Читать книгу Smartphone, Sorgen und Salbei - Karin Firlus - Страница 6

Оглавление

Kapitel 1: Der Schock

„Sie sind zu alt - und zu teuer! Das kann unsere Firma sich auf Dauer nicht leisten.“ Er sagte es völlig emotionslos, so, als sei dies eine unumstößliche Tatsache.

Irene stand da und starrte ihren Chef an. Sie war gerade von ihrem Zahnarzttermin gekommen und sogar eine halbe Stunde früher als angekündigt im Büro zurück. Am Tag zuvor war er auf einer Konferenz gewesen; er hatte ihr nicht einmal telefonisch zu ihrem Fünfundfünfzigsten gratuliert. Anstatt es jetzt nachzuholen, hatte er sie in sein Büro zitiert und ihr dieses Urteil an den Kopf geknallt.

Sie schluckte krampfhaft den Kloß in ihrem Hals hinunter und sah ihm, unter Aufbietung all ihren Mutes, in die Augen. „Und was heißt das jetzt konkret?“

„Dass ich alles versuchen werde, Sie innerhalb der nächsten zwölf bis maximal vierundzwanzig Monate loszuwerden!“ Sein Blick glitt von ihrem Gesicht zu seinem Computerbildschirm und seine Hand griff zum Telefon – das Gespräch war von seiner Seite aus beendet.

Irene drehte sich um, ging ins Vorzimmer zurück, schloss energisch die Tür zu seinem Büro und sank auf ihren Bürostuhl.

‚In ein bis zwei Jahren …‘ Ihre Gedanken rasten. Mit spätestens siebenundfünfzig würde sie auf der Straße stehen, ohne die geringste Chance, in diesem Alter noch eine bezahlte Arbeit zu finden. Sie wäre zwei Jahre arbeitslos gemeldet und danach „auf Hartz IV“. Nach achtundzwanzig Jahren, in denen sie sich mit guter Arbeit und Engagement für „ihre“ Firma eingesetzt hatte, einfach so abserviert. Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen.

Ihre Kollegin kam mit einem Becher Latte Macchiato herein. „Nanu, was ist denn mit dir los?“

Irene wischte sich übers Gesicht. „Meinert hat mir soeben angekündigt, dass ich zu alt und zu teuer bin, deshalb will er mich so schnell wie möglich hier rausekeln.“

Britta schlürfte von ihrem Latte. „Nun, es ist ja kein Geheimnis, dass er die Firma verschlanken will. Und das heißt eben auf gut Deutsch, dass er die alten Mitarbeiter loswerden muss.“

„Alt?“ Irene sah ihre zwanzig Jahre jüngere Kollegin schockiert an. „Ich bin doch nicht alt! Ich arbeite erst seit knapp dreißig Jahren für diese Firma. Der Vater von unserem letzten Chef hat mich damals eingestellt. Und sowohl er als auch sein Sohn waren immer mit meiner Arbeit zufrieden!“, fügte sie trotzig hinzu.

„Sag ich doch. Du arbeitest hier seit Ewigkeiten. Und du musst doch zugeben, dass du nicht mehr so schnell bist wie früher und so flexibel auch nicht mehr.“

Irene funkelte Britta ungehalten an. „Das mag wohl sein; dafür kenne ich die Firma in- und auswendig. Wer hat dir denn alles beigebracht, als du vor zwei Jahren hier angefangen hast?“

„Das warst du. Aber allmählich gehst du auf die sechzig zu und bist eben nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Der Meinert versucht doch, seit er vor achtzehn Monaten hier anfing, den Gewinn der Firma immer mehr zu steigern. Das wird von den Topmanagern heutzutage erwartet. Gewinnmaximierung, nichts anderes zählt. Das bedeutet, er braucht ein top leistungsstarkes Team und somit möglichst viele junge Mitarbeiter, die schnell arbeiten und sich auf neue Situationen direkt einstellen können.“

Irene schwieg. Schnell und flexibel zu sein war ihrer Meinung nach nicht das einzig Wichtige bei der Arbeit. Man musste auch genügend Kenntnisse und Erfahrung einsetzen können. Daran mangelte es vielen jüngeren Mitarbeitern; auch an der Einstellung zur Arbeit.

Irene erinnerte sich an das letzte Mal, als Azubis nach ihrer Prüfung übernommen werden sollten: Ein einziger war es nur; die anderen fünf, die zuvor in der Firma gelernt hatten, waren nicht gut genug. Und an neuen Azubis hatten sie nur zwei eingestellt, obwohl sie wesentlich mehr hätten gebrauchen können; doch viele junge Leute heutzutage brachten noch nicht einmal die wichtigsten Voraussetzungen mit, wie eine ordentliche Rechtschreibung und zumindest die Kenntnis der Grundrechenarten.

