Читать книгу Im Bann der Quelle - Karin Spieker - Страница 3
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Оглавление„Die Zellen, aus denen die haploiden Geschlechtszellen entstehen, sind diploid. Deshalb muss bei der Bildung der Geschlechtszellen die Chromosomenzahl auf die Hälfte reduziert werden. Der sich dabei abspielende Vorgang nennt sich Meiose“, leierte Frau Schulte herunter. Ihr Monolog dauerte jetzt schon zehn Minuten. Und ich war davon überzeugt, dass gerade niemand irgendetwas lernte.
Unmotiviert informierte sie uns darüber, naja, vielmehr versuchte sie es, wie aus einem Spermium und einer Eizelle die Zygote, also die befruchtete Eizelle, entsteht. die ganze Klasse 10a döste seit Beginn der Stunde vor sich hin.
Eigentlich fand ich das Thema gar nicht so uninteressant, doch leider war unsere Biolehrerin nicht gerade das, was man eine Lehrerin aus Leidenschaft nennt …
Sina hatte schon öfter aus purer Langeweile in Frau Schultes Hirn herumgestöbert. Sie behauptete, dass Frau Schultes Gedanken in etwa die gleichen waren wie die unserer Mitschüler, die Gedanken männlicher Pubertierender selbstverständlich ausgenommen.
Unsere Lehrerin konzentrierte sich selten auf den Stoff. Sie interessierte sich kaum für Biologie, sondern beschäftigte sich lieber mit der Uhrzeit: Noch dreißig Minuten, dann ist die Stunde um, noch fünfzehn Minuten, dann ist die Stunde rum, nur noch zwei Stunden, dann darf ich hier raus … Sina fand das total lustig!
Mich überraschten Sinas Erkenntnisse wenig. Auch ohne dass ich in Frau Schultes Gedanken stieg, spürte ich ihre unendliche Langeweile.
Sina neben mir seufzte tief. Seit geraumer Zeit rahmte sie ihre Heftseiten mit den in Blockbuchstaben gemalten Worten OH ÖDNIS OH ein. Drei Seiten hatte sie bereits auf diese Weise verziert. Sie musste vergessen haben, dass am Ende des Schuljahres die Biohefte eingesammelt werden würden. Oder es war ihr egal. Wahrscheinlich Letzteres. Im Gegensatz zu mir versuchte Sina nicht einmal, sich auf den Stoff zu konzentrieren. Ihr Motto war von jeher: Warum anstrengen, wenn man auch entspannt durchs Leben kommt? Seit bei ihr die Gabe erwacht war, ignorierte sie unsere Lehrer völlig und schrieb bei schriftlichen Tests einfach die Gedanken der größten Streber mit. Mir war das zu langweilig. Ich musste ja sowieso im Unterricht herumsitzen – warum dann nicht versuchen, etwas mitzunehmen? Auch für jemanden, der die Gabe hatte, lohnte es sich schließlich Wissen zu erwerben. Vielleicht war es für uns Begnadete sogar noch wichtiger, klug und vernünftig zu handeln, als für andere. Schließlich verlieh die Gabe uns Macht und die galt es überlegt zu nutzen, das schärften uns die Erwachsenen immer wieder ein. Leider sah Sina das anders. Spaß schlug für sie grundsätzlich vernünftige Argumente, besonders wenn es um die Gabe ging. Manchmal dachte ich, dass wir genau deswegen schon so lange Freundinnen waren: Sina zog mich immer wieder ein kleines Stückchen in die Wolken und ich zog sie immer wieder zurück auf den Boden. Wir lebten in einer Art Symbiose, wenn auch nicht immer in einer harmonischen. Jetzt warf sie ihren Bleistift beiseite und stöhnte leise. Dann stupste sie mich an, wies mit den Augen in Richtung Sofie und kniff die Stirn ganz kurz konzentriert zusammen. Sofie bekam einen glasigen Blick, den Bruchteil einer Sekunde nur, und wenig später bohrte sie ihren Zeigefinger tief in die Nase. Im nächsten Moment zog sie ihn wieder heraus, das Gesicht voll von Abscheu und Erschrecken. Dann lief sie dunkelrot an und kramte hektisch in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Hinter Sofie wurde gekichert und getuschelt und Sina grinste in sich hinein. Eins musste ich Sina lassen: Sie war verdammt gut, dafür, dass sie wie ich ein Neuling in der Kunst des Gedankenlenkens und –lesens war. Sie hatte