Читать книгу Smartphone, Sorgen und Salbei - Karin Firlus - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3: Bestandsaufnahme
Irene stand im Bad. Sie hatte, wie jeden Sonntagabend, Kleidung gefaltet, aufgeräumt und dabei ferngesehen. Danach hatte sie geduscht und die Haare gewaschen. Gerade hatte sie die Kombination für den Montag zurechtgelegt: einen einfachen dunkelblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Solche Kombis gab es noch zweifach, eine grau-schwarze und eine weiß-schwarze. Sie besah sich die Kleidungsstücke, wie sie auf dem Bett ausgebreitet da lagen und dachte, Carola hat recht, das sieht sterbenslangweilig aus. Sie öffnete eines der oberen Fächer ihres Kleiderschrankes und streckte sich. Irgendwo da drinnen mussten doch noch ein paar Schals liegen.
Tatsächlich, hinter den Sommershirts sah sie etwas Buntes hervorlugen. Sie zog daran und hielt zwei zerknitterte Tücher in der Hand, ein blau-weiß-rotes und einen grün-bunten, langen Schal. Ersterer wanderte zu der Bluse auf ihrem Bett. Sie nickte zufrieden, ging ins Bad und wusch ihn mit Seifenwasser aus, dann hing sie ihn in die Dusche. Mit etwas Glück wäre er am nächsten Morgen trocken.
Dann nahm sie ihren Föhn in die Hand und hielt inne. Sie blickte in den Spiegel vor sich und besah sich kritisch.
Ihre Haare, die vor einigen Jahren noch tief schwarz gewesen waren, wiesen zahlreiche dünne, graue Strähnen auf. Etwas völlig Normales in ihrem Alter, fand sie. Um die Augen hatten sich einige Fältchen gebildet, auch die empfand sie nicht als störend. Wenn man älter wurde, veränderte sich nun einmal das Aussehen. Wenn man überhaupt die Chance hatte, älter zu werden. Entschlossen drückte sie den roten Knopf am Fön und begann, ihre Haare in großen Wellen zu stylen.
Ihrem Mann war die Chance, alt zu werden, verwehrt geblieben. Hannes war mit sechsvierzig an Magenkrebs gestorben. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie von seinem sicheren Todesurteil erfuhren.
Nachdem er eine Zeitlang von Magenschmerzen geplagt worden war, hatte er einen Termin bei seinem Hausarzt vereinbart. Der hatte etliche Untersuchungen angeordnet und für einen Freitagnachmittag um 18 Uhr einen Besprechungstermin anberaumt. Sie hatten sich gemeinsam auf den Weg gemacht, weil sie danach noch mit Freunden hatten essen gehen wollen.
„Falls ich ein Magengeschwür habe, darf ich wahrscheinlich nur Diät essen“, hatte Hannes vorgebaut.
„Wart erst einmal ab. Du wirst Tabletten verschrieben bekommen, mehr nicht!“, hatte Irene prophezeit.
Ihre Tochter war seit mittags bei ihren Eltern, wo sie bis Samstagsmittags bleiben würde. Sie hatten also einen entspannten Abend vor sich und würden am nächsten Morgen ausschlafen und sich einmal wieder in Ruhe lieben können. Somit waren sie überhaupt nicht auf den Tiefschlag vorbereitet, den der Arzt ihnen versetzte.
Er redete nicht lange um den heißen Brei. „Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass alle Untersuchungen eindeutig darauf hinweisen, dass Sie Magenkrebs haben, Herr Hofmann. Bei der Blutuntersuchung hatten Ihre -“
Irenes Kopf war von diesem einen Wort beherrscht: Krebs. Magenkrebs! Das war tödlich, oder? Aber es gab sicherlich eine Lösung. Man musste doch operieren und eine Chemotherapie durchführen können.
„ … schon zu weit fortgeschritten.“ Der Arzt räusperte sich.
„Und was kann man dagegen tun?“, hatte Hannes sehr ruhig, wie es Irene schien, gefragt.
