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Kapitel 4
ОглавлениеLinz an der Donau, Oberösterreich - April 1985
Jonathan stocherte ungeduldig in seinem Salat herum. Nur mit halbem Ohr hörte er dem Disput seiner Eltern zu. Aus dem gereizten Tonfall war zu schließen, dass es wie so oft um Onkel Paul ging.
„Er hat also wieder einen deiner Briefe zurückgeschickt? Warum lässt du es nicht endlich? Jahrelang schon versuchst du einzulenken und es nützt überhaupt nichts“, meinte Jonathans Vater ärgerlich. „Dieser unsinnige Familienzwist zehrt viel zu lange schon an unseren Nerven. Und alles wegen dieser mickrigen Erbschaft.“
„Ich weiß.“ Die Stimme seiner Mutter klang leise und sehr müde. „Aber er ist nun einmal mein Bruder. Und nur wegen eines dummen Missverständnisses ist er seit Jahren eingeschnappt. Wie oft habe ich schon versucht, ihn anzurufen? Er wimmelt mich einfach ab. Er gibt mir nicht die geringste Chance, ihm alles zu erklären!“
Jonathan sah, dass seine Mutter mit den Tränen kämpfte. Auch das war nichts Neues. Sie weinte fast immer, wenn sie wegen Onkel Paul stritten.
Jonathan interessierte das alles nicht wirklich. Er legte die Gabel beiseite. „Ich geh jetzt spielen.“
Sein Vater hielt ihn auf. „Hast du die Hausaufgaben schon gemacht?“
Jonathan nickte.
„Du gehst aber nur in den Hof hinunter. Keine Spazierfahrten.“
Wieder nickte Jonathan. „Klar. Kann ich auch gar nicht. Mein Fahrrad ist ja kaputt. – Ähm – könnte ich nicht doch schon jetzt ein neues kriegen?“
Sein Vater hob die Augenbrauen. „Du weißt, was wir besprochen haben. Das neue Fahrrad gibt es erst zu deinem Geburtstag.“
„Aber – das ist doch blöd! Ich will jetzt Radfahren. Nicht erst in tausend Jahren! Außerdem fahren alle aus meiner Klasse schon allein – nur ich darf nicht!“
Jonathan stampfte mit dem Fuß auf. „Das ist so ungerecht! Und alles nur wegen dieses dummen Unfalls. Was kann ich dafür, dass genau an der Stelle, wo ich bremsen musste, noch Streusplitt lag! Mir ist ja gar nichts passiert!“
Sein Vater funkelte ihn an. „Ich habe diese Diskussionen satt! Du warst sehr leichtsinnig und das zeigt mir, dass du noch nicht reif genug für den Straßenverkehr bist. Ich kann dich also nicht alleine zur Schule fahren lassen! Und damit möchte ich jetzt dieses Thema ein für allemal abhaken!“
„Du bist gemein! Ihr seid beide gemein! Ihr behandelt mich, als wäre ich noch ein Baby! Ich bin fast zehn!“
Jonathan rannte aus der Küche und schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu.
Er warf sich auf sein Bett und schlug mit der Faust auf die Matratze.
„Noch einen ganzen langen Monat muss ich auf meinen Geburtstag warten! Als ob das so viel ausmachen würde, wenn ich das Fahrrad jetzt schon bekomme. Papa ist einfach ekelhaft!“
Er setzte sich auf, musterte finster die Tapete an der Wand. Teddybären marschierten in einer Reihe. Jonathan hatte einigen von ihnen mit schwarzem Filzstift Hüte und Schnurrbärte gemalt.
Die anderen werden mich auslachen, wenn ich zu Fuß zur Schule komme. Vor allem Fred, dieser Knallkopf!
Ein leises Klopfen schreckte ihn aus seinen düsteren Gedanken. Seine Mutter streckte den Kopf zur Tür herein. „Möchtest du mitfahren? Wir müssen noch einkaufen.“
„Nein“, fauchte er. „Lass mich einfach in Ruhe!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Wir kommen in spätestens zwei Stunden wieder.“
„Verschwindet doch und kommt nie wieder“, knurrte Jonathan. Aber erst, als er sicher war, dass seine Mutter es nicht mehr hören konnte.
Die Lust, im Hof zu spielen, war ihm gründlich vergangen. Er verbrachte eine ganze Weile damit, einfach nur trübsinnig aus dem Fenster zu starren.
Das Wetter hatte gewechselt. Jetzt regnete es und dicke Tropfen klatschten an die Fensterscheiben. Jonathan beobachtete wie sie auf das Glas trafen und in dünnen Rinnsalen die Scheibe hinunterliefen. Er fuhr die Spuren mit dem Finger nach. Wenigstens war seine Mutter nicht hier, um mit ihm zu schimpfen, weil er die Fenster beschmutzte.
„Eltern!“, sagte er zu Micky. Die weiße Maus saß in ihrem Käfig und beobachtete ihn aus roten Knopfaugen. „Immer haben sie etwas auszusetzen oder zu kommandieren. Wie einfacher wäre es, wenn sie nicht mehr da wären.“
Die Vorstellung jagte ihm einen kribbelnden Schauder über den Rücken und in seinem Magen breitete sich ein leises Ziehen aus.
Dann könnte ich immer tun, wozu ich gerade Lust habe.
Er stand auf und schlich in die Küche. Das Ticken der Wanduhr klang überlaut in der Stille.
Langsam zog Jonathan die verbotene Lade mit den Süßigkeiten auf. Eine angebrochene Tafel Milchschokolade lag darin. Er brach eine Rippe ab – nur eine. Mama würde das nicht merken. Und er tat das auch nur, weil seine Wut so groß war.
Aber die Schokolade schmeckte ihm nicht. Er legte den Rest zurück in die Lade, stieß sie mit einem Ruck zu und ging zurück in sein Zimmer.
Der Zeiger auf seinem Micky-Maus-Wecker war gerade einmal um fünf Minuten weiter gerückt.
Jonathan nahm eines seiner Fünf-Freunde-Bücher vom Regal über dem Bett und blätterte darin. Die Geschichte war ihm zwar schon bekannt, aber trotzdem vertiefte er sich erneut darin.
Als er das nächste Mal auf seinen Wecker sah, war eine Stunde vergangen.
Zehn vor vier.
Um diese Zeit lief immer die „Sesamstraße“.
Er schlurfte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an.
Nach der „Sesamstraße“ kamen der „Rosarote Panther“ und dann „Familie Feuerstein.“
Normalerweise musste danach der Fernseher ausgeschaltet werden. Aber diesmal war niemand hier, der ihm dies befahl.
Er sah sich noch die Hitparade an, obwohl sie ihn überhaupt nicht interessierte.
