Читать книгу Gestrandet in Nairn - Karin Firlus - Страница 9
ОглавлениеKapitel 3: Unerwartetes Angebot
Sie stand an einen alten VW-Bus gelehnt da, den Geruch von Öl und Gummi in der Nase, und wartete. Und fragte sich, wie teuer die Reparatur wohl werden würde.
Wie um ihre selbstkritischen Zweifel noch zu untermauern, tauchte der KFZ-Meister schließlich aus der Motorhaube auf und kratzte sich am Kopf. „Well…“
Er sprach es aus wie „Wehl“. „Ich fürchte, Ihr Weg ist hier erst mal zu Ende. Der Motor macht’s nich mehr!“
Sie hatte sich bestimmt verhört; schließlich kämpfte sie immer noch damit, den schottischen Einschlag dieser Menschen mit dem Englisch in Einklang zu bringen, das sie studiert hatte.
„Was soll das heißen?“, fragte sie nach.
„Na, dass der Motor am Arsch is.“ Er drehte sich zu ihr um und zuckte mit den Schultern. „Die Karre hat ja nu schon einige Meilen auf’m Buckel.“ Er kratzte sich wieder am Ohr. „Und es lohnt sich nich mehr, da noch nen neuen Motor einzubauen.“ Als er ihren schockierten Gesichtsausdruck sah, meinte er: „Naja, ich würd’s nich tun.“
Sie starrte den Mann immer noch an und versuchte krampfhaft zu begreifen, was das bedeutete: Sie hatte keinen fahrbaren Untersatz mehr!
„Und was meinen Sie, soll ich jetzt machen? Ich bin auf einer Rundreise durch Schottland und brauche mein Auto, um in drei Wochen heimzufahren!“
Er zuckte wieder mit den Schultern. „Das können Sie mit dem da vergessen.“ Er zog sich die Handschuhe aus, kam einen Schritt näher und sagte: „Von Nairn aus fährt’n Zug nach Inverness. Von dort aus fahr’n Sie an’en Flughafen in Glasgow oder Edinburgh. Von da fliegen Sie nach Hause, wahrscheinlich wesentlich billiger als wenn Sie heimfahren würden.“
Sie schluckte. So also sollte ihr Schottlandurlaub enden, der kaum angefangen hatte? Sie hatte doch fast nichts von dem Land gesehen, und zurück wollte sie auch noch nicht. Vor allem: wohin zurück? Hier hatte sie keinen Wagen und in Deutschland keine Wohnung mehr.
„Ich will aber hier noch nicht weg.“ Unschlüssig stand sie da. „Und was wird jetzt mit meinem Auto?“
Er schielte hinüber. „Ich nehm’s auseinander; was ich noch brauchen kann, behalte ich, der Rest wird verschrottet. Da verlang ich Ihnen nix für.“ Als Nachsatz fügte er hinzu: „Und ich fahr Sie mit Ihrem Gepäck zu Sally, wenn Sie wolln. Sie hat ne kleine Pension am anderen Ende der Stadt und verlangt nich viel. Da können Sie erst mal unterkriechen und sich in Ruhe überlegen, wie’s weitergeht.“
Sie dankte ihm und nahm sein Angebot an. Sie war frustriert, konnte keinen klaren Gedanken fassen, und für den Augenblick war es wohl das Vernünftigste, erst einmal eine Bleibe für die kommende Nacht zu haben.
*
Sally war seine Schwester, wie sich herausstellte. Die rundliche Mittfünfzigerin führte Lena in ein helles Zimmer im ersten Stock.
Ein bunter Überwurf bedeckte das breite Bett, Schnickschnack zierte die Ablageflächen auf Kommode und Tisch. Der Blick ging auf einen kleinen Balkon und zu Rhododendronbüschen im Garten, die hier so üppig und groß waren wie zu Hause Bäume. Im Hintergrund das Meer – strahlgrau heute, passend zu den grauen Wolkenbänken, die die Sonne verdeckten.
„Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen. Und wenn Sie sich eingerichtet haben, kommen Sie runter. Ich koche uns einen Tee.“
Lena packte Koffer und Reisetasche aus, dann ging sie hinaus auf den Balkon. Es fing an zu regnen und ein frischer, würziger Geruch strömte von den Pflanzen herauf in ihre Nase. Sie atmete tief durch und schloss die Augen.