Aber, dachte Irene, für Britta sah das anders aus; sie als Fünfunddreißigjährige und nur zweite Schreibkraft bekam längst nicht so viel Gehalt wie Irene. Dass ihre Briefe fast immer vom Chef verbessert zurückkamen und Irene meist diejenige war, die Überstunden drosch, weil Britta ja ihr Privatleben pflegen musste, vergaß sie ganz offensichtlich.

Mit einem Mal schoss Irene vor Wut die Röte ins Gesicht. Britta hatte nicht einmal überrascht gewirkt über Meinerts Absichten. Ob sie bereits davon gewusst hatte? Irene fing an zu schwitzen; sie würde ab sofort äußerst vorsichtig sein müssen mit dem, was sie Britta erzählte.

Sie überstand diesen Freitag, indem sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte. Aber sobald sie um zwei die Firma verließ, rief sie noch vom Handy aus ihre Freundin Gabriele an und verabredete sich mit ihr spontan zum Kaffee. Sie war so aufgeregt, dass sie sich noch im Auto eine Zigarette anzündete, was sie noch nie getan hatte.

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, die Temperatur war gefühlte zehn Grad gesunken und die schönen, sonnigen Oktobertage schienen endgültig vorbei zu sein. Gabriele und Irene kamen gleichzeitig im Café an. Gabriele war zwei Jahre jünger als sie und auch alleinstehend; allerdings hatte sie außer einer großen Eigentumswohnung von ihren Eltern noch einiges an Erspartem geerbt. Das bescherte ihr zumindest die Sicherheit, das nötige Kleingeld für Dinge zu haben, die sie kaufen wollte, aber nicht unbedingt brauchte. Und im äußersten Notfall hätte sie von ihrem Ersparten leben können, bis sie Rente bekommen würde. Diese finanzielle Unabhängigkeit fehlte bei Irene und insgeheim beneidete sie ihre Freundin um diese Sicherheit.

Sie umarmten sich, dann sah Gabriele Irene kritisch an. „Dir geht’s gar nicht gut, stimmt’s? Was ist los?“

Irene schnaubte. „Du glaubst nicht, was mir heute Morgen passiert ist!“, und dann erzählte sie atemlos von dem Gespräch mit ihrem Chef und dem mit Britta.

Als sie geendet hatte, lehnte Gabriele sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wie gut kennst du deine Kollegin?“

Irene sah sie überrascht an. „Wie man eben jemanden kennt, mit dem man fünf Tage die Woche in einem Raum zusammenarbeitet.“

Gabriele zog die Augenbrauen hoch. „Es scheint mir, als habe diese Britta durchaus von der Absicht deines Chefs gewusst, und zwar deshalb, weil sie scharf auf deinen Job ist!“

Irene starrte ihre Freundin ungläubig an. „Du meinst, sie wäre so fies, mir jeden Tag ins Gesicht zu lächeln, obwohl sie in Wirklichkeit nach meiner Stelle giert?“

„Was heißt hier ‚fies‘? Die heutige Arbeitswelt ist eine Kampfarena und der Stärkere gewinnt. So einfach ist das. Und so brutal. Jeder gegen jeden; da ist kein Platz mehr für Kollegialität.“

Irene sah entmutigt drein. „Das ist furchtbar! Früher bin ich ganz gern arbeiten gegangen, aber seit Meinert unser Geschäftsführer ist, dreht sich alles nur noch darum, den Gewinn der Firma jedes Jahr zu steigern. Wie die Angestellten sich dabei fühlen, dass sie auch noch den letzten Tropfen Energie ausgesaugt bekommen, ist denen in der Chefetage doch völlig egal! Und unser früheres gutes Arbeitsklima ist dahin.“

„Kein Wunder, wenn euer Chef damit droht, Leute zu entlassen. In solch einer Situation ist sich jeder selbst der Nächste.“ Gabriele trank von ihrem Grünen Tee. „Ich habe großes Glück, dass es bei uns nicht ganz so schlimm ist. Im öffentlichen Dienst gehen zwar auch mehr Leute als früher, die meisten allerdings in Altersteilzeit. Und Fachfremde haben’s mittlerweile in unserer Bank auch schwer; die werden gerne rausgemobbt. Aber ich müsste mir schon einen groben Schnitzer erlauben, um entlassen zu werden.“

