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Kapitel 2: Schwerer Gang


Sonntags zum Mittagessen würgte Irene zwei warme Toasts mit Schinken und Käse hinunter; sie hatte absolut keine Lust gehabt, sich etwas Leckeres zu kochen. Normalerweise vergammelte sie sonntags den Vormittag. Aber da sie sich samstags mit ihren Bekannten getroffen hatte, hatte sie an diesem Morgen bügeln und den Putzlappen schwingen müssen.

Noch im Schlafanzug lümmelte sie am Esstisch herum und schaute aus dem Fenster. Draußen goss es in Strömen, was einen Spaziergang ausschloss, mit Rollstuhl schon sowieso. Genervt dachte sie daran, dass ihre Sonntage immer gleich aussahen: Sie fläzte morgens auf der Couch und las, und das hätte sie problemlos den ganzen Tag lang tun können. Aber das war nicht möglich, denn wenigstens zweimal pro Woche musste sie ihre Mutter besuchen, es war ja außer ihr keiner da, der sich um die alte Frau kümmern konnte.

Marga Hofmann war seit zweieinhalb Jahren im Heim. Irene ging sie mittwochs nach der Arbeit und sonntagsnachmittags besuchen. Die alte Dame hatte schon etliche Jahre zuvor angefangen, eigenartig zu reagieren, war manchmal aggressiv und zunehmend vergesslich. Es dauerte eine geraume Zeit, bis die Ärzte Alzheimer diagnostizierten, und zu diesem Zeitpunkt war die unheilbare Krankheit schon relativ weit fortgeschritten. Als sie schließlich zu nachtschlafender Zeit Spaziergänge unternahm, im Nachthemd, und meist nicht mehr wusste, wo sie war und wie sie überhaupt dorthin gekommen war, wo sie stand, nahm Irene sie zunächst bei sich in ihrer Dreizimmerwohnung auf, wo sie die Haustür abschloss. Für Irene war diese Regelung nicht dauerhaft zumutbar, denn ihre Mutter geisterte nachts in der Wohnung herum, betätigte alle Lichtschalter, irgendwann liefen der Fernsehapparat und das Radio. Irene konnte nicht schlafen und die Nachbarn beschwerten sich an den folgenden Tagen über die nächtliche Ruhestörung.

Wenigstens tagsüber, wenn Irene sie einschloss und zur Arbeit fuhr, war ihre Mutter so müde von ihren umtriebigen nächtlichen Aktivitäten, dass sie die meiste Zeit des Tages verschlief.

Nach einigen Wochen wusste die Neunundsiebzigjährige nicht mehr, wie sie auf ihren Blasen- oder Darmdrang reagieren sollte. Nach Rücksprache mit ihrem Hausarzt gab Irene sie schweren Herzens in ein Heim. Sie schob ihre kranke Mutter einfach ab – zumindest empfand sie das so. Aber sowohl Irenes Tochter als auch ihre Bekannten stimmten mit ihr darüber ein, dass es keine andere Möglichkeit gab.

Irene hatte Wochen zuvor schon eine Pflegestufe beantragt, die zunächst verweigert wurde. Beim zweiten Versuch war sie erfolgreich. Da aber die Rente ihrer Mutter nicht ausreichte, die verbleibenden Kosten zu decken und Irene nicht genug verdiente, um für den Rest aufzukommen, musste sie die Eigentumswohnung ihrer Mutter beleihen.

Das tat weh, denn außer der Wohnung hatte die alte Dame keine nennenswerten Ersparnisse, und Irene hätte das Geld aus dem Wohnungsverkauf als Sorglospflaster für ihren Ruhestand gut brauchen können.

Wenigstens hatte sie Jahre zuvor auf den Rat von Gabriele gehört und von ihrer Mutter, als sie noch dazu fähig war, ein Formular unterschreiben lassen, das Irene dazu berechtigte, als deren Vormund zu agieren.

Sie fragte sich, was genau die hohen monatlichen Kosten für das Heim rechtfertigte. Ihre Mutter war in einem Zweibettzimmer untergebracht, wo sie nur wenige persönliche Dinge hatte mitnehmen können. Irene dachte, dass es Marga Hofmann gutgetan und ihren Krankheitsverlauf vielleicht aufgehalten hätte, wenn sie die eigenen Möbel aus ihrer Wohnung und außer den Fotos der Familie noch einige gewohnte Gegenstände um sich gehabt hätte.