Sein Magen knurrte laut.
Sechs Uhr. Um diese Zeit gab es immer Abendessen.
Papa und Mama hätten längst zurück sein müssen. Sie verspäteten sich nie wesentlich, besonders dann nicht, wenn Jonathan alleine zu Hause blieb.
Er schaltete den Fernseher ab und starrte beunruhigt auf die Uhr. Was sollte er tun?
Sollte er zu Frau Rotter nebenan gehen und sie fragen, ob sie ihm etwas zu essen machen konnte? Oder lieber doch nicht. Frau Rotter würde es bestimmt seiner Mutter erzählen und das war einfach nur peinlich.
Es klingelte an der Tür.
Jonathan zuckte zusammen. Waren das seine Eltern? Aber sie hätten nicht geläutet sondern den Schlüssel benützt.
Er lief zur Tür, linste durch den Spion.
Mach niemandem auf, wenn du alleine bist. Vergewissere dich, wer vor der Tür steht.
Es waren nicht Mama und Papa, sondern die Nachbarin, Frau Rotter. Und ein Polizist.
„Jonathan? Bist du da?“ Frau Rotters Stimme klang seltsam dünn. Aber vielleicht lag das auch daran, dass sie durch die Tür sprach.
Er öffnete.
Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte es an ihren Gesichtern sehen.
Frau Rotter legte die Hand auf seine Schulter. Das hatte sie noch nie gemacht. Jonathan wich ein wenig zurück.
„Dürfen wir hereinkommen?“ Der Polizist musterte ihn ernst.
Jonathan nickte und führte sie in die Küche.
Schon wieder sahen sie ihn so merkwürdig an.
Der Polizist räusperte sich. „Jonathan. Du musst jetzt ganz stark sein. Es – es ist etwas sehr, sehr Schlimmes geschehen.“
„Was?“ Er verstand nicht.
„Deine Eltern sind doch weggefahren, nicht wahr?“
„Ja. Sie – sie sollten eigentlich schon hier sein.“
Werden sie mir jetzt sagen, dass sie nicht mehr wiederkommen?
Nein – das kann nicht sein. Ich habe das doch nicht ernst gemeint.
In Jonathans Hals saß plötzlich ein dicker Kloß. Er schluckte krampfhaft, aber der Kloß verschwand einfach nicht.
„Was ist mit Mama und Papa?“ Seine Stimme hörte sich fremd an.
„Sie hatten einen Unfall mit dem Auto. Die Straße war nass und dein Vater konnte nicht mehr schnell genug bremsen.“
Jonathan schluckte krampfhaft. Der Kloß wanderte in seinen Magen, ballte sich dort zusammen. „Haben – haben sie sich wehgetan?“
Der Polizist und Frau Rotter schüttelten den Kopf. „Nein“, sagte der Polizist. „Es tut mir so leid. Sie – sie sind gestorben. Es ging ganz schnell. Niemand konnte mehr etwas für sie tun.“
Der Kloß explodierte und breitete sich heiß in seinem ganzen Körper aus. „Das – das – glaube – ich – ich nicht“, hörte er sich selbst stammeln.
Frau Rotter legte wieder die Hand auf seine Schulter, aber er spürte es nicht. Sein ganzer Körper war taub und in seinem Kopf herrschte dunkle Leere.
Eine Woche später
Die Scheibenwischer des kleinen Fiats vermochten die strömenden Wassermassen kaum mehr zu bewältigen. Jonathan folgte ihren Bewegungen mit den Augen, bis er schwindlig wurde und die Augen schließen musste. So viel Regen. Vielleicht so viel, dass Frau Papst auch einen Unfall hatte und er dann auch sterben konnte. So wie Mama und Papa.
Die Frau vom Jugendamt, die das Auto lenkte, starrte konzentriert in die regennasse Dämmerung hinaus. Die Stille lastete schwer auf dem Jungen.
Vor einer Ewigkeit waren sie losgefahren. Nach Kirchweg, zu Onkel Paul und Tante Mina.
Seine neue Familie.
„Sie wohnen in einem kleinen Haus mitten im Grünen“, sagte Frau Papst vom Jugendamt. „Sie haben einen Sohn namens Sebastian, der zwölf ist, also zwei Jahre älter als du. Das ist doch schön. Dann hast du einen Spielkameraden und du bist nicht mehr allein. Und jetzt sind Osterferien, du hast also noch Zeit, dich einzugewöhnen, bevor die Schule wieder anfängt.“
Das alles erzählte Frau Papst bestimmt schon zum dritten Mal, während sie ihr Auto durch den Stadtverkehr lenkte und die vertraute Umgebung aus Jonathans Blickfeld verschwand.
„Leider kann dich deine neue Familie nicht abholen“, sprach sie weiter. „Onkel Paul kommt erst sehr spät von der Arbeit nach Hause und Tante Mina kann nicht Auto fahren.“
Er kannte Tante Mina und Onkel Paul nicht, hatte sie nie gesehen. Sie waren nicht einmal zum Begräbnis seiner Eltern gekommen.
Familienzwist, hatte Papa gesagt.
Jonathan wusste nicht, was das bedeutete. Aber es musste etwas Schlimmes sein, so wie er dabei ausgesehen hatte. Und Onkel Paul hatte Mamas Briefe einfach zurückgeschickt, ohne sie zu lesen.
Während der Fahrt warf Frau Papst ihm ab und zu mitleidige Blicke zu. Jonathan tat so, als würde er sie nicht bemerken, starrte einfach auf die Straße und umklammerte den Käfig auf seinem Schoß, in dem sich Micky befand. Das Tier duckte sich furchtsam in eine Ecke.
Er hätte am liebsten mit Micky gezittert, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Du musst jetzt tapfer sein.
Alle hatten das gesagt. Immer und immer wieder. Also versuchte er es.
Je weiter sie fuhren, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er kein Zuhause mehr
hatte.
Vater und Mutter gibt es nicht mehr. Sie sind tot. Gestorben bei einem Autounfall. Es ist meine Schuld. Schließlich habe ich mir gewünscht, dass sie verschwinden sollen.
Nur wegen dem blöden Fahrrad!
Gott ist bestimmt jetzt böse auf mich. Weil ich meine Eltern weggewünscht habe. Gott weiß alles und er hat mich bestraft.
Er lässt mich nicht sterben. Frau Papst fährt ganz langsam.
Es war schon dunkel, als sie das Haus der Klamms erreichten. Sein neues Zuhause lag ziemlich abgelegen auf einem Hügel und Jonathan kam sich nun gänzlich verloren und verlassen vor.
Er zitterte, nicht nur vor Kälte, als er aus dem Auto stieg. Frau Papst holte seinen Koffer aus dem Wagen und läutete an der Tür.