*

Die bedrohliche Situation an Irenes Arbeitsplatz war auch am Samstagnachmittag Hauptgesprächsthema, als sie sich mit ihren drei Bekannten traf. Einmal im Monat kamen sie abwechselnd bei einer von ihnen zu einem Kaffeekränzchen zusammen. Zunächst wollte Irene zu sich einladen, um ihren Geburtstag nachzufeiern, aber Carola, die als Gastgeberin an der Reihe war, hatte sie dazu überredet, wie geplant zu ihr zu kommen. „Dann hast du keine Arbeit mit Kuchenbacken und Tisch richten. Sieh es als Zusatzgeburtstagsgeschenk an.“ Und Irene hatte angenommen, weil sie wusste, dass auch Carola keine Arbeit haben würde. Ihre Haushälterin erledigte das alles für sie.

Sie hatte zunächst damit gerechnet, dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn samstags zu ihr kommen würden. Doch die beiden verbrachten ihre Herbstferien mit Freunden in Griechenland. Irene war sich nicht sicher, ob sie enttäuscht war, dass ihre Tochter einfach so wegfuhr über ihren Halbrunden – schließlich sahen sie sich sowieso nicht sehr oft – oder ob sie erleichtert war, sich nicht krampfhaft in netter Konversation mit den beiden üben zu müssen. Sie hatten kein enges Verhältnis zueinander, was Irene bedauerte, aber sie wusste auch nicht so recht, wie sie das hätte ändern können.

So ging sie also an diesem Samstag zu Carola in ihre schicke Villa. Die vier Frauen waren alle ungefähr im selben Alter und bis auf ihre heutige Gastgeberin gingen sie arbeiten. Monika, eine frühere Kollegin, die Jahre zuvor in eine andere Firma gewechselt war, und Beate, mit der sie sich bei einer Fortbildung zehn Jahre zuvor angefreundet hatte, arbeiteten nur halbtags. Sie waren verheiratet und somit finanziell abgesichert. Carola, Irenes Banknachbarin vom Gymnasium, hatte das große Los gezogen; sie genoss das Privileg, mit einem wohlhabenden Mann verheiratet zu sein. Nur Irene hatte keinen finanziellen Rückhalt, sie musste arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Sie sank in die weichen Polster der beigen Ledercouch, über der ein großes Bild hing. Es war mit einem roten Holzrahmen eingefasst, was eher ungewöhnlich war. Dieser Farbtupfer an der Wand war der einzige fröhliche Akzent in dem ansonsten eher dezent eingerichteten Raum. Die wenigen Möbelstücke aus hellem Holz mit beigem Überzug schienen wie zufällig in dem großen Zimmer platziert, was dem Raum eine lässige Atmosphäre gab.

Das Bild hatte noch nicht dort gehangen, als sie sich das letzte Mal hier getroffen hatten; Irene betrachtete es genauer.

Eine Frau in einem weich fließenden, grünen Kleid saß auf einer roten Couch, den linken Arm lässig auf ihrem Oberschenkel ruhend, den rechten Arm hinter ihrem Kopf verschränkt. Neben ihr standen auf einem Tischchen zwei Schalen mit Obst. Der Blick der Frau war entspannt, vielleicht auch nachdenklich. Oder gelangweilt? Irene war sich nicht sicher. Die Lampe darüber schien, ob bewusst gewählt oder zufällig, die Brüste der Frau hervorzuheben, die sowieso durch den weichen Stoff ihres Kleides betont wurden.

„Unser neues, ein Matisse“, sagte Carola. „Alex hat ihn bei einer Auktion in London erstanden.“

Irene besah sich die Frau in dem Bild noch einmal genauer; sie strahlte eine lässige Selbstsicherheit aus, die Irene auch gerne wenigstens manchmal empfunden hätte. Wenn jemand in solch einer Gemütsverfassung war, hatte er jedenfalls keine großen Sorgen, finanzielle schon gar nicht.

Seufzend wandte sie sich den anderen zu. Beate beugte sich zu ihr und übergab ihr ein Kuvert. „Das ist von uns allen, damit du’s dir mal so richtig gutgehen lassen kannst!“

Irene bedankte sich und öffnete den Umschlag. Sie hatten ihr einen Gutschein für einen Nachmittag in einem Wellnesshotel geschenkt. Irene wusste, dass sie ihr damit eine Freude hatten machen wollen; schließlich sollten ein paar Stunden Massage, Sauna und Dampfbad entspannend wirken. Doch bei Irene krampfte sich alles zusammen bei dem Gedanken daran, dass sie nicht die teure Kleidung besaß, die viele Frauen, die den geeigneten finanziellen Hintergrund hatten, bei solch einer Gelegenheit trugen. Und unter keinen Umständen wollte sie zusammen mit anderen Frauen nackt auf einer heißen Bank sitzen und schwitzen. Das war einfach nicht ihre Welt.

