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Kapitel 1

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Ich hab die Nacht geträumet

Wohl einen schweren Traum.

Es wuchs in meinem Garten

Ein Rosmarienbaum.

Ein Kirchhof war der Garten,

Das Blumenbeet ein Grab.

Und von dem grünen Baume

Fiel Kron’ und Blüten ab.

Die Blüten tät ich sammeln

In einem großen Krug.

Der fiel mir aus den Händen,

Dass er in Stücke schlug.

Draus sah ich Perlen rinnen

Und Tröpflein rosenrot.

Was mag der Traum bedeuten?

Herzliebster, bist du tot?

(Joachim August Zarnack, 1820)

*****

Jonathan blinzelte. Ein kurzer Schauder überlief ihn und dann öffnete er die Augen ganz. Lag minutenlang einfach bewegungslos da, starrte in das Blau des Himmels, ohne etwas richtig wahrzunehmen. Eine leichte Benommenheit beherrschte ihn, als hätte er zu lange und zu tief geschlafen.

Keine Schmerzen.

Keine Kälte.

Kein Gestank.

Seine Gedanken ließen sich nicht festhalten. Wirre Wortfetzen geisterten durch sein Bewusstsein, verschwanden wieder.

Engelchen. Geh nicht fort. Brauch dich. Wir sind nur Gast …

Langsam setzte er sich auf.

Es bereitete ihm Mühe, die einzelnen Bewegungen zu koordinieren, so, als ob sein Körper vergessen hätte, wie man Muskeln und Gelenke gebraucht.

Er sah sich um.

Vor seinem Blick breitete sich eine grüne Wildnis aus. Brombeersträucher, über und über mit weißen Blütentrauben geschmückt, erstickten fast eine Hainbuchenhecke.

Glockenblumen, Margeriten, Ringelblumen und wilde Kamille wiegten sich in einer leichten Brise. Es roch nach Sommer.

Er drehte seinen Kopf, nahm das Bild auf. Es hatte etwas Vertrautes und zugleich gänzlich Fremdes.

Ein sanft ansteigender Hügel, darauf verstreut niedrige Obstbäume, die von meterhohem Gras umarmt wurden.

Sein Blick wurde am Saum des Waldes aufgehalten, der sich hinter der Wiese erhob. Minutenlang betrachtete er das dunkle Grün der Fichten, dicht gedrängt wie eine Wand, versperrte es ihm die Sicht auf das, was dahinter liegen mochte.

Zu seiner linken Seite lugte das verwaschene Weiß einer Hausmauer durch die Wildnis. Vom Schmutz blinde Glastüren starrten ihn an.

Er war zu Hause.

Ein vages Unbehagen beschlich ihn bei dem Gedanken. Zu Hause – das fühlte sich nicht angenehm an.

Warum?

Er durchsuchte vergeblich seine Erinnerung. Da war nur gähnende Leere.

Das Haus duckte sich unter seinen forschenden Blicken, als hätte es ein schlechtes Gewissen.

Er lehnte sich an die raue Rinde des Kastanienbaums, unter dem er eingeschlafen sein musste und schloss die Augen. Das war besser. Nicht zu sehen, nur zu riechen und zu fühlen. Jetzt konnte er die Sonne auf seinem Gesicht spüren, sie tauchte alles hinter seinen geschlossenen Lidern in freundliches Orange. Der Geruch des Grases und der trockenen Erde hatte etwas Heimeliges.

Nun nahm er auch das Summen der Bienen wahr und das Zwitschern der Vögel. Den Gesang der Amseln, die in der Hainbuchenhecke ihr Nest gebaut hatten und das Flöten der Meisen.

Aber etwas fehlt.

Jonathan öffnete die Augen wieder. Ein Schatten war durch seine Gedanken gehuscht und wieder verschwunden, bevor er ihn festhalten konnte.

Wenn er den Kopf leicht zurücklegte, konnte er das Haus hinter den Sträuchern sehen. Es hatte mit einem Mal etwas Lauerndes. Ein Raubtier, zusammengekauert vor dem tödlichen Sprung.

Unwillkürlich hielt er den Atem an.

Der Schatten war wieder da, nahm Gestalt an.

Mina. Paul. Sebastian.

Mina würde zornig auf ihn sein, wenn er den Tag so vertrödelte. Gleich würde sie ihm mit ungeduldiger Stimme Befehle erteilen.

Welcher Tag war heute? Samstag? Nein, das konnte nicht sein. Er hätte sonst Pauls Hämmern gehört, wenn der wieder einmal dabei war, eine schadhafte Stelle irgendwo auszubessern.