Mit drei Mahlzeiten am Tag und der Hilfe bei Morgen- und Abendtoilette waren die Leistungen des Heims erschöpft, bis auf die Tabletten, die sie zuhauf aufgedrängt bekam, um sie ruhig zu stellen.

Aktivitäten, die die Kranken hätten etwas beschäftigen können, bei denen Irene das Gefühl gehabt hätte, ihre Mutter habe wenigstens zwischendurch etwas Sinnvolles zu tun, was ihr ein bisschen Freude bereitete, fanden kaum statt. Die wenigen Pflegekräfte, die ständig überfordert zu sein schienen, waren dankbar, wenn Irene ihrer Mutter beim Essen half. Sie übernahm auch die Wäsche, Nagelpflege und wusch ihr einmal die Woche die Haare, denn diese Dienste hätten extra gekostet. So hatte sie das Gefühl, wenigstens etwas für ihre Mutter zu tun.

Irene dachte oft, wenn die Pflegerinnen einen angemessenen Lohn für ihre schwere Arbeit bekämen, wüsste sie, wofür der hohe monatliche Beitrag benutzt wurde.

Sie spülte ihren Teller ab, wusch sich und zog sich an, dann fuhr sie zum Heim. Die Reisetasche mit der frisch gewaschenen Wäsche in der linken Hand, die Kapuze übergezogen, rannte sie die paar Meter zum Eingang.

Meike, die junge Frau, die erst seit einigen Wochen dort arbeitete, kam gerade aus dem Gemeinschaftszimmer, am Arm ihre Mutter. „Sie muss kurz wohin, wir sind gleich zurück.“

Ihre Mutter beachtete sie nicht; sie starrte auf den Boden und setzte angestrengt einen Fuß vor den anderen. Als Irene ihr kurz die Hand auf die Schulter legte, stieg ihr der inzwischen vertraute Geruch nach frischem Urin in die Nase.

Während Meike mit ihrer Mutter auf Toilette war, fuhr Irene in den dritten Stock hoch, wo Marga Hofmann sich das Zimmer mit einer alten Dame teilte, die bettlägerig war. Zum Glück war es bei ihrer Mutter noch nicht so weit. In solch einem desolaten, passiven Zustand ganze Tage und Nächte verbringen zu müssen, stellte Irene sich als besondere Tortur vor.

Sie klopfte an und betrat das Zimmer. Die alte Frau war kaum zu sehen unter der Bettdecke, die sie bis zum Kinn gezogen hatte. Sie brabbelte Unverständliches vor sich hin. Die Hände, über der Brust hochgestreckt, führten irgendwelche Bewegungen aus, die wohl nur für die Alte selbst einen Sinn ergaben. In welcher Parallelwelt auch immer sie gefangen war, von der Realität bekam sie nichts mehr mit.

Irene legte Handtücher, Unterwäsche und Nachthemden in den Spint ihrer Mutter, dann nahm sie aus dem Wäschekorb daneben die verschmutzte Wäsche heraus und stopfte sie in ihre Tasche.

Sie beeilte sich, aus dem Zimmer herauszukommen. Da es regnete und relativ kühl war, war das Fenster geschlossen und der unangenehme Geruch nach altem Körper und dem Urinbeutel, der am Dauerkatheder neben dem Bett von Margas Nachbarin hing, überlagerte den Geruch des Desinfektionsmittels, das in den Zimmern und Gängen allgegenwärtig war.

Als Irene aus dem Fahrstuhl stieg, kam ihr Meike mit ihrer Mutter entgegen und Irene bot ihr den Arm an. Meike beugte sich hinunter und sagte: „Frau Hofmann, Ihre Tochter bringt Sie in den Speisesaal.“ Zu Irene gewandt fuhr sie fort: „Tee steht auf der Anrichte, wie immer. Kaffee auch.“

Irene nickte. „Danke. Ich hab was dabei.“ Sie öffnete ihre ausladende Handtasche und nahm eine Schachtel Pralinen heraus. „Für euch.“

Meike strahlte. „Nervennahrung! Die ist immer willkommen. Vielen Dank!“

Irene ging mit ihrer Mutter in Richtung Gemeinschaftsraum, wo die Mahlzeiten gereicht wurden. Sie führte Marga Hofmann zu dem Tisch, an dem sie immer saß. Die alte Frau seufzte und ließ sich mehr auf einen Stuhl fallen als dass sie sich setzte; der Gang zur Toilette hatte sie offensichtlich angestrengt. Sie hatte, seit sie in dieses Heim eingeliefert worden war, so viel an Gewicht verloren, dass sie körperlich schwach war, und die Pullover, die zuvor um ihren Leib gespannt hatten, jetzt um ihren Oberkörper schlotterten. Ihre Mutter, die Jahre lang eher korpulent gewesen war, war zu einem Häufchen Haut und Knochen zusammengeschrumpft, und Irene wunderte sich über das Durchhaltevermögen des fragilen Körpers.

