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Kapitel 1: Es ist aus!

Seit ich dem Professor Deutsch beibringe, hinterfrage ich die Dinge, die mir begegnen, nicht mehr. Früher oder später ergeben sie einen Sinn. Aber im letzten Sommer, als ich Annas SMS las, fühlte ich mich vom Schicksal allein gelassen.

Wäre ich nicht so gutgläubig gewesen, hätte ich es vielleicht schon zuvor bemerkt. Zum Beispiel, als ich an einem Mittag im Mai früher nach Hause kam, weil ich mal wieder einen Migräneanfall hatte, wie so oft in letzter Zeit.

Ich ließ den Elfer Grundkurs noch ihre Arbeit in Englisch schreiben. Dann packte ich nach der fünften Stunde meine Tasche und fuhr langsam, weil mein Kopf schon erbarmungslos hämmerte, nach Hause.

Dort angekommen, ließ ich meine Schultasche neben der Garderobe stehen, torkelte ins Schlafzimmer und ins Bett.

Dass mittags der Rollladen noch unten war, registrierte ich nicht. Auch später, als ich mich, über die Toilettenschüssel gebeugt, übergeben musste, fiel mir das dritte gebrauchte Duschtuch, das zusammen mit meinem und dem von Erik auf dem Boden lag, nicht auf. Ich kniete vor der Toilette und würgte meinen Mageninhalt hinein.

Als Erik kurz danach heimkam, lag ich auf der Couch im Wohnzimmer, ein kaltes Gelkissen auf der Stirn, und döste vor mich hin. Allmählich begannen die Tabletten, die ich in der Schule genommen hatte, zu wirken.

Er fragte mich, seit wann ich zu Hause sei. Als ich sagte, ich sei kurz nach 12:30 Uhr heimgekommen, sah er mich erschrocken an, fing sich aber gleich wieder. Danach ging er sofort ins Bad, räumte auf, putzte und stellte eine Maschine Wäsche auf. Und ich war dankbar, dass er ausnahmsweise einmal beim Haushalt mit anpackte.

Da Erik in der Firma, in der er seit acht Monaten als Leiter der Qualitätskontrolle arbeitete, meist die Spätschicht von sechzehn Uhr bis Mitternacht übernahm, hatte er vormittags, wenn ich in der Schule war, prinzipiell Zeit, um einiges im Haushalt zu übernehmen. Denn außer einigermaßen kochen und den einen oder anderen Kuchen backen hasste ich nichts so sehr wie Putzen und Bügeln. Und da wir beide arbeiten gingen, hätte ich es als fair empfunden, wenn er wenigstens einen Teil der Hausarbeit übernommen hätte. Aber außer Müll zu entsorgen und ab und an zu saugen brachte er sich nicht ein.

Ich bereitete dann nachmittags den Unterricht vor und stellte abends noch die gelegentliche Maschine Wäsche auf, aber den Großteil an Hausarbeit musste ich meist an den Wochenenden erledigen.

Erik hatte keine Probleme damit, mich arbeiten zu lassen, während er stundenlang am Computer saß und in irgendwelche Strategiespiele vertieft war.

Allerdings hatte er seit einigen Wochen angefangen, samstags von vierzehn bis achtzehn Uhr eine halbe Schicht zu übernehmen. Einige Kollegen seien krank bzw. in Urlaub, da springe er eben ein. Ich dachte mir nichts dabei, ging einkaufen und nachdem ich geputzt hatte, bereitete ich Tests und Arbeiten vor. Sonntags attackierte ich verbissen die Bügelwäsche, während Erik joggen ging. Das gab er zumindest vor.

Erst später fiel mir auf, dass er selten geduscht hatte, wenn er zurückkam.

Sex hatten wir in letzter Zeit kaum noch. Aber ich dachte, es sei eben darauf zurückzuführen, dass Erik unter der Woche ausschlief, ich jedoch früh aus den Federn musste. Und auf Kommando sonntags morgens Lust auf Sex hatten wir beide selten. So lebten wir mehr oder minder reibungslos und eher gelangweilt nebeneinander her, wie so viele andere Paare auch.

