Читать книгу Im Bann der Quelle - Karin Spieker - Страница 8
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ОглавлениеAls ich an diesem Tag nach Hause kam, aß ich schnell ein paar Happen, die unsere Haushälterin für mich vorbereitet hatte, und setzte ich mich dann sofort an meine Hausaufgaben. In Deutsch musste ich eine elend lange Erörterung schreiben und in Mathe endlos viele Gleichungen lösen. Mir war es recht. Gerade heute fand ich, dass es mir gut tat, wenn ich nicht allzu viel Zeit zum Grübeln hatte. Ich wollte weder über Leander noch über all die Verbote, die die Gabe mit sich brachte, nachdenken. Außerdem mochte ich es lieber, wenn ich alle Hausaufgaben schon freitags erledigt hatte – das machte das Wochenende unbeschwerter.
Ich lernte gerade noch ein paar Französisch-Vokabeln, als ich hörte, wie meine Mutter unten das Haus betrat und ihr übliches „Bin zu Hause!“ rief.
„Ich auch!“, rief ich zurück. Überrascht stellte ich beim Blick auf meinen Wecker fest, dass es kurz vor halb sechs war. Ich hatte fast drei Stunden an den Hausaufgaben gesessen! Wie zur Bestätigung der späten Uhrzeit knurrte mein Magen.
Ich beschloss, dass ich die paar Vokabeln auch später noch lernen konnte. Klar, zur Not könnte ich die fehlenden Wörter beim Vokabeltest einfach in den Köpfen meiner Nachbarn lesen, aber dann würde ich nie Französisch sprechen können. Und ich hatte die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, dass ich irgendwann mal ausführlich die Welt bereisen würde.
Meine Mutter klapperte in der Küche bereits mit Geschirr. Also ging ich kurz in mein schnuckeliges, türkisfarbenes Badezimmer und wusch mir die Hände, dann löschte ich alle Lichter und ging hinunter.
„Na, Mama?“
„Na, Lu? Wie war dein Tag?“ Meine Mutter wandte sich kurz um und lächelte mich an, dann wusch sie weiter den Salat. Frau Hansmeier kochte köstliche Gerichte – heute war es ein indischer Currytopf, der zum Aufwärmen auf dem Herd stand - aber sie mochte überhaupt keinen Salat und bereitete ihn entsprechend selten für uns zu. Egal, fand meine Mutter, so hatte ich die Chance, wenigstens etwas über die Zubereitung von Essen zu lernen. Ich holte mir die Salatschleuder aus dem Schrank und füllte einige der gewaschenen, tropfnassen Blätter hinein. „Ging so“, murmelte ich und zog kräftig an der Schnur. Die Salatschleuder surrte folgsam und Wasser spritze gegen die transparenten Wände der Schüssel.
„Ging so? Warum denn das? Hast du eine Vier geschrieben?“
„Nee, ich hab mich in den falschen Jungen verknallt“, rutschte es mir spontan heraus. Kurz überlegte ich, ob ich mich wegen meiner Unbedachtheit über mich selbst ärgern sollte, aber dann dachte ich: Was soll’s? Wenn ich schon sonst mit keinem darüber reden kann, dann doch wohl wenigstens mit meiner eigenen Mutter!
„In den falschen Jungen? Wen meinst du damit? Ist er schon vergeben? Wer ist es denn?“ Neugierig sah sie mich an.
„Er ist kein Südentaler“, sagte ich kurz und ein wenig trotzig.