Vielleicht sollte sie wirklich für ein paar Tage bleiben. Das Zimmer war gemütlich, und während der kurzen Zeit, in der sie hier war, hatte ihre Verzweiflung einer Art Ergebenheit in das Unvermeidliche Platz gemacht.
Sie war von daheim regelrecht geflüchtet und an keinem Ort auf dieser Reise länger als eine Nacht geblieben. Es war an der Zeit, zur Ruhe zu kommen. Den Gedanken daran, dass sie vielleicht bald keine Arbeit, keine Wohnung und jetzt auch kein Auto mehr besaß, schob sie beiseite.
Sally hatte Tee mit Milch und noch warme Scones mit Marmelade auf den Esstisch gestellt. Sie setzte sich zu ihr und fragte Lena, was sie nach Nairn verschlagen hatte.
Lena redete von ihrem kaputten Auto und der geplanten Reise, und ehe sie es sich versah, hatte sie Sally vom abrupten Ende ihrer Beziehung zu Erik erzählt und von ihrer vagen beruflichen Zukunft.
Hinterher fragte sie sich, wieso sie einer Fremden solch persönliche Dinge anvertraut hatte. Vielleicht lag es an Sallys mütterlicher Art oder einfach an der Tatsache, dass sie ruhig dasaß, sie nicht unterbrach und keine Fragen stellte. Oder es war auch nur der Wunsch, überhaupt einmal über ihre Situation zu sprechen, und das mit einem Menschen, den sie bald schon nie wieder sehen würde.
„Und jetzt sitze ich hier fest und weiß nicht, wie es weitergehen soll“, schloss sie ihren Monolog.
Sally seufzte. „Sie fühlen sich im Moment ziemlich entwurzelt und ratlos, will mir scheinen. Und das ist ja nur allzu verständlich, nach dem, was Sie gerade durchmachen müssen. Aber aus solch unerwarteten Ereignissen, wie dem Schaden an Ihrem Wagen und, wenn Sie so wollen, auch dem Ende Ihrer Beziehung, erwachsen uns manchmal Chancen, die wir nicht gehabt hätten, wenn unser Leben wie von uns geplant verlaufen wäre.“
„Sie meinen, dass ich hier gestrandet bin, soll einen tieferen Sinn haben?“ fragte Lena wenig überzeugt.
Sally nickte. „Aye, ich glaube schon. Und nach all dem, was Sie in den letzten Tagen einstecken mussten, erscheint mir diese Zwangspause hier durchaus angebracht. Versuchen Sie doch, nicht über die nächsten Tage und Wochen nachzugrübeln, sondern ruhen Sie sich einfach aus und lassen Sie sich treiben. Leben Sie für den Augenblick, er ist eh alles, was wir haben.“
*
Ihre Worte begleiteten Lena, als sie durch den Ort mit den grauen, alten Häusern in Richtung Meer schlenderte. Hinter dem Golfplatz sah sie grün bewachsene Dünen, die an einem langen, breiten Sandstrand wuchsen.
Trotz des eher trüben Wetters tummelten sich Jung und Alt am und im Wasser. Nairn war wohl eine typische Sommerfrische.
Sie ging bis zum Wasser vor, zog ihre Sandalen aus und tauchte vorsichtig einen Fuß in das seichte Nass. Erschrocken zog sie die Luft ein und den Fuß zurück. Die Nordsee war richtig kalt, und wie die drei Buben weiter vorne in diesem kühlen Nass bis zu den Knien stehen konnten, war ihr ein Rätsel. Aber ihre blauen Lippen und die Gänsehaut auf ihren Armen verrieten, dass ihr Gang ins kalte Wasser eher einer Mutprobe denn einem Schwimmvergnügen gleichkam.
Lena tapste über den festen Sand und genoss die schwachen Sonnenstrahlen, die plötzlich durch die hellgraue Wolkendecke brachen. Gleich nahm das Meer einen hellblauen Farbton an, der Sand wirkte nicht mehr grau, sondern beige. Möwen ließen sich im Wind treiben, die drei Jungs bespritzten sich mit Wasser. Ein Collie zerrte an seinem Halsband, in dem Bemühen, die Möwe zu erhaschen, die einige Meter vor ihm auf einem Haufen Seegras gelandet war, um eine Muschel herauszupicken.