Hätte man mich gefragt, ob ich glücklich war, hätte ich mit den Schultern gezuckt. Was hieß schon „Glück“?

Ich war gesund, hatte ein Dach über dem Kopf, einen Partner, und wenn es wie geplant lief, würden wir auch bald Kinder bekommen und vielleicht irgendwann heiraten.

Aber was ich vor allem anderen wollte, und das schon seit drei Jahren, seit ich mein zweites Staatsexamen in der Tasche hatte, war eine Festanstellung an einem Gymnasium in der Nähe. Bisher hatte ich immer nur Zeitverträge gehabt, die für ein halbes oder ein Jahr galten. Auch in diesem Jahr wies nichts darauf hin, dass sich in dieser Hinsicht etwas zum Besseren wenden würde. Anfang Juli, zu Beginn der Sommerferien, würde mein Zeitvertrag zunächst auslaufen. Und ob ich ab dem nächsten Schuljahr entweder arbeitslos sein würde oder, mit viel Glück, an irgendeiner anderen Schule einen befristeten Zeitvertrag bekäme, würde sich wohl, wie meist, erst einige Tage vor Ende der Ferien ergeben.

Zwar herrschte grundsätzlich Lehrermangel, aber nicht in Englisch und Geschichte. Und genug Geld, um alle benötigten Lehrkräfte zu bezahlen, war auch nicht vorhanden. Also speiste man viele von uns Junglehrern mit Aushilfsstellen ab, die nie länger als maximal ein Schuljahr währten. Vor den Sommerferien war dieser Job dann beendet, was der Regierung ersparte, diese Lehrer über die Ferien bezahlen zu müssen.

*

Von Mai bis Anfang Juni war Korrekturzeit angesagt. Das hieß für Erik, dass ich wochenlang kaum ansprechbar war und praktisch keine Freizeit hatte. Ich saß nachmittags und an den Wochenenden am Schreibtisch und beschäftigte mich mit englischer Grammatik, der Umweltthematik in der Zehnten, dem amerikanischen Traum sowie diversen Epochen der europäischen Geschichte. Mir schwirrte der Kopf von Vokabeln, Grammatikformen und Jahreszahlen, und die Migräneanfälle, die mich seit dem Winter plagten, kamen seit einiger Zeit fast einmal pro Woche.

Korrigieren war zeitintensiv und ermüdend, und wenn Erik dann wenigstens samstags abends mit mir ins Kino oder essen gehen wollte, war ich meist zu müde oder lustlos, weil ich im Geiste die Arbeiten vor mir sah, die sich auf meinem Schreibtisch türmten.

Meine Kollegin Anna, die auch Geschichte unterrichtete, hatte zwar einen Festvertrag, aber nur für eine halbe Stelle. Sie beklagte sich, weil sie gerne eine ganze gehabt hätte.

Immerhin hatte sie wesentlich mehr Freizeit als ich, und ich war mir nicht sicher, ob ich nicht gern mit Anna getauscht hätte. Die Unsicherheit, an jedem Schuljahresende erneut auf eine Anstellung hoffen zu müssen, war zermürbend und irgendwie auch erniedrigend.

Als ich mein Studium begonnen hatte, hatte Lehrermangel geherrscht, und ich war davon überzeugt gewesen, einen krisensicheren Job ausgewählt zu haben. Inzwischen fragte ich mich, ob ich nicht doch hätte eine andere Berufswahl treffen sollen. Obwohl ich einen guten Abschluss hatte, brauchte man offensichtlich meine Arbeitsbereitschaft nicht. Diese Tatsache nagte gewaltig an meinem Selbstbewusstsein.

Als Ende der dritten Juniwoche dann endlich die Zeugniskonferenz stattfand und ich wusste, dass in diesem Schuljahr keine Korrekturen mehr anstehen würden, war ich erleichtert. Prompt, wie so oft, wenn ich mich entspannte, bekam ich während der Konferenz wieder Migräne und am nächsten Tag heftigen Schnupfen.