„Oh, Luise!“ Meine Mutter stellte das Wasser ab und drehte sich zu mir um. In ihrem Gesicht mischten sich Mitleid, Sorge und eine gehörige Portion Entschlossenheit. „Luise, dazu gibt es eigentlich nicht viel zu sagen … Du kennst die Regeln.“
„Ich weiß!“, fiel ich ihr angriffslustig ins Wort. „Südental den Südentalern. Glaub mir, dass ist mir vollkommen klar. Wenn du es genau wissen willst: Er hat mich heute gefragt, ob ich mich Montag in der Pause wieder mit ihm unterhalten will und ich habe nein gesagt, obwohl ich es nur allzu gern gewollt hätte!“
„Gut!“ Die Erleichterung war deutlich hörbar. „Ich fände es furchtbar, wenn du dein Herz an einen Fremden hängen würdest, Luise!“
„Warum? Weil ich dann keine brave Jüngerin der Quelle mehr wäre, so wie ihr?“
„Nein! ‚Brave Jüngerin der Quelle’ – so ein Quatsch, Kleines! Nein, weil es viel zu gefährlich für dich wäre, mit einem Fremden gesehen zu werden.“
„Aber viele Südentaler haben Bekanntschaften nach außen!“
Eine steile Falte bildete sich auf der Stirn meiner Mutter. „Tu doch nicht so, also wüsstest du nicht, worum es hier geht! Oberflächliche Bekanntschaften, ja, die werden geduldet, die sind ungefährlich für die Gemeinschaft. Liebesbeziehungen hingegen …“
„Jaja, ich weiß, diese ganzen Verbote hängen mir zum Hals heraus!“
Angriffslustig funkelte ich meine Mutter an. Es war absurd: Ich wusste genau, dass nicht sie es war, die die Regeln machte, aber ich wollte einfach auf jemanden sauer sein und sie war gerade da.
„Vielleicht probiere ich einfach mal aus, was passiert. Vielleicht verabrede ich mich am Montag doch mit ihm.“ Jetzt wollte ich meine Mutter provozieren, schließlich war ich ein Teenager und wenigstens von Zeit zu Zeit wollte ich mich auch mal wie einer benehmen! „Vielleicht frage ich auch einfach mal Sina, was sie von ihm hält.“ Lauernd sah ich meine Mutter an.
Es funktionierte. Die Falte auf ihrer Stirn wurde noch steiler und sie stemmte die Hände in die Hüften. Prima! Ein Streit würde mich ganz herrlich von meinem Leander-Elend ablenken. Aber von einem Moment auf den anderen fiel die Haltung meiner Mutter in sich zusammen. Sie ließ ihre Hände sinken, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sagte schließlich: „Sarah Feldmann ist tot.“
Bumm! Was für eine heimtückische Bombe!
Meine Mutter sah erschrocken aus. „Entschuldige.“ Sie nahm mich in den Arm. „Die Pferde sind mit mir durchgegangen. Ich hätte dir das schonender beibringen müssen.“
Mir traten Tränen in die Augen, die kurz darauf zu laufen begannen. Die arme Sarah! Ich hatte letzte Woche noch mit ihr gesprochen! Letzte Woche, als ihr Freund – oder sogar Verlobter - noch gelebt hatte. Als sie selbst noch gelebt hatte. Nichts Aufregendes, wir hatten einander gegrüßt und zwei Sätze über das Wetter gewechselt. Dennoch. Sie hatte so … gut gelaunt und quicklebendig gewirkt. Ich schluchzte kurz auf.
„Was ist passiert?“
Meine Mutter schob mich sanft ins Wohnzimmer und auf die Couch.
„Ich weiß es nicht genau, ich weiß nur das, was ich von den Schreckenbergs eben gehört habe. Es sieht wohl so aus, als sei sie heute Morgen die Kellertreppe runtergefallen.“
„Oh Gott, die Arme!“ Ich schluchzte wieder ein bisschen lauter, als ich mir Sarah vorstellte, wie sie am Fuß der Kellertreppe lag, über und über mit blauen Flecken bedeckt. „Erst ihr Freund, dann sie … Hat sie sich das Genick gebrochen?“, flüsterte ich.
Meine Mutter nickte. „Vermutlich.“
„Aber du warst ganz normal eben, als ich runter kam. Sogar ganz gut gelaunt!“
„Nun“, sie zögerte lange, bevor sie weiter sprach, „mich hat ihr Tod nicht wirklich überrascht. Es lief darauf hinaus, irgendwie. Ich lebe schon länger in Südental als du.“
„Was willst du damit sagen?“
Meine Mutter antwortete langsam. „Sarah Feldmann hat die Quelle verraten, indem sie sich mit einem Fremden einließ und Südental verlassen wollte. Und jetzt ist sie tot. Das ist alles, was ich sage.“ Sie klang erschreckend normal.