Aber er hätte Sebastians Radio hören müssen, das im Schuppen plärrte, während er mit endlosen Reparaturen an seinem Auto beschäftigt war. Sebastian war immer zu Hause, er ging nicht zur Arbeit.

Doch es blieb still.

Sebastian, Paul und Mina waren nicht da. Er war allein.

Die Erkenntnis breitete sich langsam in ihm aus, ließ ihn frösteln.

Sie sollten hier sein, hier waren sie alle zu Hause. Irgendjemand war immer da, beobachtete ihn, erteilte ihm Aufträge, fügte ihm Schmerzen zu.

Schmerzen.

Eine Wand schob sich vor seine Gedanken als stünde er vor einer verschlossenen Tür. In seinen Erinnerungen klaffte ein schwarzes Loch.

Jonathan betrachtete das Haus mit den verblichenen, grünen Fensterläden und dem abbröckelnden Putz. Die Glastüren, die in den Garten führten und ihn jetzt blind und vorwurfsvoll anstarrten. Zwischen den Pflastersteinen wuchs Unkraut. Den Gemüsegarten überwucherten Brennnesseln.

Mina hätte etwas dagegen getan. Sie hatte immer alles penibel in Ordnung gehalten.

Wie lange habe ich geschlafen?

Wann sind sie gegangen?

Warum haben sie mich zurückgelassen?

Ihm fehlte jegliches Zeitgefühl.

Zögernd stand er auf, starrte noch immer auf das Haus, setzte sich langsam in Bewegung. Er musste bewusst daran denken, den Fuß zu heben, ihn wieder abzusetzen, es mit dem anderen Fuß auch so zu machen.

Aber es fiel ihm leichter, je länger er sich bewegte. Fast so wie in seiner Kindheit, wenn er nach einem langen Winter zum ersten Mal wieder auf sein Rad stieg.

Jonathan blieb stehen und betrachtete das Pflaster zu seinen Füßen.

Radfahren hatte früher zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Über die Zufahrt den Hügel hinunter zu rasen, für einen Moment das Gefühl von Freiheit zu verspüren.

Jetzt bereitete ihm selbst die leichte Steigung hinauf zur Eingangstür Schwierigkeiten. Er begann unkontrolliert zu atmen, holte mehr Luft, als er brauchte. Vor seinen Augen flimmerten grelle Schlangen aus Licht.

Erschöpft blieb er vor der Eingangstür stehen, atmete langsam ein und aus.

Sein Herz flatterte in der Brust wie ein eingesperrter Vogel.

Aber das Erstaunlichste war noch immer, dass die Schmerzen verschwunden waren.

Welche Schmerzen?

Aufmerksam betrachtete er die Fassade des Hauses. Die Farbe blätterte von der Haustür ab, die Oberlichte war verstaubt und voller Spinnweben. Mina musste schon lange fort sein, sie hätte das sicher nicht geduldet.

Jonathan hob die Hand, aber er drückte nicht auf die Klinke.

Verblüfft sah er auf seine Finger, die noch immer unschlüssig in der Luft schwebten. Sie kamen ihm vor, als würden sie nicht zu ihm gehören, als wären sie ein angefügtes Teil seines Körpers, das eigenen Gesetzen unterworfen war.

Sachte legte er die Hand auf die Türklinke.

Ein Abgrund tat sich vor ihm auf, kaltes, schwarzes Grauen. Jonathan schnappte nach Luft, röchelte. Etwas schnürte seine Kehle zu. Er ging in die Knie, hielt sich am Türstock fest. Versuchte zu schlucken, diesen Knoten im Hals loszuwerden, aber es funktionierte nicht.

Vor seinen Augen tanzten feurige Punkte, drehten sich im Kreis.

Langsam sank er auf die Stufen vor der Haustür, stützte sich mit beiden Händen ab. Blind tastete er um sich, fühlte den von der Sonne erhitzten Stein unter seinen Fingern. Er umklammerte eine Stufe, das feste Material gab ihm Halt, denn noch immer hielt ihn diese alles umfassende Angst gefangen wie in einem klebrigen Spinnennetz.

Konzentrieren auf den Atemrhythmus ... alles ist gut … keine Angst … nur eine Panikattacke. Ich werde nicht sterben.

Ausatmen. Einatmen. Ausatmen …

Die Angst wich langsam, machte einer lähmenden Erschöpfung Platz.

Er legte den Kopf auf die Knie. Überließ sich der gähnenden Leere, die sich in seinem Inneren ausbreitete.

Nach einer Weile erhob sich Jonathan, noch ein wenig schwankend.

Er würde später in das Haus gehen. Jetzt konnte er es noch nicht.

Wir sind nur Gast auf Erden

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