ihre Gabe erst seit rund neun Monaten, ich seit sieben, aber Sina lenkte Gedanken bereits schnell, präzise und über kleinere Entfernungen hinweg. Ich hingegen musste meine Opfer zumeist noch anfassen, außerdem sah man mir viel stärker an, wenn ich die Gabe benutzte. Manchmal tränten meine Augen vor Konzentration so stark, dass ich aussah, als würde ich weinen. Natürlich war Sina einfach besser im Training als ich. Sie setzte ihre Fähigkeiten ständig ein und erleichterte sich hemmungslos den Alltag, obwohl wir alle vom Rat angewiesen waren, unsere Künste höchst dosiert und äußerst diskret zu verwenden. Und einfach so, aus Spaß, durften wir Jugendlichen die Gabe schon gleich gar nicht einsetzen – viel zu groß war die Gefahr, dass wir alle sonst irgendwann entdeckt würden! Sina lächelte immer noch und schielte von Zeit zu Zeit zu Sofie hinüber, begeistert von dem kleinen Unheil, das sie angerichtet hatte. Ich war ein bisschen sauer. Warum tat Sina das nur immer wieder? Ja, natürlich war Sofie eine elende Zicke und furchtbar eingebildet, weil sie die unangefochtene Klassenschönheit war. Und ja, Sofie dachte wirklich mieses Zeug über Sina, über mich und über andere Mädchen in unserer Klasse. Aber trotzdem verhielt Sina sich falsch! Ihr Hobby, aus Langweile Schabernack mit anderen Menschen zu treiben, ohne dass diese die kleinste Chance gehabt hätten, sich dagegen zu wehren, das war die dunkle Seite der Gabe, fand ich. Sina und ich stritten nicht selten über dieses Thema. Vorne am Pult gähnte Frau Schulte, gelangweilt von ihren eigenen Ausführungen. Ich schielte auf meine Uhr: In zwanzig Minuten konnte ich nach Hause fahren. Draußen zeigte sich ein herrlich blitzblauer Himmel – ich konnte es kaum erwarten, bis ich mit einem Buch in unserem Garten am Flüsschen sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen konnte. Heute war Mittwoch, das bedeutete, dass auch meine Mutter zu Hause sein würde. Prima, dann könnten wir zusammen essen. Hoffentlich hatte unsere Haushälterin Frau Hansmeier was Leckeres gekocht! Ein weiterer Blick auf die Uhr. Die Sekunden verstrichen quälend langsam. Wieder stupste Sina mich triumphierenden Blickes an. Diesmal ging ihr Blick nach vorn, Richtung Pult. Sie würde doch nicht schon wieder … Warnend schlug ich gegen ihren Oberschenkel. „Sina!“, zischte ich. Zu spät. Sie würde. Wieder kniff sie kurz und konzentriert ihre Stirn zusammen und Frau Schultes Blick verschleierte sich für einen Moment. Jetzt war ich wirklich wütend. Diesen Zirkus hatte Sina bestimmt schon zehn Mal abgezogen! Irgendwann würde es jemandem auffallen. „Entschuldigt, Kinder“, Frau Schulte fasste sich deutlich verwirrt an den Bauch, „Mir ist nicht gut … glaube ich. Ich – das ist eure letzte Stunde heute, oder? Macht es euch etwas aus, wenn wir früher Schluss machen? Ich glaube … ich sollte mich hinlegen. Ja. Mir ist entschieden so, als sollte ich mich hinlegen!“ Ich sah zu Sina hinüber, reiner Triumph malte sich in ihrer Miene. Wieder schwankte ich zwischen Bewunderung – sie war wirklich gut! – und Ärger über Sinas Leichtfertigkeit hin und her. Frau Schulte verließ tatsächlich den Raum und in der Klasse erhob sich begeistertes Gemurmel. „Los!“ Sina zupfte mich am Ärmel. „Beeil dich, vielleicht kriegen wir den früheren Bus noch!“ Ärgerlich wischte ich ihren Arm weg und packte meine Sachen in die Umhängetasche. „Ja doch, ich komme …“ Sina ging schon vor, während ich mich noch von ein paar Mitschülerinnen verabschiedete. Als ich im Rausgehen hörte, wie sich Alina und Kim für einen Kinoabend verabredeten, konnte ich, wie so oft, einen leisen Anflug von Neid nicht unterdrücken. Ich mochte meine Mitschülerinnen und sie mochten mich – wenigstens ab und zu wäre ich gern bei ihren Aktionen dabei gewesen! Seufzend machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.