Ich war wieder einigermaßen fit, als die Schüler der zwölften Stufe in der zweitletzten Woche vor den Ferien auf Studienfahrt gingen, und da ich in einem Zwölfer LK Englisch unterrichtete, hatte mein Kollege Hartmut, der ihnen Französisch beibrachte, mich gefragt, ob ich ihn auf der Fahrt in die Ardèche begleiten würde.

Etliche Schüler würden dort Kanufahren, andere wandern. Da ich keine Lust hatte, im Unterricht Schüler eine Woche lang sinnvoll zu beschäftigen, die so kurz vor den Ferien keinen Bock auf Schule mehr hatten, sagte ich zu.

Eigentlich wäre ich lieber mit Anna nach Madrid gefahren, aber diese Reise kam nicht zustande. Also wurden wir beide auf andere Fahrten aufgeteilt. Letztendlich fuhr Anna überhaupt nicht, da sie einen Hexenschuss hatte – zumindest behauptete sie das einen Tag, bevor es losging.

Ich kam einigermaßen entspannt zurück und freute mich auf eine lässige letzte Unterrichtswoche und, vor allem, auf mehr Zeit mit Erik.

Aber er reagierte seltsam abweisend auf meine Annäherungsversuche, und mir wurde bewusst, dass wir schon seit einigen Wochen nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Ich setzte meine Hoffnung auf den gemeinsamen zweiwöchigen Urlaub, den wir Mitte der Ferien geplant hatten.

Wir wollten einfach Richtung Loiretal fahren, um uns die Schlösser dort anzusehen, und an einem Plätzchen, das uns gefallen würde, bleiben.

*

Am letzten Schultag waren noch einige von uns Kollegen ein Stündchen im nahen Biergarten. Anna saß dabei, ohne sich zu unterhalten, und nippte an einem Glas Orangensaft. Ich dachte bei mir, sie sieht so ferienreif aus wie ich mich fühle. Ich trank eine Rieslingschorle und ging recht beschwingt nach Hause. Jetzt waren erst einmal wohl verdiente Ferien angesagt und ich hatte vor, sie weidlich zu nutzen.

Kurz nach zwölf kam ich in unserer Wohnung an und schenkte mir in der Küche gerade ein Glas Wasser ein, als Eriks Handy vibrierte. Es lag direkt vor mir auf dem Tisch, also schaute ich automatisch auf das Display. Es zeigte das lachende Gesicht von Anna.

‚Nanu‘, dachte ich, ‚was will sie denn von Erik‘? Reflexartig und ohne darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat, las ich die SMS:

„Erik, ruf mich an, sobald du kannst. Ich bin eine Woche drüber …“

Ich starrte auf das Display und las die Nachricht noch einmal, als Erik in die Küche kam, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, die Haare vom Duschen noch feucht und verwuschelt.

„Oh, du bist schon da?“ Er klang nicht begeistert.

Wortlos hielt ich ihm sein Smartphone mit Annas SMS unter die Nase.

Sein Gesicht verfärbte sich und er stammelte: „Lena, hör zu, ich wollte schon länger mit dir reden. Ich kann dir das erklären.“

„Was gibt es da noch zu erklären?“ Ich spürte, wie aus dem Nichts heiße Tränen in mir aufstiegen. „Offensichtlich habe ich nicht gesehen, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Ich hätte allerdings nie für möglich gehalten, dass du mich so schamlos betrügen würdest, und das auch noch mit einer Kollegin. Mein Gott, ausgerechnet mit Anna! Und jetzt hast du sie geschwängert, ja? Na denn, ich wünsche der jungen Familie viel Glück!“

Ich drehte mich abrupt um und rannte ins Schlafzimmer. Dort schloss ich die Tür hinter mir ab, damit er nicht hereinkommen konnte und die Tränen sah, die unkontrolliert über meine Wangen liefen. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht gönnen!