Sie überlegte fieberhaft, wie sie diesem Dilemma entgehen könnte. Aber ihren Bekannten gegenüber wollte sie dies nicht zugeben. „Toll! Da habt ihr euch ja richtig ins Zeug gelegt. Vielen Dank!“

„Wir können doch mal zusammen hingehen, wenn du willst“, ließ Carola verlauten. „Ich bin regelmäßig dort.“

Spontan dachte Irene ‚Um Gottes Willen, nein‘! Laut sagte sie: „Mal sehen, ich bin im Moment ziemlich beschäftigt. Mein Chef deckt mich mit Arbeit ein, wo er nur kann.“ Um ihre recht brüske Reaktion abzumildern, lächelte sie zaghaft, dann konzentrierte sie sich auf die Kaffeetafel.

Sie war üppig gedeckt. Nebst edlem weißem Porzellan mit Goldrand und beigen Kerzen standen drei Kuchenplatten mit Torten aus einer Konditorei. Carola hatte sie wahrscheinlich nicht einmal selbst gekauft; so etwas Profanes erledigte ihre Haushälterin. Irene besah sich ihre Bekannten und dachte, dass die drei ihre Panik vor einem Jobverlust nicht wirklich nachvollziehen konnten.

„Nimm das Ganze doch nicht so ernst!“, säuselte Carola denn auch prompt. „Falls er dich wirklich rausekelt, hast du schließlich noch Hannes‘ Pension.“ Sie sah in die Runde. „Wer möchte von der Schwarzwälder?“

Irene glaubte sich verhört zu haben. „So etwas sagst ausgerechnet du? Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest! Wie soll ich denn mit 438 Euro im Monat meine Miete zahlen und davon auch noch leben können? Soviel kostet bei dir ein neuer Pullover.“

„Wenn’s reicht“, murmelte Beate.

Monika mischte sich ein. „Irene, du bist doch im Betriebsrat, da wird es für deinen Chef nicht so einfach werden, dich aus der Firma hinaus zu komplimentieren.“

„Stimmt. Und um dich kündigen zu können, braucht er einen triftigen Grund“, fügte Beate an.

„Das schafft er leicht. Er triezt sie so lange, bis sie von alleine aufgibt“, gab Monika zu bedenken.

Carola lehnte sich vor. „Hört auf damit, ihr macht sie nur noch unsicherer.“ Sie sah Irene an. „Ich weiß, du nimmst mich nicht für voll, weil ich nicht von einem Arbeitsplatzverlust bedroht bin und keine finanziellen Sorgen habe. Aber gute Arbeit zu leisten ist nicht alles.“

Die anderen starrten Carola fragend an. „Komm mir bloß nicht mit dem Quatsch der Verführungsnummer!“, brauste Beate auf. „Sowas zieht nicht bei jedem Chef.“

Carola grinste spöttisch. „Und nicht bei jeder Sekretärin“, worauf hin Beates‘ Wangen sich dunkelrot verfärbten. Ihr Mann war nämlich zunächst ihr Chef gewesen, bevor sie geheiratet hatten und sie sich in eine andere Abteilung hatte versetzen lassen. „Ich will auf etwas anderes hinaus. Irene, hast du dich in letzter Zeit einmal im Spiegel betrachtet? Objektiv, meine ich. Die Falten um deine Augen werden von Monat zu Monat tiefer und bald hast du mehr graue als schwarze Haare. Und dein Outfit …“ Sie beäugte Irenes blaue Hose und das hellgraue Shirt, „lässt auch zu wünschen übrig!“

„So geht sie doch nicht zur Arbeit!“, entrüstete sich Monika.

„Aber ein bisschen aufgepeppter könntest du dich durchaus kleiden, da hat Carola recht“, sagte Beate.

„Wann warst du das letzte Mal bei einer Kosmetikerin?“, fragte Carola.

„Bitte, wo?“ Irene glotzte ihre Schulkameradin dümmlich an. „So wo war ich noch nie. Wozu auch?“

„Na, dann wird’s aber Zeit! Ich kümmere mich darum. Und eine andere Frisur brauchst du auch!“ Carola biss entschieden in ihre Apfeltarte.

Smartphone, Sorgen und Salbei

Подняться наверх