Tante Mina öffnete. Sie war klein und dünn, trug eine bunte Kleiderschürze. Der Geruch von gekochten Kartoffeln drang aus der Küche. Seine Tante reichte ihm eine feuchte, heiße Hand und musterte ihn mit verbissenem Gesichtsausdruck. „Onkel Paul kommt später“, erklärte sie mit leiser Stimme.
Es klang, als wäre sie froh darüber.
Sebastian tauchte auf und starrte ihn neugierig an. Er war mindestens um einen Kopf größer als Jonathan, aber sehr dünn. Sein blasses Gesicht war mit vielen Sommersprossen übersät. Jonathan betrachtete fasziniert seine abstehenden Ohren. Im Licht, das aus der Küche fiel, wirkten sie durchscheinend.
Sebastians blaue Augen musterten ihn. Jonathan mochte diesen Blick nicht, weil er ihm das Gefühl gab, als sähe der große Junge bis in den letzten Winkel seines Körpers. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sebastian hatte sich bereits abgewandt und begutachtete den Inhalt von Jonathans Käfig.
„Oh, eine Maus!“, sagte er lächelnd. Sein Finger bohrte sich durch das Gitter. Micky drückte sich ängstlich in eine Ecke. Ein kleines, weißes Fellbündel, das vor Angst zitterte.
„Sie mag Fremde nicht“, erklärte Jonathan und presste den Käfig schützend an sich.
Tante Mina sagte nichts und warf ihm nur einen ausdruckslosen Blick zu.
Frau Papst strich Jonathan zum Abschied flüchtig über das Haar und das hätte ihn beinahe zum Weinen gebracht. Aber er schluckte die Tränen tapfer hinunter.
Jetzt bin ich ganz allein.
Nach dem Abendessen, das aus Kartoffeln und Spinat bestand, zeigte Tante Mina ihm sein Zimmer. Eine Kammer im oberen Stockwerk, die auf einer Seite noch durch die Dachschräge verkleinert wurde.
Es gab einen Kasten, ein Messingbett und eine Nachtkommode. Eine nackte Glühbirne erhellte nur spärlich das düstere Zimmer.
Jonathan kroch unter die klammfeuchte Decke und starrte auf die Glühbirne, bis seine Augen schmerzten.
„Licht aus!“, fauchte die Stimme Tante Minas vor der Tür. „Wir müssen sparen, jetzt, wo wir noch ein zusätzliches Maul zu stopfen haben!“
Er knipste mit zitternden Fingern das Licht aus. Die Dunkelheit fiel über ihn her wie ein Tier, das seinen dunklen, gefräßigen Schlund aufsperrte, um ihn zu verschlingen.
Er musste doch eingeschlafen sein, denn später weckten ihn laute Stimmen.
Jonathan riss die Augen auf und fand sich im ersten Moment nicht zurecht. Unter der Tür stahl sich ein dünner Lichtfaden in sein Zimmer.
Die Stimmen kamen aus dem Erdgeschoß. Ein Mann und eine Frau. Aber er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Die Frau kreischte. Etwas polterte zu Boden. Jonathans Herz klopfte wild. Er zog die Decke über seinen Kopf und lag mit angehaltenem Atem ganz still.
Schwere Schritte stampften die Treppe herauf, eine Tür wurde geöffnet und wieder zugeworfen.
Jetzt dröhnte die Stimme im Zimmer nebenan weiter. Und nun konnte Jonathan auch verstehen, was der Mann – es musste Onkel Paul sein – sagte.
„Dummes Weibsstück. Was stehst du da herum? Steif wie ein Besenstiel!“
Die Antwort Tante Minas war nicht zu verstehen.
Daraufhin hörte Jonathan einen dumpfen Schlag und das unterdrückte Stöhnen Tante Minas.
Mit weit aufgerissenen Augen lauschte er in die Dunkelheit. Am liebsten hätte er sich so winzig klein wie Micky gemacht, um unbemerkt verschwinden zu können.
Aus dem Nebenraum war unterdrücktes Schluchzen zu vernehmen.
„Was flennst du? Das hast du dir nur selbst zuzuschreiben!“ Onkel Pauls Stimme hallte durch die dünne Wand und Jonathan glaubte zu spüren, wie auch die Mauer zitterte.
Wieder hörte er merkwürdige Geräusche. Dumpfes Poltern, ein Rascheln. Jonathan bemühte sich vergeblich, dem Ganzen eine Bedeutung zu geben.
Er schöpfte tief Luft. In seiner Brust pochte ein stechender Schmerz. Zu lange hatte er schon den Atem angehalten. Seine Hände krampften sich um die Bettdecke.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Krabbelte aus dem Bett, schlich auf die Tür zu, öffnete sie einen Spalt und warf einen Blick auf den Flur.
Vor der Schlafzimmertür kauerte Sebastian. Sein Cousin bemerkte ihn nicht. Der große Junge starrte wie gebannt durch einen Spalt der Tür auf das, was sich darin abspielte.
„Du musst wieder einmal gehörig durchgefickt werden, damit du weißt, wer der Herr im Haus ist!“
Leises Schluchzen.
„Du könntest ruhig ein wenig entgegenkommender sein! Glotz mich nicht so an!“
Onkel Paul keuchte laut.
Sebastian öffnete die Tür noch ein bisschen weiter, um ja nichts zu verpassen.
Jonathan starrte wie betäubt auf seinen Cousin.
Was macht er da? Warum belauscht er seine Eltern? Was tun sie? Und was heißt ficken?
Eine Gänsehaut überrieselte ihn. Es musste auf jeden Fall etwas Schlimmes sein.
Leise schloss er die Tür und schlüpfte in sein Bett zurück. Zog seine Füße an, die sich mittlerweile in eiskalte Klumpen verwandelt hatten.
Aus dem Nebenzimmer war ein rhythmisches Quietschen zu hören, dann leise, unterdrückte Schmerzensschreie.
Jonathan kniff die Augen zu und legte seine Hände auf die Ohren.
Ich will hier weg! Ich will nur hier weg, bitte, bitte!
*****
Am nächsten Morgen wurde er durch die Strahlen der Sonne geweckt, die durch das Fenster fielen.
Minutenlang lag er im Bett und starrte an die Decke. Genau über seinem Kopf war ein Fleck, der aussah wie ein Drache mit riesigem, weit aufgesperrtem Maul.
Der Drache würde ihn verschlingen!
Schnell hüpfte er aus dem Bett.
Sein erster Blick galt Micky. Die Maus huschte unruhig im Käfig umher. Ihm fiel ein, dass er ihr gestern Abend nichts mehr zu fressen gegeben hatte.