Ich warf mich aufs Bett und heulte. Irgendwann dachte ich: ‚Und was wird jetzt? Natürlich werde ich nicht mit ihm in Urlaub fahren‘. Und reden wollte ich auch nicht mit ihm, das brachte nichts. Er hatte mich betrogen, das konnte ich nicht hinnehmen.

Ich setzte mich auf und mein Blick fiel auf die Kommode, wo das Foto von uns beiden stand, wie wir glücklich in die Kamera lachten, hinter uns türkisfarbenes Meer. Wir hatten uns in unserem ersten gemeinsamen Urlaub auf Kreta fotografieren lassen.

Da wurde mir mit einem Schlag bewusst, dass diese Zeiten der Vergangenheit angehörten. Ich würde mit Erik nie mehr glücklich lachen.

Ich stand auf und wie in Trance begann ich zu packen. Keine Minute länger wollte ich mit einem Mann zusammen sein, der mich betrog und dazu noch mit einer anderen ein Kind bekam, das eigentlich hätte unseres sein sollen.

Ich versuchte krampfhaft, das Bild vor meinem inneren Auge wegzuschieben, das mir gnadenlos Anna zeigte, die lustvoll stöhnend unter Erik lag, sein Kopf in ihren üppigen Brüsten vergraben.

Während ich wahllos Unterwäsche, Shirts und Hosen in meinen Koffer stopfte, hörte ich meine Mutter sagen: ‚Ach Kind, ich hatte mich so darauf gefreut, bald Großmutter zu werden. In deinem Alter wird es langsam Zeit…‘

Dabei wurde mir bewusst, dass ich schon länger nicht mehr mit ihm unbeschwert glücklich war. Ab dann war nur eine Frage in meinem Kopf: „Wie ist das passiert?“ Ich hatte unsere zweijährige Beziehung immer als zufriedenstellend und problemlos eingestuft.

Später, auf der langen Fahrt in den Norden, wurde mir klar, dass „nur zufriedenstellend“ keine optimale Basis für eine gemeinsame Zukunft war. Aber an dem Mittag, als ich packte, konnte ich nicht verstehen, was zwischen uns schief gelaufen war.

Als ich in der Nachttischschublade mein Sparbuch und meinen Ausweis holte, fiel mein Blick auf das Kuvert. Ich hatte es ein Jahr zuvor von meinen Eltern zum Geburtstag bekommen. Sie waren gerade von einer Rundreise durch England zurückgekommen und hatten mir ihre restlichen Pfundnoten, wie sie sagten, geschenkt.

Ohne das Geld zu zählen, hatte ich es in die Schublade gelegt. Schließlich war ich damals auf Arbeitssuche, und in dieser Situation war Urlaub einfach nicht machbar.

Jetzt zählte ich die Scheine und fiel aus allen Wolken, als mir klar wurde, dass ich damit locker vier bis fünf Wochen in Großbritannien hätte verbringen können, wenn ich nicht prasste. Mein Sparbuch wies ein gutes Polster auf, so dass ich damit die Hin- und Rückreisekosten bestreiten und für den Fall, dass ich ab Herbst arbeitslos wäre, mich zumindest einige Monate lang über Wasser halten könnte.

Ich steckte das Kuvert, zusammen mit meinen anderen persönlichen Unterlagen, in meine Handtasche und packte alles Restliche ein.

Erik hämmerte gegen die Schlafzimmertür. „Lena, mach doch auf und lass uns reden!“

„Es gibt nichts mehr zu reden!“, schrie ich zurück.

„Hör zu, wir hatten das nicht geplant. Aber nach der Weihnachtsfeier, an der du früher gegangen bist, habe ich Anna nach Hause gebracht und -“

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Zunächst blieb ich wie angewurzelt stehen, dann ging ich zur Tür und schloss auf. Ich sah Erik aus verweinten Augen an.

