann fuhr sie Marga Hofmann in ihrem Bett hinunter in den Aufenthaltsraum, wo ein Weihnachtsgottesdienst stattfand. Sie hatten einen kleinen Tisch mit einer weißen Spitzendecke geschmückt; Stechpalmenzweige lagen darauf und die vier dicken, roten Kerzen auf dem großen Adventskranz verbreiteten ein sanftes Licht.
Irene war zwar kein besonders religiöser Mensch und die spärliche Dekoration verbreitete nur bedingt eine weihnachtliche Stimmung. Aber die halbe Stunde Andacht beruhigte ihre aufgewühlten Nerven ein klein wenig. Ihre Mutter war wie immer unruhig; sie brabbelte vor sich hin und ihre Hände vollführten irgendwelche obskuren Bewegungen, die wohl nur für sie selbst einen Sinn ergaben. Aber wenigstens rief sie nicht laut dazwischen, und vielleicht, dachte Irene, vermittelte der Gottesdienst ja auch ihr ein Quäntchen Trost.