Die Klamms waren schon aufgestanden, denn im Erdgeschoß war das Klappern von Geschirr zu hören. Und Onkel Pauls laute Stimme.
Etwas Heißes überflutete Jonathan.
Angst.
Die Tür wurde aufgerissen und er zuckte zusammen. „Komm, los, zieh dich an! Es gibt Frühstück! Wenn du zu spät kommst, kriegst du nichts mehr!“
Sebastian stand auf der Türschwelle, musterte ihn wieder mit diesem durchdringenden, neugierigen Blick. Es war der gleiche Blick, mit dem er gestern Nacht durch den Türspalt in das Schlafzimmer seiner Eltern gesehen hatte.
Jonathan beeilte sich, seine Kleider anzuziehen. Es war ihm peinlich, dass Sebastian ihm dabei zusah, aber der machte keine Anstalten, ihn alleine zu lassen.
„Du hast ja Jeanshosen“, meinte der ältere Junge bewundernd.
Jonathan hielt den Atem an, als Sebastian mit dem Finger über seinen Oberschenkel fuhr. „Ich krieg keine. Die sind zu teuer, die können wir uns nicht leisten. Mama näht meine Hosen. Schade, dass du kleiner bist als ich, sonst könntest du sie mir borgen.“
Jonathan schüttelte sich innerlich. Was für eine merkwürdige Vorstellung! Er würde doch nicht seine Hosen an jemanden verleihen!
Mit klopfendem Herzen folgte Jonathan seinem Cousin die Treppe hinunter in die Küche.
Onkel Paul saß am Tisch. Jonathan starrte ihn überrascht an. Zuerst hatte er geglaubt, er müsse seiner Mutter ähnlich sehen, da er ja ihr Bruder war. Und nach den nächtlichen Geräuschen hatte er sich Onkel Paul als großen, bösen Riesen vorgestellt.
Aber Onkel Paul war nicht so besonders groß und eher hager. Mit seinen dunklen Haaren und den abstehenden Ohren sah er wie ein erwachsener Sebastian aus.
Als Jonathan hinter seinem Cousin die Küche betrat, hob Onkel Paul den Kopf und musterte ihn mit hartem Blick, ohne ein Wort zu sagen.
Tante Mina ging mit steifen Bewegungen zwischen Anrichte und Herd hin und her, stellte Teller auf den Tisch.
„Setzt euch“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Du dahin.“ Ihr dünner Finger wies auf einen Stuhl. Jonathan setzte sich folgsam.
„Hol dir einen Teller“, knurrte Paul.
Mina zuckte zusammen und stöhnte leise. Jonathan dachte daran, was er letzte Nacht gehört hatte.
Onkel Paul hatte Tante Mina wehgetan.
Jetzt fasste der Mann Minas Handgelenk. „Ich meinte nicht dich, dumme Kuh. Der verwöhnte Bengel kann sich sein Frühstück ruhig selber machen.“
Jonathan schluckte. Er warf Sebastian einen hilflosen Blick zu.
„Ich zeig dir, wo du alles findest“, flüsterte sein Cousin.
Jonathan lächelte ihn dankbar an.
Ohne Appetit würgte er unter den wachsamen Blicken der Familie Klamm schließlich ein Häuflein klebrigen Haferbrei hinunter.
„Wirst dich an eine weniger feine Kost gewöhnen müssen. Wir haben nicht so viel Geld wie die Stadtpinkel“, war der abschließende Kommentar von Onkel Paul.
Jonathan starrte ihn verständnislos an.
„Glotz nicht so blöd. Du weißt bestimmt, worum es geht. Deine Mutter war sich ja immer zu fein für uns. Und jetzt hebt eure faulen Ärsche! Ihr könnt euch im Garten nützlich machen!“
Jonathan fand gerade noch genug Zeit, um ein kleines Stück Brot einzustecken und es seiner Maus zu bringen. Schnell schlüpfte er in die Gummistiefel, die Sebastian ihm hinstellte.
Er hatte noch nie so einen riesigen Garten gesehen. Mit offenem Mund starrte er auf die zahlreichen Obstbäume und die vielen Beete.
Ein derber Stoß in den Rücken riss ihn aus seinem Staunen. „Los, komm! Nimm den Spaten. Wir müssen die Beete umstechen“, flüsterte Sebastian. „Und Mama will, dass wir die Kartoffeln setzen.“
Der Kartoffelacker war eine große Fläche brauner Erde, die sich bis zum Waldrand erstreckte. Jonathan erschien sie unendlich, und je länger er die ungewohnte Arbeit tun musste, desto größer kam sie ihm vor.
Bis Mittag hatten die Jungen zwei Reihen geschafft. Sämtliche Muskeln und Knochen in Jonathans Körper schmerzten.
„Los, ab ins Haus – Hände waschen und zu Tisch“, knurrte Onkel Paul. Es waren die ersten Worte, die er an die Jungen richtete, seit sie nach dem Frühstück den Garten betreten hatten.
Es gab Blutwurst mit Bratkartoffeln. Jonathan starrte misstrauisch auf den Teller und stocherte vorsichtig an der Wurst. Die Haut war hart und ließ sich nicht durchstechen.
„Wenn du das nicht magst, nehme ich es.“ Sebastian zog blitzschnell Jonathans Teller weg und kippte ihn über seinen eigenen.
Unter Pauls starrem Blick machte Jonathan sich ganz klein. „Eines sag ich dir“, schnarrte sein Onkel. „Du wirst mit dem vorlieb nehmen müssen, was bei uns auf den Tisch kommt. Ist es dir nicht gut genug, kriegst du eben nichts.“
Jonathan saß ganz still da. Sein Herz hämmerte wild und in seinem Bauch ballte sich wieder dieser große Klumpen zusammen, den er schon so gut kannte. Er hatte jetzt ohnehin keinen Hunger mehr.
Die Klamms beendeten ihre Mahlzeit schweigend.
Als sie die Küche verließen, steckte Sebastian ihm heimlich ein Stück Brot zu. „Dafür hab ich etwas bei dir gut“, flüsterte sein Cousin. Jonathan nickte mechanisch. Der Klumpen in seinem Bauch hatte sich in einen merkwürdig brennenden Schmerz verwandelt, der Tränen in seine Augen stiegen ließ. Er wischte sie verstohlen ab.
Weinen half bestimmt nicht.
Als Jonathan am Abend den Kasten öffnete, um einen Pyjama herauszuholen, waren alle seine Kleider verschwunden. Stattdessen lagen da die Stoffhosen und Hemden, die auch Sebastian trug.
Minutenlang starrte er auf den sorgfältig geschlichteten Stapel, ohne etwas wirklich wahrzunehmen. Dann weinte er doch.