„Weihnachtsfeier? Du meinst, das mit euch geht schon seit letztes Jahr im Dezember?“ Er öffnete den Mund, aber ich gab ihm keine Chance, etwas darauf zu erwidern. „Und weder du noch Anna habt es für nötig gehalten, es mir zu sagen?“

„Das wollte ich doch, aber irgendwie schien nie der richtige Zeitpunkt dafür zu sein, und -“

„Für so etwas gibt es keinen richtigen Zeitpunkt, Erik, und das weißt du auch. Mein Gott, wie erbärmlich ihr doch seid! Ihr habt mich nicht nur betrogen, indem ihr miteinander im Bett wart, sondern auch, indem du so getan hast, als sei alles wie immer.“

Ich drehte mich um und ließ ihn stehen. Es war ja noch schlimmer als ich gedacht hatte. Ein halbes Jahr lang schon hatte er mich mit ihr betrogen – jetzt wurde mir allmählich klar, warum wir kaum noch Sex gehabt hatten.

Ich holte meine Kosmetikartikel aus dem Bad, stopfte sie in die Reisetasche und legte zwei Romane obendrauf, die ich am Tag zuvor als Lesestoff für die Frankreichreise bereit gelegt hatte.

Erik war mir gefolgt. „Lena, jetzt dreh doch nicht gleich durch. Wo willst du denn so Hals über Kopf hin?“

Ich fuhr herum. “Das geht dich ab jetzt einen feuchten Du-weißt-schon-was an!“ Ich schnappte mir meine Taschen, hielt ihm meinen Wohnungsschlüssel hin und ging zur Tür. „Meine Bücher und den anderen Kram lasse ich irgendwann abholen!“

Eriks verdattertes Gesicht war mir wenigstens eine kleine Genugtuung. Dabei musste er doch eigentlich dankbar sein, dass ich so spontan das Feld räumte. Schließlich hatten er und Anna jetzt freie Bahn. Andererseits hatte er ab sofort keinen Deppen mehr, der ihm den Haushalt führte, und ich war nicht sicher, ob Anna das tun würde.

Als ich zu der Parallelstraße ging, in der ich am Tag zuvor mein Auto geparkt hatte, sah ich wieder Annas SMS vor mir. „Ich bin eine Woche drüber…“

Das versetzte mir einen Stich. Noch vor einem Jahr hatten Erik und ich beschlossen, spätestens in diesem Frühjahr zu versuchen, ein Baby zu bekommen. Aber wir hatten in letzter Zeit nicht mehr darüber gesprochen. Das fiel mir erst jetzt auf; wieso hatte ich nicht bemerkt, dass wir eigentlich keine richtige Beziehung mehr führten? War ich so auf meine Arbeit in der Schule konzentriert gewesen, dass mein Privatleben kaum noch existent war?

Ich verstaute hektisch mein Gepäck im Kofferraum, dann fuhr ich einfach los. Bewusst hätte ich nicht sagen können, wohin ich eigentlich wollte. Meine Eltern waren zwar noch in Urlaub, aber eine Wohnung hatte ich ab sofort nicht mehr. Also fuhr ich in mein Elternhaus, schlich die Treppe in mein früheres Jugendzimmer hoch und verkroch mich im Bett.

Ich fühlte mich dort wie ein Fremdkörper. Die bunte Bettwäsche, die Poster an den Wänden, der Vorhang mit den Schmetterlingen – war das wirklich einmal ich gewesen? Und wer war ich heute? Eine, die im Frühjahr dreißig geworden war und von ihrem Partner betrogen wurde. Eine, die ihren Lover nicht halten konnte, deshalb hatte er sich eine Andere gesucht. Wieder kamen die Tränen.

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, war ich durstig und hatte mächtigen Hunger.

Ich wusch mir Gesicht und Hände und ging in der Vorratskammer auf die Suche nach etwas Essbarem. Ich befreite eine einsame Salamipizza von ihrem traurigen Dasein in der Tiefkühltruhe. Als ich später darauf herumkaute, dachte ich über meine Optionen nach.