„Ich fürchte, nicht viel. Der Krebs ist im Endstadium, der Tumor hat bereits gestreut, deshalb können wir nicht operieren. Wir werden versuchen, die Ihnen verbleibende Zeit durch medikamentöse Applikation ertragbar zu gestalten, aber eine Chance auf Heilung besteht nicht.“
Irene wollte das nicht einfach so hinnehmen. „Aber es muss doch irgendeine Möglichkeit -“
Hannes legte ihr eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Er sah den Arzt an. „Wie lange noch?“
Dr. Heimann atmete tief durch. „Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ein paar Wochen noch, drei bis vier Monate höchstens …“
Da hatte Irene angefangen hemmungslos zu weinen.
Sie stand im Bad, schaltete den Fön aus und setzte sich auf den Toilettendeckel. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie spürte mit fast unverminderter Verzweiflung die damalige Hoffnungslosigkeit, den Schmerz und die Angst, die dieses Todesurteil in ihnen beiden ausgelöst hatte.
Einige Wochen – das war zu wenig, um noch sorgenfrei zu lieben, um Dinge zu tun, die man schon immer hatte tun wollen, aber auf eine unbestimmte Zukunft verschoben hatte, weil man davon ausging, dass man ja noch so viel Zeit haben würde.
Zeit genug, um das Nötigste zu regeln, ja. Ein wenig Erleichterung darüber, dass Hannes drei Jahre zuvor eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte und Irene somit wenigstens einen Teil des Kredits, den sie für die Bezahlung der drei Jahre alten Eigentumswohnung aufgenommen hatten, würde ablösen können. Aber würde sie die Vier-Zimmer-Wohnung halten können? Um genügend Eigenkapital für den Wohnungskauf zu haben, hatte Hannes seine spätere Pension beliehen. Das hieß, dass er bisher nur während der letzten vier Jahre eingezahlt hatte. In dieser Zeit war seine Pension kaum angewachsen.
Sie erinnerte sich an die Gespräche, die sich nur darum drehten, wie sie und Sabine nach Hannes‘ Tod zurechtkommen würden. Irene war fuchsteufelswild. „Wie kannst du über solche Belanglosigkeiten reden im Angesicht dessen, dass du bald stirbst?“, hatte sie ihren Mann angefaucht.
„Das ist nicht belanglos, es betrifft schließlich das Leben meiner Frau und meiner Tochter. Es ist mir wichtig, euch einigermaßen versorgt zu wissen, nur so kann ich gehen, ohne von Verzweiflung zerfressen zu werden.“
Sie verstand ihn nicht. Sie an Hannes‘ Stelle hätte gewütet, geheult, geschrien. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Was hatte ihr Mann, der nie jemandem etwas Böses getan hatte, nur verbrochen, dass er so früh sterben musste? Nichts! Und dennoch blieb ihm versagt, sein Leben zumindest bis zu einem Alter zu leben, wo es normal war, dass man starb.
Irene schnitt ihre Zehennägel. Und wann war dieses Alter erreicht, bei dem man sich sagte: „Nun ist es genug, nun will ich gehen?“ Früher, wenn sie überhaupt an das eigene Sterben dachte, was äußerst selten vorkam, hatte sie Zahlen wie 65, 70 im Kopf. Inzwischen wanderte diese Endzahl immer weiter nach hinten und landete in ihrer Vorstellung weit jenseits der achtzig – bei guter Gesundheit bis kurz vor Ende sozusagen. Den Gedanken an ihre Mutter schob sie weg, nicht das jetzt auch noch; sie hatte genügend Probleme mit sich selbst.
Hannes schien sich nicht einmal übermäßig zu grämen, dass er bald würde sterben müssen. Sie hatten an dem Abend, an dem der Arzt ihnen sein Todesurteil präsentiert hatte, nebeneinander auf dem Sofa gesessen und beide geheult. Aber Irene war diejenige gewesen, die ihre Angst und ihre Verzweiflung herausgeschrien hatte. „Bist du denn nicht stinkesauer, dass du bald sterben musst? Du wirst um die Hälfte deines Lebens betrogen, verdammt! Und ich auch.“
Später lagen sie nebeneinander im Bett, hielten sich an den Händen und konnten, obwohl es bereits nach Mitternacht war, nicht einschlafen. Bewusste, gemeinsame Zeit war ein kostbares Gut geworden.