Die Osterferien verbrachten die Jungen fast ausschließlich im Garten. Bis zum Ende der Ferien waren der Kartoffelacker bestellt und die Gemüsebeete zur Bebauung vorbereitet.
Ein Osternest gab es nicht. „Reine Verschwendung, so ein Blödsinn“, knurrte Onkel Paul und warf Jonathan einen finsteren Blick zu. Auch zur Kirche gingen sie nicht. „Die ziehen einem nur das schwer verdiente Geld aus der Tasche“, war Onkel Pauls Kommentar dazu.
Tante Mina hatte genau zehn Eier gefärbt. Die teilten sie auf. Jonathan bekam nur eines. „Zehn lässt sich nun einmal nicht gut durch vier teilen“, grinste Sebastian und biss in sein drittes Ei. Über Tante Minas Gesicht huschte ein verzerrtes Lächeln.
Jonathans Augen brannten. Er wollte nicht weinen, aber der dicke Kloß in seinem Hals saß einfach zu fest. Er konnte nichts dagegen tun, die Tränen liefen von selbst über seine Wangen.
Onkel Paul fauchte: „Schäm dich, was heulst du? Ich kleb dir eine, undankbarer Bengel!“ Und Mina setzte hinzu: „Sei froh, dass wir dich aufgenommen haben. Du wärst sonst im Heim gelandet. Und da hättest du es bestimmt nicht gut.“
Erschrocken starrte Jonathan die beiden an, wischte hastig mit dem Ärmel über sein Gesicht.
Er verkroch sich mit knurrendem Magen in seinem Zimmer. Das geschah jetzt oft. Er hob den Käfig mit Micky auf das Bett. „Na, hast du immer noch Angst?“
Die Maus wich seinem ausgestreckten Finger aus und drückte sich in eine Ecke des Käfigs. Jonathan schluckte die Tränen, die sich schon wieder befreien wollten, hinunter. „Was ist mit dir? Du benimmst dich so seltsam. Ich tu dir doch nichts. Früher durfte ich dich immer herausnehmen und jetzt lässt du dich nicht einmal mehr anfassen. Ich glaube, du magst auch nicht hier sein, nicht wahr?“
Jonathan sehnte das Ende der Ferien herbei. Früher war das nie so gewesen. Früher waren ihm die freien Tage viel zu kurz erschienen, ausgefüllt mit all seinen Lieblingsbeschäftigungen.
*****
Am Ostermontag nahm Onkel Paul die beiden Jungen mit zur Tankstelle. Erst jetzt wurde Jonathan bewusst, dass er bereits über eine Woche bei seiner neuen Familie verbracht und noch nicht mehr als den Garten und das Haus gesehen hatte.
„Papa trinkt manchmal ein paar Bier mit Karl, dem Besitzer der Tankstelle“, flüsterte Sebastian Jonathan zu, während sie den steilen Hügel hinunter stiegen. Es gab einen schmalen Pfad, der die weitläufigste Kurve der Straße abkürzte. Sie mussten im Gänsemarsch gehen. Die braune Erde war glitschig, noch feucht vom Regen und Jonathan hielt sich an dem hölzernen Geländer fest, um nicht auszurutschen.
„Das ist super“, redete Sebastian weiter. „Karl ist nett. Ich kriege immer einen Schlecker oder Bonbons. Und dann darf ich tun, was ich will, bis Papa fertig ist.“
„Und was machst du da?“ Jonathan warf ihm über die Schulter einen neugierigen Blick zu. Bis jetzt hatte Sebastian noch nie mit ihm gespielt. Aber sie hatten ja auch noch kaum Zeit dafür gehabt.
Der Ältere zuckte die Schultern. „Ich tue meistens gar nichts. Ein wenig im Schuppen herumstöbern. Zuhören, was die Männer reden. Papa erzählt immer so lustige Witze.“
Jonathan sah ihn erstaunt an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Onkel Paul Witze machte.
Karl Steiger war ein kleiner Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem dunklen Schnauzbart, vielleicht so alt wie Onkel Paul. Er zwinkerte Jonathan zu, als er ihm die Hand gab. „Du bist also Pauls Neffe“, meinte er und lächelte. „Ich habe schon von dir gehört und war neugierig darauf, dich kennen zu lernen.“
Jonathan nahm seine Hand. Er mochte Karl auf Anhieb, auch wenn er nicht wusste, warum. Vielleicht weil er einfach nur nett war.
Karl schloss den kleinen Laden auf, der zur Tankstelle gehörte. Jonathan fielen sofort die großen Glasbehälter auf, die mit Bonbons, Schleckern und anderen Süßigkeiten gefüllt waren. „Sucht euch etwas aus“, meinte Karl. „Aber nur zwei Stück für jeden, in Ordnung?“
Sebastian stürzte sich auf das Gefäß mit Schleckern. „Die halten am längsten, da hast du mehr davon“, meinte er mit verschwörerischem Grinsen.
Wenig später saßen sie einträchtig hinter dem Haus und lutschten an ihren Süßigkeiten. Jonathan drehte den Schlecker in seinem Mund, sog den sauren Himbeergeschmack genüsslich auf.
Er hörte, wie die Männer sich unterhielten, lachten. Seltsam. Onkel Paul lachte eigentlich sonst nie.
„Das dauert jetzt eine Weile“, meinte Sebastian. „Gucken wir uns ein wenig um? Ich zeige dir alles.“
Jonathan folgte ihm. Es gab nicht viel zu sehen. Die Tankstelle mit den beiden Zapfsäulen, in deren Nähe es aufregend nach Treibstoff roch. Ein Schuppen hinter dem Haus, der mit altem Gerümpel voll geräumt war. Zwischen leeren Farbdosen und Holzkisten stand eine Werkbank, auf der Werkzeug lag. Ein Hammer, einige Zangen, eine kleine Säge. Sebastian grabschte nach einer Handvoll Nägel und steckte sie ein. „Wer weiß, wozu man die brauchen kann“, grinste er.
Der Nachmittag verging viel zu schnell. Ein scharfer Pfiff schreckte die Jungen auf, die auf der Wiese hinter der Tankstelle Nachlaufen spielten.
Onkel Pauls Gesicht war rot und seine Augen glänzten. „Kommt jetzt. Zeit nach Hause zu gehen“, sagte er mürrisch und mit undeutlicher Aussprache. Jonathan musterte ihn ängstlich. Auch Sebastian zog den Kopf ein.
Schweigend stapften sie den Hügel hinauf.
Das Haus erschien Jonathan jetzt, nach diesem unbeschwerten Nachmittag, wie ein Gefängnis. Wie dieser böse Drache, der in seinem Zimmer an der Decke lauerte.