„Willst du damit andeuten, die Quelle sei … böse?“ Meine Schluchzer verebbten langsam angesichts dieser neuen, unfassbaren Entwicklung unseres Gesprächs.
„Nein, das glaube ich nicht. Die Quelle verleiht die Gabe, mehr nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt, dass irgendetwas Bösartiges von dem Wasser ausgeht. Nicht von der Quelle. Nie. Der Rat allerdings …“, meine Mutter verstummte.
Sie sah sich hektisch um, dann ging sie zum Fenster, vergewisserte sich, dass es fest verschlossen war und überprüfte ebenso die Küchentür. Sie zog einen Stuhl zu mir ans Sofa, setzte sich mir direkt gegenüber, Knie an Knie, und legte mir die Hände auf die Beine.
Dann beugte sie sich vor und begann zu sprechen. „Ich denke, dass unser Bürgermeister mehr über den Unfall von heute Morgen weiß.“
Mit weitaufgerissenen Augen starrte ich sie an. „Moment mal! Du behauptest, dass Sinas Vater hinter Sarahs Tod steckt?“
„Ich glaube es nicht, ich weiß es. Er hat sich die Hände bestimmt nicht selbst schmutzig gemacht, aber irgendwen wird er schon gefunden haben, der … Das arme, arme Ding.“
„Woher weißt du das? Wie kommst du darauf?“
Meine Mutter seufzte tief und presste ihre Handflächen gegen den Kopf, als wollte sie einen schlimmen Anfall von Migräne lindern. „Nun gut. Ich habe dir wahrscheinlich jetzt schon zu viel erzählt. Luise. Was ich dir jetzt erzähle, darfst du niemals – ich betone: niemals! – irgendjemandem erzählen. Wenn die folgende Geschichte den falschen Leuten zu Ohren kommt, sind wir womöglich alle in Gefahr. Dein Vater weiß Bescheid und sonst niemand! Ist das klar? Versprichst du mir zu schweigen?“
Aufgeregt nickte ich. Es sah meiner Mutter überhaupt nicht ähnlich, so in Wallung zu geraten. Normalerweise war sie ein sehr ruhiger und beherrschter Mensch. Sie machte mir Angst!
„Gut. Ich vertraue dir. Erinnerst du dich vielleicht noch an die Familie Hermann?“
Die Hermanns … Ich überlegte kurz. Es gab niemanden dieses Namens in Südental. Dann fiel es mir ein. „War das nicht dieser furchtbare Unfall? Als ich noch klein war? Wo die ganze Familie mit dem Auto verunglückt ist? Und alle waren tot?“
„Mutter, Vater und zwei Kinder, ja. Genau diese Hermanns meine ich. Ich habe dir das damals nicht erzählt, warum ein Kind unnötig aufregen, dachte ich, aber die Hermanns hatten geplant, Südental zu verlassen, das ganze Dorf wusste davon. Sie, Rita Hermann, wollte sich der Macht der Quelle entziehen, sie fand, dass wir hier im Dorf zu abgeschottet leben. Keiner hat sich gewundert, als die Familie die Gabe verlor, kurz nachdem ihr Entschluss bekannt geworden war. Am Abend vor der Unfallnacht war ich zufällig im Garten der Hermanns. Rita hatte damals herrliche Himbeersträucher und sie hatte mir erlaubt, einen davon abzuernten. Die Hermanns hatten an diesem Abend einen Gast von außerhalb, gegen die ausdrückliche Empfehlung des Rates! Er saß auf der Terrasse. Plötzlich, ich kniete gerade zwischen den Sträuchern, tauchte Bernd Henke durch das Gartentor auf. Bernd begrüßte den Gast, sah sich gründlich im Garten um und warf auch einen Blick in die Nachbargärten, es war purer Zufall, dass er mich nicht entdeckt hat. Dann setzte er sich zu dem Fremden auf die Terrasse. Ich weiß nicht, warum ich mich nicht bemerkbar gemacht habe, aber ich tat es eben nicht. Bernd fing an zu plaudern, über das Wetter, den Garten. