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Kapitel 3

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Noch immer hatte Jonathan das Haus nicht betreten. Er mied es, das Gebäude auch nur anzusehen, so gut es eben ging. Aber es gelang ihm eben nicht gut. Es war einfach da, lauerte, wartete auf ihn wie ein bösartiger Hund in seinem Zwinger.

Am wohlsten fühlte er sich im Garten und im dahinter liegenden Wald. Dann dachte er nicht an die Schrecken und an die Panikattacken, die das Gemäuer in ihm wachriefen. Er konnte diesen Schrecken nicht benennen, obwohl er anscheinend damit gelernt hatte, umzugehen. Jemand musste ihm beigebracht haben, wie er diese Momente purer Angst bewältigen konnte. Aber immer wieder baute sich die dunkle Mauer in seinem Gedächtnis auf, ließ sich nicht überwinden.

Es gab allerdings auch Augenblicke, in denen er darauf vergaß und einfach nur seine Umgebung genoss.

Über dem Haus und dem Garten lag eine angenehme Stille, die sein Körper und sein Geist aufsogen, die seine Leere füllte. Auch konnte er jetzt ein Stück die Straße entlang gehen, ohne von diesem grässlichen Angstgefühl überwältigt zu werden. Das Bedürfnis, Menschen zu treffen, hatte er nicht.

Langsam folgte er dem Verlauf der Straße, den zahlreichen Kehren, die ihn talabwärts führten. Die nächste Biegung gab den Blick auf ein Dach frei, das Rot der Ziegel blitzte durch die Sträucher.

Ob ich auch zur Tankstelle gehen und nach Karl sehen kann?

An den Besitzer der Tankstelle erinnerte er sich seltsamerweise jetzt, obwohl alles andere, was in seinem Leben geschehen war, noch immer im Verborgenen lag.

Gut, er hatte das Haus, den Garten und alles, was sich in unmittelbarer Nähe davon befand, wieder erkannt. Abgesehen von den Panikattacken, die ihn dann überfielen, wenn er das Haus betreten wollte, ging es ihm eigentlich gut.

Er fiel immer noch manchmal in diesen schwebenden Zustand, in dem ihm sein Körper nicht richtig gehorchte, besonders dann, wenn sein Schlaf länger gedauert hatte, aber er überwand ihn immer schneller.

Er wanderte weiter die Straße hinunter. Es war nur ein schmaler Güterweg. Eine Sackgasse, die bei seinem Zuhause endete. Hierher kam nur, wer das Haus auf dem Hügel besuchen wollte. Bei seinen Spaziergängen war ihm bis jetzt nie jemand begegnet.

Die Tankstelle befand sich etwa einen Kilometer von seinem Zuhause entfernt und von da waren es nur mehr ein paar hundert Meter bis ins Dorf. Kirchweg, so hieß es.

Jonathan runzelte die Stirn, als er daran dachte.

Seltsam. Woher wusste er diese Dinge?

Sie waren ihm so geläufig wie die Tatsache, dass der Himmel blau ist.

Der Gedanke an das Dorf löste nichts in ihm aus. Weder Neugier, noch Angst. Nur nach Karl wollte er sehen. Nach seinem einzigen Freund, wie er spürte.

Vor ihm tauchte das niedrige Gebäude der Tankstelle mit dem angebauten Lagerraum auf. Das rote Dach leuchtete in der Sonne. Früher hatte ihn ein Gefühl der Erleichterung bei seinem Anblick durchströmt. Aber er erinnerte sich nicht daran, warum das so war.

Merkwürdig – dieser Zustand. Was war mit ihm geschehen?

Ein Gedächtnisverlust nach einem Schock?

Bevor die dunkle Wand wieder auftauchen konnte, verdrängte er jeden weiteren Gedanken daran. Es brachte nichts. Karl würde es ihm vielleicht erklären können.

Jonathan beschleunigte seine Schritte. Er schlug nun mühelos sein gewohntes Marschtempo an, ohne dass er außer Atem gekommen wäre. Das erfüllte ihn mit Freude. Alles würde wieder in Ordnung kommen.

Auf den ersten Blick schien es, als wäre es tatsächlich so, als er die Tankstelle erreichte. Was immer auch mit ihm geschehen sein mochte, hier hatte sich nichts verändert.

Es gab noch immer den kleinen Laden gegenüber den beiden Zapfsäulen für Diesel und Benzin, die von der Sonne ausgebleichte, rot-weiß gestreifte Markise, die über dem Schaufenster ausgespannt war. Hinter der Glastür baumelte ein Schild.