Ein Schwall Wasser spritzte an ihren Waden hoch, als ein gelbroter Ball direkt vor ihren Füßen landete. Sie keuchte auf, als das kühle Nass auf ihre nackten Beine traf. Dann bückte sie sich und warf ihn wieder zu dem Jungen zurück, dem er abhandengekommen war.
Als ein frischer Wind aufkam und die Sonnenstrahlen vertrieb, kehrte sie um. An einem Eisstand kaufte sie sich eine Kugel Erdbeereis, setzte sich auf die Bank vor einem kleinen Supermarkt und schleckte genüsslich. Nachdem sie sich noch eine Flasche Wasser und ein Schinkensandwich für ihr Abendessen gekauft hatte, ging sie zur Pension zurück.
*
Sie war auf der vierten Treppenstufe, als sie Sallys Stimme hinter sich vernahm:
„Lena, warte einen Moment.“
Sie drehte sich zu ihr um.
„Ich darf doch Lena sagen?“ Als die junge Frau nickte, sagte sie: „Ich hab einen Job für dich, wenn du magst.“
Verwundert schaute Lena sie an. „Einen Job?“ Sie kam die Treppe wieder herunter.
Sally nickte heftig. „Naja, eher einen Aushilfsjob, nur für etwa drei Wochen. Aber ich dachte mir, es käme dir durchaus gelegen, wenn du dir ein bisschen was dazu verdienen könntest, oder?“
Zögerlich nickte Lena. Sie hatte zwar keine Lust, in ihrem Urlaub zu arbeiten, aber vom Prinzip her konnte sie im Augenblick jeden Penny brauchen.
Sally ging in die Küche zurück, wo sie offenbar dabei war, Kartoffeln für das Abendessen zu schälen. Lena folgte ihr.
„Meine Nichte Lucy hat sich heftig den Knöchel verstaucht. Sie führt unserem Professor den Haushalt, aber das kann sie ja nun nicht. Sie muss den Fuß schonen und hochlegen, und somit fällt sie für die nächsten Wochen aus.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber der Professor hat doch zwei linke Hände und er braucht jemanden, der ihn bekocht und bewäscht und so weiter.“
Lena hatte nur etwa die Hälfte von Sallys schottischem Wortschwall verstanden.
„Welcher Professor denn? Und wieso kann er sich keine Haushaltshilfe woanders suchen? Ich meine, ich kann natürlich waschen, putzen und auch ein bisschen kochen, aber ich hab sowas noch nie für jemand anderen gemacht.“
„Der Professor ist Gordon McNeil. Er ist sozusagen der einzige Intellektuelle hier am Ort, wenn du weißt, was ich meine. Und so ein bisschen verschroben halt. Wir sind hier nicht ganz zehntausend Leute in Nairn, abgesehen von den Touristen. Und er ist sozusagen unsere lokale Berühmtheit. Er wohnt in dem Herrenhaus da oben am Hang, etwa vierhundert Meter von hier. Er unterrichtet an drei Tagen in der Woche in Inverness an der Uni. Archäologie und irgendso‘n Umweltgedöns, was weiß ich, wie sich das nennt. Ich hab keine Ahnung von dem Kram. Jedenfalls ist er ein netter Kerl, aber er redet nicht viel, ist mit seinem Kopf immer bei seinen Forschungen, weltfremd halt. Hat vor drei Jahren seine Frau verloren, Kinder hat er keine. Und alleine kommt der nicht zurecht. Er stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus, wo ihm die Diener noch den Arsch abgewischt haben.“
Lena stellte sich einen ergrauten, tatterigen Schotten in Flanellhose und dem obligatorischen Tweedblazer vor, der sich alten Ausgrabungen und längst verstorbenen Menschen widmete. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie nicht für ihn arbeiten wollte.