Onkel Paul stieß die Tür auf und Jonathan bemerkte, wie durch Tante Minas mageren Körper ein Ruck ging. Sie machte sich noch kleiner, als sie ohnehin schon war.
„Essen“, sagte Onkel Paul barsch. Seine gute Laune war wie fort geblasen.
Jonathan hatte das Gefühl, als würde sich ein schwerer Stein auf ihn legen, der ihm den Atem nahm.
Während der Mahlzeit herrschte gespanntes Schweigen. Mina zuckte bei jedem Geräusch zusammen und auch Sebastian saß mucksmäuschenstill auf seinem Stuhl.
Nach dem Essen wurden die Jungen auf ihre Zimmer geschickt.
„Papa hat zu viel getrunken. Jetzt wird er Mama wieder bestrafen“, flüsterte Sebastian, als sie die Treppe hoch stiegen. Sein Cousin lächelte. So, als ob ihm das Freude bereitete.
Jonathan überlief eine Gänsehaut.
Später drangen Minas gedämpfte Schreie aus dem Schlafzimmer. Er zog die Bettdecke über die Ohren und kniff die Augen ganz fest zu.
*****
Am ersten Schultag nach den Osterferien weckte ihn Sebastian. „Sieh doch nur, was ich gekriegt habe!“
Jonathan blinzelte schlaftrunken.
„Nun mach schon!“ Sebastian zog ihm ungeduldig die Bettdecke weg.
Jonathan schrie auf. Es war eiskalt im Zimmer. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Cousin über das ganze Gesicht strahlte.
Sebastian trug Jeans. Seine - Jonathans - Lieblingsjeans. Die mit dem Flugzeugsticker auf dem Knie.
„Da staunst du, was? Die passen mir sogar. Gut, dass ich so dünn bin. Nur zu kurz waren sie. Aber Mama hat sie länger gemacht.“ Sebastian hob das Bein und Jonathan konnte den breiten, dunklen Streifen sehen, der seine Jeans zu der von Sebastian gemacht hatte.
Er wollte schreien. Aber es ging nicht. Der große, dicke Kloß saß wieder in seinem Hals und schnürte ihm die Luft ab.
Sebastian schlug die Tür zu und Jonathan konnte hören, wie er über die Treppe hüpfte.
Er dachte an seine Mutter. Sie hatte die Jeans für ihn ausgesucht. Damals, vor ewig langer Zeit, als noch alles in Ordnung war. Der Gedanke daran machte alles nur noch schlimmer. Der Kloß in seinem Hals erdrückte ihn fast.
„Jonathan? Wenn du nicht augenblicklich herunterkommst, gibt es kein Frühstück mehr!“ Die schrille Stimme Tante Minas ließ ihn hastig aufspringen.
Er schlüpfte in eine von Sebastians abgelegten Stoffhosen. Sie war scheußlich bunt kariert. Das Hemd war ihm zu groß, aber er krempelte die Ärmel hoch.
Hastig würgte Jonathan den üblichen, geschmacklosen Haferbrei hinunter. Er hatte eigentlich keinen Hunger. Der Kloß machte sich in seinem Bauch breit und ließ für nichts anderes Platz.
Schnell stibitzte er noch ein Stückchen trockenes Brot für Micky und stürmte in sein Zimmer.
Sebastian hockte vor dem Käfig, fuhr hoch, als Jonathan eintrat. Sein blasses Gesicht wurde rot.
„Was tust du da?“ Jonathan schob ihn zur Seite. Das Tier drückte sich ängstlich in den hintersten Winkel an das Gitter. „Du hast etwas mit Micky gemacht, oder?“ Jonathans Herz klopfte wild.
„Du spinnst doch. Hab ich nicht. Ist einfach nur eine blöde, langweilige Maus“, behauptete sein Cousin, wandte sich ab und lief die Treppe hinunter.
Als Jonathan die Käfigtür öffnete, huschte die Maus panisch von einer Ecke des Käfigs in die andere. Vorsichtig legte er das Brotstückchen auf den Käfigboden. Früher hatte ihm Micky aus der Hand gefressen.
„Papa hat ein Fahrrad für dich besorgt“, sagte Sebastian, als sie das Haus verließen. „Es steht im Schuppen. Ich fahre immer mit dem Rad zur Schule.“
Das Fahrrad war rostig, der einstmals blaue Lack zum größten Teil abgeblättert, der Kotflügel verbeult. Jonathan musste schlucken, als er an sein kaputtes Rad dachte, das er früher gehabt hatte. Es war bedeutend schöner gewesen als das hier.
Aber Sebastian ließ ihm keine Zeit für traurige Gedanken. Der Ältere schwang sich auf sein eigenes Rad, das auch nicht viel besser aussah als das von Jonathan. Und schon sauste er die Zufahrt hinunter, auf die Straße.
Jonathan bemühte sich, ihm zu folgen.
Zuerst fuhr er noch vorsichtig, probierte die Bremsen aus. Sie funktionierten einwandfrei.
Sebastian wartete unten an der Straße auf ihn. „Nun komm schon! Wer am schnellsten bei der Ortstafel ist!“ Und schon trat er in die Pedale.
„Warte!“, schrie Jonathan.
Die Straße führte in vielen Windungen immer bergab. Jonathan war noch nie eine derartig schwierige und lange Strecke gefahren.
Anfangs bremste er immer wieder ängstlich, aber bald machte ihm die Fahrt Spaß. Er brauchte nichts zu tun als zu lenken und das Rad laufen zu lassen.
Der Fahrtwind pfiff um seine Ohren, seine Augen begannen zu tränen. Aber das machte nichts. Er war frei! Frei wie der Wind!
Viel zu schnell kamen die ersten Häuser des Dorfes in Sicht. Er bremste scharf vor der Ortstafel ab. Sebastian grinste. „Na, langsame Schnecke? Auch schon da?“
Der Spott des Älteren machte Jonathan nichts aus. „Nächstes Mal bin ich schneller“, lachte er.
Einträchtig radelten sie durch den Ort zur Schule. Jonathan konnte einen flüchtigen Blick auf ein Gasthaus und eine Bäckerei werfen. Auch einen Spielzeugladen gab es. Viel zu schnell waren sie am Ziel. Kirchweg war ein winziger Ort, längst nicht so groß wie Linz.
Die Schule befand sich hinter der Kirche. Ein altes, dreistöckiges Gebäude mit hohen Fenstern. Jonathan erschien sie klein und ziemlich schäbig. Dahinter war eine riesige Baustelle.
„Das wird die neue Hauptschule“, erklärte Sebastian. „Ich gehe auch schon in die Hauptschule, in die zweite Klasse. Die Babys, so wie du, die sind in der Volksschule.“
Jonathan boxte ihn leicht in die Rippen. „Ich bin schon in der vierten Klasse, ich bin kein Baby!“
„Na gut, großes Baby!“, grinste Sebastian und schob sein Fahrrad in den Radständer.
