Читать книгу Smartphone, Sorgen und Salbei - Karin Firlus - Страница 5
ОглавлениеMitte Oktober
Mir war nicht klar, dass Älterwerden bereits diesseits der sechzig anfängt. Natürlich geschieht das nicht mit einem Paukenschlag. Ich wachte nicht eines Morgens mit schmerzenden Gelenken auf und dachte: Jetzt werde ich alt. Es sind vielmehr die subtilen Details, die sich fast unbemerkt einschleichen und in meinem Leben festsetzen wie die Kalkablagerungen in meinen Venen.
Ich sitze in einem Café und warte auf mein bestelltes Frühstück. Es ist ein gewöhnlicher Arbeitstag im Oktober, ich habe meinen jährlichen Routinetermin beim Zahnarzt hinter mich gebracht und nun das Gefühl, mich für diese Heldentat belohnen zu dürfen. In einem Anfall von leichtsinniger Erleichterung habe ich beschlossen, nicht gleich ins Büro zu hetzen und den täglichen Wettlauf mit der nicht enden wollenden Arbeit aufzunehmen, sondern in einem Café gemütlich zu frühstücken. Schließlich habe ich mir vorsichtshalber bis elf Uhr freigenommen und jetzt ist es erst kurz vor neun. Noch während ich forsch meine Schritte in Richtung Café lenkte, debattierten mein Kopf und mein Bauch miteinander.
Mein Kopf sagte: „Du weißt doch genau, wie viele unerwünschte Kalorien du dir damit einverleibst! Ein Spaziergang an der frischen Luft täte dir jetzt besser.“ Mein Bauch sagte: „Tu’s einfach und genieß‘ es!“
Ich ignorierte die Stimmen und setzte mich an den letzten freien Fensterplatz, so als sei dies selbstverständlich, mitten unter der Woche einfach frühstücken zu gehen. Aber schließlich war gestern mein Geburtstag, ein halbrunder sozusagen, und ich habe nichts besonders Schönes oder Außergewöhnliches unternommen. Das hole ich jetzt nach.
Ich sehe mich in dem Raum um und stelle fest, dass ich mitnichten die Einzige bin, die an diesem Vormittag im Café sitzt, um sich eine Auszeit zu gönnen. Ich scanne die Männer und Frauen an den anderen Tischen und stelle fest, dass sie sehr zufrieden dort sitzen und mir den Eindruck vermitteln, als täten sie das öfter oder zumindest, als müsse man kein schlechtes Gewissen haben, wenn man mitten am Morgen da sitzt und nichts arbeitet. Oder haben die alle Urlaub?
Ich entspanne mich nur zögerlich; irgendwie habe ich doch ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht sofort ins Büro geeilt bin. Aber da kommen mein Croissant, ein doppelter Espresso und ein stilles Wasser. Ich rühre einen Kaffeelöffel voll Zucker in mein schwarzes Heißgetränk, trinke einen Schluck Wasser und beiße genüsslich in das noch warme, knusprige Blätterteigteilchen. Ah – lecker!
Während meine Geschmacksnerven mit Glücksbotschaften um sich werfen, hat mein Kopf Denkpause. Aber sobald Teller und Tasse leer sind, wartet noch immer das fast volle Glas mit dem zu kalten Wasser darauf, geleert zu werden. Schnell hinuntertrinken kann ich es nicht, das tut im Magen weh. Und plötzlich fällt mir ein, dass meine Mutter seit Jahren über das eiskalte Wasser klagt, das man in Restaurants serviert bekommt. ‚Oh nein‘, denke ich, ‚jetzt werde ich schon wie sie‘!
Ich habe vergessen, die Tageszeitung einzustecken. So sitze ich vor meinem zu kalten Wasser und kann nichts lesen. Rauchen darf man ja heutzutage auch nicht mehr in geschlossenen Räumen, das hätte zumindest meine Finger und meine Lunge beschäftigt. In Ermangelung einer sinnvollen Tätigkeit und innerlich nun doch ziemlich gehetzt, lasse ich meinen Blick also wieder durch den Raum schweifen.
Die ältere Dame mit den rosa lackierten Fingernägeln am Nachbartisch ist voll und ganz darauf konzentriert, ihr Stück Schwarzwälder so in ihren Mund zu verfrachten, dass möglichst wenig Sahne auf ihrem Teller verbleibt.
Das Paar am Tisch daneben schiebt diverse Teller mit Rührei, Wurst-und Käsevariation mit halber Kirschtomate und einer dünnen Scheibe Salatgurke so auf dem kleinen runden Tisch umher, dass weder Salz-und Pfefferstreuer noch Brotkorb herunterfallen sollen. Schließlich stellt sie die übergroße Speisekarte und er das Teelicht in dem Keramikhalter mit bunten Dekosteinchen auf den leeren Nachbartisch.
Die vier Alten am Tisch vor meinem sitzen stumm mit versteinerten
Gesichtern vor sich hin und stieren immer wieder zum Fenster hinaus. Sie wirken, als seien sie aus dem Altersheim ausgebüchst und warteten darauf, früher oder später wieder eingesammelt zu werden.
Im hinteren Bereich entdecke ich einige jüngere Leute, die einzeln an ihrem jeweiligen Tisch sitzen. Mir fällt auf, dass einer von ihnen ein Handy ans Ohr hält und seine Lippen sich zwischendurch bewegen. Die anderen blicken konzentriert auf ihren Tisch vor sich. Dort liegt ein kleines Teil und als Mensch des 21. Jahrhunderts erkenne ich mühelos, dass die eine oder andere Hand, die von oben nach unten oder von rechts nach links über das Teil fährt, es nicht etwa von Staub befreien oder streicheln will. Nein! Dort wird gearbeitet oder zumindest der Anschein von sinnvoller Beschäftigung kolportiert.