„Tja, Sally, Geld könnte ich zwar in der Tat brauchen. Aber das bisschen, das ich dort als Haushaltshilfe verdienen würde, bringt nicht genug ein, um mir ein gebrauchtes Auto kaufen zu können, und das wäre das Einzige, was mir momentan helfen würde. Außerdem kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, für jemanden zu waschen und zu putzen. Ich bin in Deutschland Lehrerin.“ Als sie Sallys Blick sah, der ausdrückte: ‚Ach, die junge Dame ist sich zu fein für solch niedere Arbeiten‘, setzte sie hinzu: „Versteh mich nicht falsch, das sind wichtige Arbeiten, und ich kümmere mich ja daheim auch selbst um meinen Haushalt. Aber ich bin hierhergekommen, um Abstand von meiner persönlichen Situation zu bekommen und vor allem, um mir dieses herrliche Land anzusehen, nicht um zu arbeiten.“
Sally legte den Kopf schief. „Du sollst ja auch nicht den ganzen Tag lang Böden schrubben und schuften. Das ist eine eher leichte Arbeit. Wenn Lucy wieder fit ist, kann sie gründlich saubermachen. Außer kochen und die gelegentliche Maschine Wäsche aufstellen, müsstest du nicht viel mehr tun. Da hättest du Zeit zum Nachdenken, du könntest an den Strand gehen, lesen und was weiß ich, was dich sonst noch interessiert. Und vielleicht ist Lucy ja auch schon nach zwei Wochen wieder fit. Dann kannst du mit dem verdienten Geld noch ein bisschen länger herumreisen, bevor du wieder heim musst.“ Sie sah Lena nachdenklich an und sagte dann leise: „Wenn du überhaupt zurück musst. Könntest ja ne Zeitlang hier bleiben. Ist ja im Moment nicht gerade so, als würdest du in Deutschland viel aufgeben.“
Lena starrte sie überrascht an. „Ich kann doch nicht einfach so hierbleiben. Von irgendetwas leben müsste ich schließlich. Und als Haushaltshilfe werde ich auf Dauer nicht froh, das kannst du vergessen.“
“Nun, es gibt auch noch andere Jobs. Ich dachte nur, bis du weißt, was du tun willst, könntest du ne Zeit lang hier bleiben. Und es wäre für mich eine große Hilfe. Lucy hat vor einer Stunde angerufen und seitdem versuche ich, eine Lösung zu finden. Müsste ich mich nicht um die Pension kümmern, würde ich es ja selbst machen. Aber morgen kommen Gäste, die kann ich nicht hier allein lassen.“
„Und ab wann müsste ich ihm aushelfen?“
„Na, ab sofort. Er braucht ja heute Abend etwas Warmes zu essen.“ Als sie Lenas zweifelnde Miene sah, fügte sie hinzu: „Es würde schon helfen, wenn du den Job wenigstens heute und morgen tun würdest, zur Probe sozusagen. Wenn es dir gefällt, bleibst du; wenn nicht, hab ich bis dahin bestimmt jemanden gefunden, der für ihn arbeiten wird und vertrauenswürdig genug ist, so dass man sie in dem Haus allein lassen kann, ohne befürchten zu müssen, dass sie klaut.“
„Oh …“ Daran hatte Lena nicht gedacht. Ihr selbst wäre es im Traum nicht eingefallen, dass jemand auf die Idee käme, seinen Arbeitgeber zu bestehlen. Dass Sally ihr diesen Job anbot, bewies, dass sie ihr vertraute. „Naja, heute und morgen … wenn ich dir damit helfen kann, dann könnte ich das tun. Aber ich bin keine große Köchin vor dem Herrn.“
„Na Mädchen, irgendwas Warmes wirst du doch in die Pfanne hauen können. Er ist da nicht wählerisch.“
Lena stand unentschlossen da. ‚Wenn ich nur bis morgen dahin muss, kann ich danach nach Inverness weiterreisen‘, dachte sie. Mit Bus oder Bahn und dem ganzen Gepäck schien ihr das zwar keine besonders reizvolle Aussicht, aber das war wohl nicht zu ändern.
Sally wusch die Kartoffeln unter fließendem Wasser ab, dann begann sie, sie zu länglichen Spalten zu schneiden.
Lena sah zum Fenster hinaus, das zur Straße führte. Eine schwarz-weiß getigerte Katze sprang auf den Zaun hinter einem Apfelbaum. Ihr Augenmerk war auf einen Zweig unter ihr gerichtet, und Lena folgte ihrem Blick, konnte aber keinen Vogel sehen. Vielleicht war dies auch nur der Lieblingsplatz der Katze, weil sie wusste, dass früher oder später irgendeine Art von Beute dort zu erwarten war.
Sie entschied sich. „Okay, ich mach’s, aber erst mal nur bis morgen Abend. Und wann müsste ich los?“
Sally grinste. „Ich danke dir! Und los musst du jetzt.“ Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, dann zog sie sie aus und hängte sie an den Haken hinter der Tür.
„Keine Angst, ich fahre dich hin, und auf dem Weg gehen wir gleich einkaufen. Deine Sachen kannst du hier lassen.“