Wegen Krankheitsfall bis auf weiteres geschlossen“ stand da in dicken, schwarzen Blockbuchstaben.

Jonathan starrte das Schild an. Eine ganze Weile konnte er an gar nichts denken, doch dann breitete sich Enttäuschung in ihm aus. Das durfte nicht sein! Er musste mit Karl sprechen, dem einzigen Vertrauten, an den er sich erinnern konnte. Sein alter Freund konnte ihm ganz sicher erklären, was geschehen war.

Warum er sein Gedächtnis verloren hatte und warum alle fort waren.

Er ging um das Haus herum.

Stille.

In der Ferne brummte ein Traktor. Das Geräusch entfernte sich, wurde vom Gesang der Vögel verschluckt.

Vielleicht hält sich Karl ja in seiner Wohnung auf? Es kann durchaus sein, dass er einfach krank ist und das Bett hüten muss.

Allerdings konnte er sich nicht erinnern, dass Karl jemals ernsthaft krank war.

Jonathan ging zur Hintertür. Den Ersatzschlüssel fand er unter dem Geranientopf. Auch das war wie immer.

Der Schlüssel lag schwer in seiner Hand und als er ihn in das Schloss steckte, überlegte er, in welche Richtung er ihn drehen musste, um aufschließen zu können.

Der vertraute Geruch nach Tabak und Papier schlug ihm nach dem Öffnen der Tür entgegen. Aber sein Verlangen nach einer Zigarette blieb aus. Trotzdem wusste er plötzlich wieder, dass er früher geraucht hatte.

Jonathan stieg die schmale Treppe hoch, die zu Karls Wohnung führte und öffnete die Tür.

Noch immer Stille.

Die kleine Küche war leer, ebenso das angrenzende Wohnzimmer und das Schlafzimmer. Der vertraute Geruch nach Speck und gerösteten Zwiebeln fehlte. Sein Freund machte die beste Eierspeise von Kirchweg.

Jonathan blickte sich um. Die Wohnung war sauber aufgeräumt und sah aus, als hätte jemand sie für längere Zeit verlassen. Eine feine Staubschicht lag auf den Möbeln und die wenigen Topfpflanzen wirkten vernachlässigt. Durch die staubigen Fensterscheiben drang gedämpft Sonnenlicht.

Sein Blick fiel auf das Telefon. Es stand auf einem kleinen Tisch im Vorzimmer. Daneben lag ein abgegriffenes Schulheft mit fleckigem Umschlag. Karls Telefonbuch.

Jonathan schlug es auf. Alle möglichen Namen und Adressen, in der sauberen, eckigen Handschrift seines Freundes. Sie sagten ihm nichts, obwohl Adressen aus Kirchweg darunter waren, die er kennen musste.

Ein Gefühl von absoluter Einsamkeit überfiel ihn. Es war so allumfassend und endgültig, dass es körperlich schmerzte.

Niemand konnte ihm helfen. Es gab keinen einzigen Freund, nicht einmal eine bekannte Person, an die er sich wenden konnte.

Jonathan rannte aus dem Haus, schlug die Tür hinter sich zu. Stand einfach nur da und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Es half. Das Zittern hörte auf.

Ohne sich noch einmal umzusehen, lief er die Straße zurück zum Haus, die gepflasterte Einfahrt hinauf und in den Garten. Legte sich unter den großen Kastanienbaum und starrte in den Himmel.

Er wollte weinen, doch er hatte keine Tränen.

Dieser seltsame, lähmende Schlaf musste ihn wieder übermannt haben, denn als Nächstes registrierte Jonathan, dass die Sonne nur mehr eine Handbreit über dem Horizont stand.

Er erhob sich und ging auf unsicheren Beinen auf das Haus zu, blieb stehen und betrachtete es. Wieder schien ihm, als würde es ihn belauern. So, als ob es darauf warten würde, dass er sich erinnerte, was darin geschehen war. In seinen Mauern war der Schrecken eingeschlossen, die Angst starrte ihn aus den blinden Scheiben an.

Sein Blick fiel auf das Giebelfenster. Eine winzige Luke, etwa eine Handbreit hoch und drei Handbreit lang.

Eine Welle von heißem Schmerz jagte durch seinen Körper, breitete sich in ihm aus, nahm ihm den Atem. Jonathan stöhnte und ging in die Knie.

Jetzt erinnerte er sich.

Wir sind nur Gast auf Erden

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