Er sagte zunächst nichts, dann flüsterte er mit belegter Stimme: „Eigentlich bin ich nicht sehr überrascht. Ich habe mir zwar keine Sorgen gemacht, dass ich eine schlimme Krankheit haben könnte. Aber irgendwie habe ich geahnt, dass ich nicht mehr lange leben würde.“
Er hielt inne und sie hörte ihn im Dunkeln leise weinen. Sie drückte seine Hand, überwältigt von den Gefühlen der Liebe für ihn und von Verzweiflung bei der Vorstellung, den Rest ihres Lebens ohne ihn verbringen zu müssen.
Sie waren in diesen knapp zwölf Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, zu einer Einheit zusammengewachsen. Sie konnte sich einfach nicht mehr vorstellen, ohne die Geborgenheit, die er Sabine und ihr vermittelte, überleben zu können; ohne seinen Humor und seinen Charme einen Grund zum Lachen zu haben; ohne die vertraute Zweisamkeit gern leben zu wollen.
Da sprach er leise weiter: „An Weihnachten stand ich am Esstisch und beobachtete deine Eltern, Sabine und dich, wie ihr Geschenke ausgepackt und fröhlich gelacht habt. Ich machte ein Foto, nur für mich, damit ich diese Szene in meinem Herzen und in meiner Erinnerung bewahren konnte. Ich fühlte mich außen vor und insgeheim ahnte ich, dass ich beim nächsten Weihnachtsfest nicht bei euch sein würde. Ich konnte mir das nicht logisch erklären, aber dieses Gefühl war so tief in mir drin, dass ich wusste, es war echt. Zwei Wochen später fingen die Magenschmerzen an.“
Irene setzte sich auf. „Du hattest so früh schon Probleme und bist erst im Februar zum Arzt gegangen? Das war leichtsinnig!"
Er zog sie zu sich hinunter, so dass ihr Kopf auf seiner Brust lag. „In der Uni ging es damals drunter und drüber, das weißt du doch. Ich hatte wieder mal keine Zeit krank zu sein. Und außerdem … ich glaube, ich wollte es einfach nicht wissen, wollte die Gewissheit hinausschieben. Solange ich keinen ärztlichen Befund hatte, würde ich leben, verstehst du?“
Knapp fünf Monate später, an einem strahlenden Spätsommertag im August, war er gestorben. Während der letzten Tage hatte er niemanden mehr erkannt.
Irene zog einen Pyjama über und ging in die Küche. Sie schnitt eine Tomate in Scheiben, die sie auf ihr Käsebrot legte.
Sie hatte mit zweiunddreißig Jahren zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter am offenen Grab gestanden und sich gefragt, wie es weitergehen sollte, ohne Mann, ohne Versorger, ohne Vater für Sabine.
Sie aß ihr Brot, sah die Nachrichten und danach irgendeinen Liebesfilm, aber als sie hinterher ihre Zähne putzte, hätte sie nicht sagen können, was sie gesehen hatte. Im Kopf war sie bei ihrem Problem, für zu alt gehalten zu werden.
„Zu alt“ wozu eigentlich, fragte sie sich. Ihre Arbeit bereitete ihr keine so große Freude mehr wie bisher, aber sie erledigte sie gewissenhaft. Und schließlich machte sie den Großteil ihres Lebens aus. Da sie keinen Partner hatte, definierte sie sich hauptsächlich über ihre Tätigkeit.
Sie hatte sich zwar als junge Frau gewünscht, als eine Frau Doktor der Biologie an der Uni zu unterrichten. Aber ihre Entscheidung, nicht abzutreiben und Hannes zu heiraten, hatte Konsequenzen gehabt, die sie sich so nicht vorgestellt hatte.
Als Sabine mit knapp drei Jahren im Kindergarten angemeldet war und Irene sich immatrikuliert hatte, um wie geplant weiterzustudieren, war sie wieder schwanger gewesen. Sie hatte diese erneute Fessel an den heimischen Herd verflucht, bis sie im fünften Monat eine Fehlgeburt hatte. Anstatt froh darüber zu sein, weil sie dann hätte ihr Studium aufnehmen können, hatte sie zunächst mit diesem Verlust zu kämpfen. In den fünf Monaten, in denen das Kind in ihrem Bauch herangewachsen war, hatte sie eine Beziehung zu ihm aufgebaut, sich schon wie seine Mutter gefühlt. Und kaum hatte sie sich einigermaßen erholt, hatte ihr Leben eine neue Wende genommen.