Jonathan lachte. Er fühlte sich noch immer leicht und frei. Und Sebastian war eigentlich ganz in Ordnung.
Es gab nur eine einzige vierte Klasse. Jonathan schlüpfte auf einen leeren Platz in der letzten Bankreihe und schon schrillte die Glocke.
Erst jetzt bemerkte er, dass er neben einem Mädchen saß. Es musterte ihn neugierig aus braunen Augen.
Das Mädchen hieß Franziska Kramer und er fand sie ganz nett. Franziska half ihm, sich zurechtzufinden, zeigte ihm, in welcher Garderobe er seine Hausschuhe abstellen und wo er seine Bücher ablegen musste.
Alles in allem lief der erste Schultag nicht schlecht.
Jonathan unterhielt sich nach dem Unterricht noch ein Weilchen mit Franziska.
„Du kommst also aus der Stadt – aus Linz?“, meinte das Mädchen.
Jonathan nickte.
„Es ist bestimmt toll, dort zu wohnen. All die vielen Geschäfte … Wenn ich groß bin, werde ich auch in die Stadt ziehen.“ Franziskas Augen leuchteten.
Er zuckte mit den Schultern. „Na ja. Es ist schon in Ordnung.“
Am Wochenende sind wir oft ins Kino gegangen. Und danach auf ein Eis oder eine Pizza. Hier in Kirchweg gibt es bestimmt kein Kino. Und Pizza auch nicht.
„Ich muss jetzt nach Hause“, sagte Jonathan. Nur um Franziska nicht merken zu lassen, dass schon wieder Tränen in seine Augen stiegen.
Der Rückweg war bedeutend anstrengender als die morgendliche Talfahrt und bald musste er das Rad schieben. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, als er endlich nach Hause kam.
Tante Mina stand unter der Tür. Statt einer Begrüßung fauchte sie: „Wo warst du?“
Jonathan zuckte mit den Schultern. „In der Schule.“
Tante Mina holte aus und schlug ihn ins Gesicht.
Entgeistert starrte er sie an. Das hatte noch nie jemand getan.
„Das ist für deine freche Antwort“, knurrte Mina. „Also – wo warst du? Der Unterricht endet um halb eins und jetzt ist es halb zwei.“
„Ich – ich hab nur kurz mit Franziska geplaudert. Und – ich musste das Rad schieben. Die Straße ist so steil.“
Er schluckte. Schon wieder saß dieser Kloß in seinem Hals und am liebsten wäre er auf der Stelle weggelaufen. Seine Wange brannte. Er wich zurück, als Mina auf ihn zukam. Sie packte ihn bei den Schultern. „Sieh mich an, verzogener Bengel!“
Jonathan starrte auf die roten Flecken, die ihre blassen Wangen bedeckten. In die Augen wagte er ihr nicht zu sehen.
„Merk dir eins: Du wirst in Zukunft pünktlich sein. Ich habe weder Lust noch Laune, zu warten, bis du dahergetrödelt kommst. Essen gab es schon vor einer halben Stunde – dein Pech, dass nichts mehr da ist. Und jetzt ab in dein Zimmer. Mach die Hausübungen und dann wäschst du das Geschirr! Ich muss arbeiten gehen.“
Sie ließ ihn abrupt los. Er spürte noch immer den Griff ihrer dünnen, erstaunlich kräftigen Finger auf seinen Schultern, als er hinter ihr ins Haus trottete.
Sebastian lehnte in der offenen Küchentür und grinste ihn an. Wahrscheinlich hatte er alles mitbekommen.
Jonathan lief die Treppe hinauf, riss die Tür zu seinem Zimmer auf und warf sich auf das Bett. Jetzt erschien ihm sein Zimmer wie eine sichere Zuflucht.
Und dann entdeckte er, dass die Tür des Mäusekäfigs offen stand und Micky verschwunden war.
Für einen Moment starrte er den leeren Käfig an, ohne an etwas denken zu können.
Hatte er das Türchen am Morgen nicht ordentlich geschlossen? Aber normalerweise passte er doch immer gut auf!
Sebastian kam zur Tür herein, hielt ihm ein Stück Brot hin. „Ich hab schon wieder was bei dir gut“, meinte er.
Jonathan nickte abwesend.
Sebastian warf ihm einen seiner eigentümlichen Blicke zu. „Hast du was?“
Jonathan senkte den Kopf. „Micky ist weg“, flüsterte er tonlos.
Sebastian zuckte die Schultern. „Sie wird schon wieder auftauchen“, meinte er gleichmütig und lächelte.
Jonathan war sicher, dass das nicht geschehen würde. Es gab bestimmt tausend Verstecke in diesem Haus und die Chance, die Maus zu finden, war gleich Null. Sie würde sich auch nicht mehr von ihm einfangen lassen, so verschreckt, wie sie jetzt war.
Etwas Heißes stieg in ihm hoch. Nun hatte er seinen einzigen Freund verloren, die einzige lebendige Erinnerung an seine Eltern. Und es war seine Schuld, weil er nicht aufgepasst hatte.
„Ich verdiene es wohl nicht anders“, murmelte er. Der Anblick des leeren Käfigs tat ihm so weh, dass er ihn am liebsten im Schrank verschwinden lassen wollte. Aber noch hegte er die winzige, wenn auch unwahrscheinliche Hoffnung, dass er Micky wieder finden würde.
Seine Hausübungen erledigte er abwesend. Ständig spukte ihm der Gedanke an Micky im Kopf herum. Nachdem das Geschirr gewaschen und abgetrocknet war, durchsuchte er jeden Winkel in seinem Zimmer.
Die Maus war nicht da.
Jonathan legte sich auf das Bett und starrte auf den Fleckendrachen, bis seine Augen schmerzten.
Sein Magen knurrte laut. Die Stunden bis zum Abendessen erschienen ihm endlos lange.
Vielleicht muss ich verhungern? Tante Mina hat nichts davon gesagt, wie lange ich in meinem Zimmer bleiben muss.
Seine Sorge erwies sich als unbegründet. Sebastian kam kurz vor sechs Uhr in sein Zimmer.
„Papa ist da“, sagte der große Junge kurz. „Und Essen ist fertig.“
Es gab Bratkartoffeln mit Spiegelei. Diesmal zögerte Jonathan nicht lange, schaufelte gierig hinein, was auf dem Teller lag.