Sie holte ihr einen Becher Tee, dieses Mal war es Hagebutte, und für sich einen Kaffee. Der Tee war nur lauwarm und der Kaffee viel zu dünn, aber daran war sie schon gewöhnt.

Sie setzte sich ihrer Mutter gegenüber und holte zwei kleine Päckchen in Alufolie aus ihrer Handtasche. „Sieh mal, ich habe für uns gebacken.“ Damit legte sie ihr ein dickes Stück Marmorkuchen auf den Teller.

„Du weißt doch, dass ich keinen Obstkuchen mag“, nuschelte Marga Hofmann.

„Genau! Deshalb hab ich uns Rührkuchen mitgebracht.“

„Und wo ist Gerds Stück? Bekommt er keinen Kuchen?“

„Nein, er mag heute keinen.“ Gerd war ihr Vater gewesen, der über zwanzig Jahre zuvor gestorben war.

Marga brummte etwas in ihren Bart und versuchte unbeholfen, einen viel zu großen Bissen des Kuchens in ihren Mund zu schieben. Die Hälfte fiel auf ihren Teller und zerbröselte. Irene nahm einen Kaffeelöffel, sammelte die kleinen Teigstücke ein und schob ihrer Mutter den Löffel zwischen die schlaffen Lippen.

Sie aßen schweigend. Unvermittelt stand die alte Frau auf und murmelte: „Ich muss den Braten aufsetzen.“

Irene drückte sie wieder auf ihren Stuhl zurück. „Lass nur, Mama, das mache ich nachher.“

Als die Kuchen gegessen waren, räumte Irene die Teller auf die Anrichte und holte eine zweite Tasse Tee, den sie in eine Schnabeltasse umfüllte. Wenn Marga Hofmann einen schlechten Tag hatte, so wie heute, hatte sie motorische Probleme. Sie stellte sie vor ihre Mutter.

Die musterte ihre Tochter kritisch. „Musst du nicht längst auf Arbeit sein? Gerd ist schon vor einer Stunde los.“

„Ich gehe gleich, aber ein paar Minuten hab ich noch Zeit.“ Irene hatte sich angewöhnt, ihre Mutter „dort abzuholen, wo sie stand“, wie der Arzt es einige Monate zuvor formuliert hatte.

Sie holte von dem Tisch in der Ecke, wo allerlei Spiele aufgetürmt waren, Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, weil ihre Mutter das früher immer gerne gespielt hatte. Sie kannte zwar die Regeln nicht mehr, aber sie würfelte, manchmal drei-, viermal hintereinander und freute sich, wenn ihre roten Figuren das für sie vorgesehene Haus erreicht hatten. Es war das Sonntagsritual bei schlechtem Wetter und Irene war davon überzeugt, dass diese wiederkehrende selbe Tätigkeit ihrer Mutter ein bisschen dringend benötigte Stabilität verlieh in einer Welt, die für sie immer undurchschaubarer wurde.

Nach einer weiteren Stunde, die Irene doppelt so lang vorkam, verabschiedete sie sich. Ihre Mutter konnte sich nicht mehr auf das Spiel konzentrieren, saß nur noch da, starrte vor sich hin, dann stand sie auf, schlich zwei Schritte am Tisch entlang und zog die Decke glatt, dann kam sie zurück und setzte sich wieder. „So, das wäre erledigt!“, murmelte sie jedes Mal.

Diese Zustände kamen mal früher, mal später, aber sie kamen immer. Irene fragte sich manchmal, wohin sie sich zurückzog, wenn sie sich so benahm. Egal, was man zu ihr sagte, sie reagierte einfach nicht mehr darauf.

Irene war sich nicht sicher, ob ihre Mutter überhaupt noch wusste, dass sie ihre Tochter war. Sie wusste nicht, wie viel Bewusstsein der Realität Marga Hofmann überhaupt noch hatte, und das betrübte sie. Sie verlor die Frau, die sie geboren hatte, stückchenweise und konnte ihr nichts aus ihrem Leben erzählen, was für sie von Bedeutung war, da ihre Mutter mit diesen Informationen nichts mehr anfangen konnte.

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