Die Fehlgeburt war dadurch ausgelöst worden, dass ihr geliebter Vater ihr erzählte, dass er an Parkinson erkrankt war. Ihre Mutter war mit seiner Pflege total überfordert, und so fuhr Irene, nachdem es ihr selbst besser ging, jeden Tag, nachdem sie Sabine im Kindergarten abgegeben hatte, zu ihren Eltern, um ihre Mutter wenigstens vormittags zu entlasten. In dieser Situation zu studieren, wäre zeitlich einfach nicht möglich gewesen.
So fand sie sich damit ab, ihr Studium nicht wieder aufnehmen zu können und entschloss sich stattdessen zu einer Umschulung, denn mit sechs Semestern Biologiestudium hätte sie in der freien Wirtschaft keine Chance auf eine Stelle gehabt, auf der sie sich hätte vorstellen können, dauerhaft zu arbeiten.
Als Lehrerin sah sie sich nicht. Also machte sie an der Abendschule eine Ausbildung zur EDV-Fachfrau. Nach eineinhalb Jahren bestand sie die Prüfung mit einer Zwei plus.
Ein früherer Geschäftskollege ihres Vaters, der der Familie nahe stand, brachte sie in die Firma, in der er Abteilungsleiter war. Dass Irene gute Grundkenntnisse in Biologie hatte, war von Vorteil; so konnte sie einiges von dem chemischen Fachwissen verstehen, das in den Briefen stand, die sie schreiben musste. Auch ihre guten Französischkenntnisse halfen ihr jetzt. Ihr Chef war sehr erleichtert, dass sie fortan ohne Mühe die französischen Briefe schrieb, die er ihr diktieren konnte, ohne – wie bei ihrer Vorgängerin – ständig die Schreibweise erklären zu müssen.
Zunächst arbeitete Irene nur halbtags, was ihr völlig reichte. Aber als Hannes dann gestorben war, musste sie aus finanziellen Gründen auf eine ganze Stelle aufstocken. Sie hatte zwar keine Karriere in dem Sinne gemacht, dass sie eine höhere Position, z.B. als Abteilungsleiterin, innegehabt hätte. Aber sie war die Sekretärin des Leiters der ausländischen Abteilung, musste am Telefon mit Franzosen und inzwischen auch manchmal mit Engländern sprechen und nach wie vor die französischen Briefe schreiben, die sie diktiert bekam. Ihre wechselnden Chefs hatten sie seit Jahren geschätzt und sich auf sie verlassen.
Die Probleme fingen erst an, als der letzte schon mit sechzig in Rente ging und der neue Chef kam. Einer, der mit Anfang vierzig auch nicht gerade blutjung war. Aber er hatte diese Position wohl „mit Vitamin B“ gekriegt, wie einige in der Firma behaupteten, weil er mit dem pensionierten Seniorchef weitläufig verwandt war.
Und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, der Firma zu noch mehr Aufträgen und einer besseren Bilanz zu verhelfen. Allerdings hatte er dazu z.B. nicht die Chance genutzt, sich über Irene und einige andere Mitarbeiter erst mit der Firmenpolitik und vor allem mit den Mitarbeitern vertraut zu machen.
Vom ersten Tag an hatte er ihnen unnachgiebig und unfreundlich klargemacht, dass er von ihnen jederzeit Höchstleistungen erwartete, aber Schwächen und „minderwertige Arbeit“, wie er es ausdrückte, ahnden würde. Schließlich gäbe es jede Menge Arbeitslose da draußen, die nur darauf warteten, ihre Jobs zu übernehmen.
Wie allerdings diese minderwertige Arbeit aussah, definierte er nicht. Und somit fühlten sich alle ständig unter Druck, nur ja keinen Fehler zu begehen oder Überstunden abzulehnen.
Er führte neue Methoden ein, unter anderem in der Akquise der Kunden, und verprellte mit seiner herrischen Art etliche Stammkunden, die sich daraufhin eine andere Firma für ihre Projekte suchten. Nach einer Weile gingen die Aufträge zurück, was der Neue allerdings nicht auf seine Fehler zurückführte, sondern auf die ungenügende Leistung seiner Mitarbeiter. Sie schienen für ihn nur ein Mittel zum Zweck zu sein, der da hieß, Gewinne zu steigern.