Mina lächelte ihn zu seinem Erstaunen an. „Na, schmeckt’s dir?“ Er nickte, ganz erstaunt über ihre plötzliche Freundlichkeit. Er wollte sie fragen, ob er nicht vielleicht noch einen Nachschlag haben könnte, aber sie hatte den Kopf schon wieder gesenkt, pickte mit konzentrierter Miene kleine Bissen auf, wie sie es immer tat.
Erst jetzt merkte er, dass Paul ihn anstarrte. Jonathan wich seinem Blick aus und hoffte, dass ihn sein Onkel nicht ansprach.
Sebastian rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Papa? Darf ich dich etwas fragen?“ Onkel Paul wandte sich seinem Sohn zu und Jonathan war froh, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt.
„Wir haben eine neue Lehrerin. Sie hat gesagt, dass ich eine gute Stimme habe und möchte, dass ich im Schulchor singe. Das wäre nur einmal in der Woche, an einem Donnerstag, nach dem Unterricht. Darf ich? Es kostet auch nichts.“
Vor Aufregung war das Gesicht des großen Jungen noch blasser als sonst. Seine Sommersprossen wirkten wie dunkle Kleckser auf der hellen Haut.
„Was?“ Jonathan zuckte zusammen. Paul starrte seinen Sohn an, stieß heftig den Atem aus. „Geht das schon wieder los? Erst kommst du mit diesem Affentheater wegen des zusätzlichen Zeichenunterrichts und jetzt willst du auch noch singen? Schlag dir diesen Blödsinn aus dem Kopf! Zeichnen und singen! Das ist etwas für Weiber!“
Er holte aus und versetzte Sebastian eine Ohrfeige.
Jonathans Herz klopfte wild, er musste mit aller Macht den erschrockenen Laut unterdrücken, der sich befreien wollte. Sein Cousin zog den Kopf ein, legte die Hand auf die Wange. Seine Augen waren wie zwei blaue Glasmurmeln. Kalt und klar.
„Du lernst etwas Ordentliches, mein Sohn“, knurrte Onkel Paul. „Und jetzt will ich meine Ruhe haben.“
Sebastian sprang auf, verließ die Küche und Jonathan folgte ihm die Treppe hinauf.
„Tut mir leid für dich“, murmelte er und legte die Hand auf den Arm seines Cousins. „Ach, halt dein Maul“, fauchte Sebastian und schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu.
Am Abend lag Jonathan noch lange wach, lauschte in die Dunkelheit. Hoffte darauf, das Trippeln kleiner Füße zu hören und darauf, dass Micky vielleicht in den Käfig zurückkehrte.
Am nächsten Morgen fand er die Maus auf seinem Bett.
Minutenlang starrte Jonathan sie an, ohne zu begreifen, was er sah.
Micky lag auf einem Holzbrett. Gänseblümchen waren liebevoll um den kleinen Körper drapiert, der mit Klebeband auf das Brett fixiert worden war.
Aus Mickys Bauch ragte ein Nagel. Ein großer, dicker, so wie einer aus Karls Werkstatt.
Jonathan schluckte. Eine Welle von Übelkeit übermannte ihn. Er kniff die Augen zu, aber das Bild verschwand nicht aus seinem Gedächtnis. Die vor Schmerz gekrümmten kleinen Pfoten, das blutverschmierte Mäulchen.
„Die arme Maus“, sagte Sebastian, der unbemerkt in das Zimmer gekommen war. Er stupste den toten Körper leicht mit dem Zeigefinger an. „Wir müssen sie begraben, nicht wahr?“
Jonathan nickte stumm. In seinem Hals saß ein dicker Kloß, ein Ding mit scharfen Kanten, das beim Schlucken schmerzte und einfach nicht verschwinden wollte.
Sebastian nahm das Holzbrett auf und trug es feierlich in den Garten. Er führte Jonathan zu einer entfernten Ecke, nahe am Zaun, der den Garten vom dahinter liegenden Wald abgrenzte. Hier gab es ein kleines Blumenbeet. Zwischen den einzelnen Pflanzen lugte die braune Erde hervor. Sebastian zeigte mit dem Finger auf eine Stelle. „Da! Du musst ein Loch graben.“
Jonathan gehorchte. In ihm war alles kalt und Sebastians Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm. Mit mechanischen Bewegungen hob er das Erdreich neben einem Büschel Märzenbecher aus.
Sebastian hatte inzwischen eine Zange geholt. Geschickt zog er den Nagel aus dem toten Körper und Jonathan schluckte. Er presste die Lippen fest zusammen und atmete tief durch, um sich nicht übergeben zu müssen.
„Du musst sie der Erde schenken“, flüsterte Sebastian. Er starrte fasziniert auf den kleinen Leichnam.
Jonathan überlief ein Schauder, als er den steifen Körper berührte. Sanft legte er ihn auf die feuchte Erde.
„Und jetzt musst du singen“, sagte Sebastian.
Jonathan schüttelte den Kopf.
„Los, sing!“ Sebastian stieß ihm die Faust in die Rippen. Für einen Moment blieb Jonathan die Luft weg, als bohrender Schmerz durch seine Seite schoss.
„Wir sind nur Gast auf Erden. Das musst du singen. Das passt zu einem Begräbnis.“
„Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh. Mit mancherlei Beschwerden der Ewigen Heimat zu“, sang Sebastian. Er sang wunderschön, mit glockenheller Stimme. Ein glückliches Lächeln lag auf dem Gesicht des Jungen.
Jonathan starrte ihn an. So hatte er seinen Cousin noch nie gesehen.
„Los, sing mit!“ Wieder stieß Sebastian ihn in die Seite. Und Jonathan gehorchte.
„Die Wege sind verlassen, und oft sind wir allein. In diesen grauen Gassen mag niemand bei uns sein.“
Sebastian schaufelte Erde auf Mickys Körper. Jonathan starrte auf die Grube, bis nichts mehr von der Maus zu sehen war. Er lief aus dem Garten, rannte den Abhang hinunter, auf die Straße, immer weiter.
Tränen schossen heiß in seine Augen, aber er achtete nicht darauf, stolperte blind dahin.
Weg. Nur weg von hier!
*****
Mit geschlossenen Augen lag Jonathan unter dem Kastanienbaum. Tief atmete er den Duft des Laubes ein. Die Nacht hatte ihren schützenden Mantel um ihn gelegt, machte die Erinnerung erträglicher.
Jonathan wischte über sein Gesicht und stellte verwundert fest, dass es nass war.
Er öffnete seine Augen und sah in den klaren Sternenhimmel. Tröstlich und beschützend wölbte sich das Nachtblau über ihm.
Niemand konnte ihm die Last abnehmen, die er trug. Er hatte nur einen Teil seiner Vergangenheit gesehen. Er ahnte, es musste noch viel Schlimmeres geschehen sein.