Die kleinen Teile sind nämlich schlaue Sprechapparate, die neudeutsch Smartphones heißen. Sie sind internetfähig, damit der jeweilige User – zu Deutsch derjenige, der sich das elektronische Teil für nicht wenig Geld in sein Must-Have-Eigentum einverleibt hat – sekündlich mit dem gesamten Rest der Welt in Verbindung steht, sofern er dies will. Und er oder sie will! Das ist das für mich Erstaunliche.
Ich denke daran zurück, als die einfachen Vorläufer, schlichte Handys, den ersten Telefonierboom auf Deutschlands Straßen auslösten. Das ist noch gar nicht so lange her. Ich war damals erstaunt, wie viele Arbeitnehmer tagsüber mit diesen Wundertelefonen unterwegs statt an ihrem Arbeitsplatz waren.
Bis ich im Supermarkt in der Schlange an der Kasse stand und aus meiner Wartebrüterei von einem hellen, perlenden Signalton aufgeschreckt wurde: Die lippengepiercte junge Frau vor mir zog mit einer geschmeidigen Geste, die ich früher nur von John Wayne beim Revolverziehen kannte, ihr Handy aus der Jeanstasche und bellte: „Ja?“ Es klang durchaus professionell und ich hoffte, dass sie in ihrer vermeintlichen Frühstückspause keine Firmengeheimnisse ausplaudern würde, da ja jeder Umstehende das Gespräch würde mitanhören können bzw. müssen.
Aber ihre Antwort zerstreute meine Befürchtungen: „Nää, isch bin grad beim Ladi. Awwa do hänn se aah kä Läptops mehr. Isch kumm hääm un dann fahre ma glei ins Mediacenter. Isch bin doch ned bleed!“
Nachdem ich noch einige ähnlich „wichtige“ Telefonate in der Öffentlichkeit hatte mitanhören müssen, weil die körperliche Nähe zu den Telefonierenden unumgänglich war, beschloss ich, ohne dieses neumodische Rauchsignal auskommen zu wollen. Erst viel später, als so ziemlich jeder außer mir und meiner Mutter Handybesitzer war, reihte ich mich in die Massen derer ein, die „ohne“ nicht mehr leben konnten. Schließlich konnte ja wirklich einmal ein Fall eintreten, in dem ich es brauchen würde: Ich bin abends allein unterwegs, es ist spät und ich finde in dem großen Parkhaus mein Auto nicht wieder; oder ich entdecke in einer Apotheke die Umschau und weiß nicht, ob meine Mutter sie schon hat oder ob ich sie ihr mitbringen soll, damit sie die Rätsel bearbeiten oder sich darüber informieren kann, was es alles für Krankheiten gibt, die sie rein theoretisch alle bekommen kann oder schon haben könnte, ohne es zu wissen. Und kaum hatte ich ein Handy, mit dem ich telefonieren und sogar sogenannte SMS-Nachrichten verschicken konnte, kamen diese neuartigen Smartphones auf den Markt.
Nun stelle ich an diesem Morgen zum ersten Mal bewusst fest, dass heutzutage wohl jeder, der etwas auf sich hält, solch ein internetfähiges kleines Telefon sein Eigen nennt. Ich brauche solch ein Teil definitiv nicht auch noch und frage mich, wo die vielen Handys geblieben sind, die als Smartphones natürlich nicht genutzt werden können, da sie zu klein sind. Wie werden sie entsorgt?
Ich trinke mein Wasser leer und beschließe, mich doch früher als elf Uhr meiner geduldig wartenden Arbeit zu widmen. Irgendwie fühle ich mich in diesem Café wie eine Außenseiterin, denn ich kann mich weder in die Gruppe der wenigen Leute einsortieren, die eher im Alter meiner Mutter sind, noch gehöre ich zu den eifrigen Smartphonenutzern.
Wo also ist meine Nische? Gibt es so jemanden wie mich eigentlich noch? Vielleicht wird es Zeit, dass ich in meinem Leben etwas ändere, wenn ich nicht zum sprichwörtlichen alten Eisen gehören will.
Auf dem Weg zum Parkplatz hole ich das nach, was ich in früheren Zeiten bei einem Kaffee und der Tageszeitung genossen habe: Ich rauche eine Zigarette und ignoriere die mahnenden Blicke etlicher Zeitgenossen, die mir wieder vor Augen führen, dass Raucher heutzutage zu wahren Außenseitern geworden sind. Blicke anderer Art, nämlich bewundernde oder zumindest interessierte von Männern meines Alters, kann ich keine entdecken. Ich scheine, zumindest als Frau, unsichtbar geworden zu sein.
Unfreiwillig und kostenlos bekomme ich noch Ratschläge für eine gesunde Lebensgestaltung. Die Auslagen in einer Apotheke preisen ein neues Schlankheitsmittel an, das „garantiert innerhalb kürzester Zeit zum gewünschten Erfolg“ führe. Auf der Titelseite einer Frauenzeitschrift prangt die erschlankte Figur eines weiblichen C-Promis mit der fetten Überschrift: „Die neue Herbstdiät ohne Jojoeffekt!“
Ich frage sich, wie lang es gedauert hat, die wirklichen Kurven mit dem entsprechenden Computerprogramm zu retuschieren. Dennoch kaufe ich anschließend in der Bäckerei an der Ecke ein Kilo Brot mit mindestens 70% Roggenanteil anstatt das frische Baguette, das mich anlacht. Bin ich doch nicht so immun gegen jegliche Art von Werbung, wie ich immer geglaubt habe?
Ich schaffe es locker, kurz nach halb elf im Büro einzulaufen.