Dies war wohl immer häufiger das neue Mantra vieler Chefs. Irene war zwar keine ausgebildete Personalmitarbeiterin, aber sie dachte bei sich, dass dieses Ziel nur mit motivierten Mitarbeitern, die man schätzte, zu erreichen war. Aber für den neuen Chef waren seine Leute keine Menschen, mit denen er auch einmal ein privates Wort wechselte. Er benahm sich unnahbar, nahm an keiner noch so kleinen Geburtstagsfeier teil. Er sprach nie ein Lob aus, hatte für niemanden ein freundliches Wort, übte nur Kritik und sprach Warnungen aus, was passieren würde, wenn die Situation sich nicht besserte.
Dann, nach etwa einem Jahr, als er offenbar seine Vorgaben nicht erfüllt hatte, begannen plötzlich die Entlassungen. Dazu gingen einige jüngere Mitarbeiter freiwillig, da sie sich in dieser feindseligen Arbeitsatmosphäre nicht mehr wohlfühlten, wie sie sagten.
Irene spürte die Freude an ihrer Arbeit nach und nach schwinden, bis sie sonntagsnachmittags bereits mit Grauen daran dachte, dass ab dem nächsten Tag wieder eine stressige Woche mit Problemen auf sie wartete. Aber nie im Leben hätte sie angenommen, dass die Kündigungswelle auch einmal sie erfassen würde. Dass sie mit fünfundfünfzig zu alt für ihre Arbeit sein sollte, kam ihr lächerlich vor, und dieses Argument wollte sie nicht akzeptieren.
Außerdem brauchte sie ihre Arbeit dringend. Hinter ihr stand kein Mann oder Lebenspartner, der ihr finanziell hätte unter die Arme greifen können, wenn sie ihre Arbeit verlor. Ob ihr Chef wusste, dass sie auf ihr Gehalt angewiesen war? Wahrscheinlich nicht, und wenn doch, war es ihm egal. Diese kaltschnäuzige Haltung machte ihr Angst.
War sie denn überhaupt noch etwas wert? Für ihren Chef wohl jedenfalls nicht. Ihre Mutter dümpelte in ihrer Welt des Vergessens, ihr war sowieso alles wurscht. Und Sabine? Mit ihr hatte sie nur oberflächlichen Kontakt. Ihre Tochter war ihr vor langer Zeit entglitten, damals, als Hannes so plötzlich gestorben war und Irene es in ihrer Trauer nicht schaffte, außer den anstehenden Aufgaben und der Arbeit im Büro auch noch Kraft für Sabine aufzubringen. Und sie hatten beide von Anfang an kein solch herzliches Verhältnis gehabt, wie das bei Sabine und Hannes der Fall gewesen war.
Vater und Tochter waren ein Herz und eine Seele, und Irene war sich oft wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen. Als Hannes dann tot war, hatte Irene das Gefühl, als mache Sabine ihre Mutter für den Verlust des Vaters verantwortlich.
Irene war seit langem schon auf sich allein gestellt und musste alle Entscheidungen und deren Konsequenzen auch allein tragen. Das war anstrengend und zermürbend.
Sie lag im Bett und fror innerlich. Nach einer Weile drehte sie sich auf die Seite, zog die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte in den Schlaf zu finden. Nach einer weiteren halben Stunde war sie immer noch wach und dachte darüber nach, was Carola gesagt hatte. Sie müsse sich äußerlich „aufpeppen“, hatte sie es genannt.
„Warte mal ab, wenn du nicht aussiehst wie weit über fünfzig, wird dein Chef dich anders behandeln.“
Irene hatte da so ihre Zweifel, aber es konnte vielleicht nicht schaden, sich eine andere Haarfarbe zuzulegen und damit gleichzeitig ihre grauen Strähnen vor den Blicken anderer zu verbergen.
Sie war sehr überrascht gewesen, als ihre Bekannten alle freimütig zugegeben hatten, ihre Haare schon länger färben zu lassen bzw. wenigstens Strähnchen in rot oder blond zu tragen.
„Heutzutage bist du doch schon abgeschrieben, wenn du nicht mehr topfit und blutjung aussiehst“, hatte Beate gejammert.
„Und mindestens Größe 36 trägst, wenn nicht gar 34 oder kleiner!“, hatte Monika hinzugefügt, die von den vieren die Pummeligste war.