Auf keinen Fall wollte ich länger als nötig hier bleiben. Ich musste raus! Ich hatte mich so sehr auf unseren Urlaub gefreut. Und auf die Ferien. Wenn ich jetzt daran dachte, dass sich endlose sechs Wochen vor mir dehnten, machte sich Verzweiflung in mir breit. Fast jede Kollegin und Freunde, die ich hatte, fuhren irgendwohin. Ich wäre allein und wenn meine Eltern in einer Woche zurückkämen, müsste ich über meine Trennung von Erik reden.

Meine Mutter mochte ihn und würde sicherlich versuchen, mich dazu zu bewegen, noch einmal meinen Spontanentschluss, ihn zu verlassen, zu überdenken. Nein, das würde ich nicht tun.

Ich ging rüber ins Wohnzimmer, erweckte den Fernseher zum Leben und zappte durch ein, zwei Programme. Im Zweiten fing gerade ein Liebesfilm an.

Ich überstand die ersten zehn Minuten, dann liefen wieder die Tränen; dabei hatten sich der Held und die Heldin erst kennengelernt. Sie hatten sich noch nicht einmal geküsst, aber die Art, wie sie sich ansahen, diese aufkeimende Verliebtheit, dieses Gefühl, der andere sei das Beste, was einem passieren könne. Der Puls, der sich beschleunigt, wenn man diesen Menschen auch nur sieht, dieser starke Wunsch, immer in seiner Gegenwart zu sein, egal, was man tut, das gab mir den Rest.

Einige verzweifelte Versuche, mich mit einer Talkshow, einer Gameshow oder einer Komödie abzulenken, gingen gründlich schief. Die Tüte Chips, die ich in einer Schublade im Essraum gefunden hatte, war halb leer und ich hatte zu gar nichts Lust. Doch, ich hätte einiges an die Wand hauen können.

Allmählich baute sich Wut in mir auf. Wie konnte er es wagen? Wer, dachte er denn, war er, dass er so mit mir umspringen konnte? Kurz nach halb zehn strich ich die Segel und ging ins Bett. Ich fühlte mich ausgelaugt, platt und nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Es war schwül in meinem Zimmer. Ich riss das Fenster bis zum Anschlag auf, aber auch das half nichts. Ich warf die Bettdecke auf den Sessel in der Ecke und drehte und wälzte mich.

In Gedanken ließ ich die letzten Wochen Revue passieren. Hatte es irgendwelche Anzeichen dafür gegeben, dass Erik mich betrog? Verhielt Anna sich mir gegenüber anders als zuvor? Naja, wenn ich so darüber nachdachte, war sie etwas zurückhaltender gewesen. Wir waren auch nicht mehr miteinander einen Kaffee trinken oder in eine Kneipe gegangen.

Irgendwann schlief ich dann doch ein. Als ich am nächsten Morgen wach wurde, brauchte ich eine Weile, bis ich wusste, wo ich war und warum. Als die neuerliche Tränenflut versiegt war, schlich ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche.

Das lauwarme Wasser schien einen Teil meines blockierten Gehirns frei zu spülen, denn als ich mich abtrocknete, sah ich plötzlich Bergrücken mit blühendem Heidekraut und Ginster vor meinem inneren Auge. Eine steinerne Kapelle stand inmitten einer graugrünen Landschaft, Schafe kauten gemächlich vor sich hin und von irgendwoher tönte der volle Klang eines Dudelsacks.

Jetzt erinnerte ich mich: Ich hatte nachts von Schottland geträumt. Seit ich vor Jahren eine Dokumentation darüber gesehen hatte, hatte mich die mystische Atmosphäre, die der Film ausstrahlte, in seinen Bann gezogen. Ich wollte unbedingt dorthin, aber Erik wollte nicht. Da sei es kalt und es regne immer.

Ich zog meine Jeans und ein frisches T-Shirt an und während ich mir einen Instantkaffee zubereitete, wurde mir klar, was ich tun wollte – ich würde endlich nach Schottland fahren! Schließlich hatte ich jede Menge Pfundnoten, die darauf warteten, ausgegeben zu werden.

Gestrandet in Nairn

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