Also nahm Irene sich vor, in der kommenden Woche einen Termin bei ihrer Friseurin zu vereinbaren.
*
Allerdings war sie montagsmorgens müde, weil sie zu wenig geschlafen hatte und deshalb schlecht gelaunt. Ihr Arbeitstag begann genauso hektisch, wie der Freitag aufgehört hatte: Ihr Chef überhäufte sie mit so viel Arbeit, dass sie während der folgenden drei Tage nicht zum Ausschnaufen kam.
Als sie mittwochs um halb sieben ins Heim hetzte, direkt von der Arbeit, war ihre Mutter schon längst fertig mit ihrem Abendessen und Meike wusch sie bereits.
„Muss sie denn so früh schon ins Bett?“, erkundigte Irene sich erstaunt.
„Mit irgendwem muss ich ja anfangen, sonst werde ich nicht fertig“, bekam sie zur Antwort. „Außerdem hat sie vor über einer Stunde ihre Schlaftabletten bekommen, die wirken schon bald.“ Sie wusch den Lappen aus und hielt ihn Irene hin. „Sie können gerne weitermachen, wenn Sie wollen. Es fehlen nur noch Gesicht und Zähne.“
Irene übernahm die Abendtoilette, während der ihre Mutter irgendetwas vor sich hin brabbelte.
„Mama, mach mal den Mund auf, damit ich dir die Zähne putzen kann.“
Die alte Frau presste stur die blutleeren Lippen aufeinander.
„Aahh!“, sperrte Irene ihren Mund auf, und siehe da, es wirkte. Wie ein kleines Kind imitierte ihre Mutter sie, und Irene wunderte sich einmal wieder, dass die Zweiundachtzigjährige noch all ihre Zähne hatte.
Sie blieb eine halbe Stunde vor dem Bett sitzen, bis ihre Mutter eingeschlafen war, und nahm sich vor, in Zukunft eine Zeitung oder ein Buch mitzubringen, um ihr daraus vorzulesen. Was kleine Kinder beruhigte, wirkte bestimmt bei Alten ebenso.
Als sie zu Hause ihren Briefkasten leerte, lag ein handgeschriebener Zettel darin. „Du hast nicht geöffnet, als ich vorhin da war. Wo steckst du denn? Melde dich, ich habe uns einen Termin bei meiner Kosmetikerin vereinbart. Carola.“
Irene schüttelte den Kopf. Für solch einen Humbug hatte sie im Augenblick keine Zeit; jetzt gab es nur noch ausziehen, rein in die ausgebeulten Lieblingshosen und ein altes Sweatshirt darüber; dann ein Glas Rotwein und den saftigen Döner, den sie sich gekauft hatte.
Sie wischte sich gerade Knoblauchsauce von der Handkante, als eine Dokumentation über „Gesund essen und dabei abnehmen“ anfing. Schon wollte sie umschalten, als eine Frau, die in etwa ihre Figur hatte, erzählte, dass sie dringend ihr Gewicht reduzieren wollte. Irene setzte sich aufrecht hin und hörte zu.
So erfuhr sie, was sie eigentlich schon wusste, sich aber nicht so bewusst gemacht hatte. Nämlich, dass ihr sogenannter BMI außerhalb des akzeptierten Normbereiches lag und sie somit dringend abspecken sollte.
Es folgten Berichte einiger Frauen, die verschiedene Diäten ausprobiert hatten und total glücklich über ihre jeweiligen Gewichtsverluste waren. Und natürlich wollten sie weiter abnehmen, bis sie ihr Idealgewicht erreicht hätten.
Als Irene am nächsten Morgen ihre schwarzen Hosen anzog und den Knopf offenstehen lassen musste, dachte sie, ‚ich wäre schon froh, wenn diese Hose wieder passen würde‘.
Im Laufe des Tages ging ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass sie zumindest versuchen sollte, ein bisschen Gewicht zu verlieren. Wie lange hatte sie schon kein T-Shirt mehr angezogen, das nicht locker über ihren Hüften hing? Enge Shirts in die Hosen stecken konnte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr. Als sie donnerstagsabends einkaufen ging, kaufte sie Karotten und Äpfel; die wollte sie ab jetzt statt Brot in ihrer Mittagspause essen. Und so beschloss sie, ihrem inneren Schweinehund den Kampf anzusagen.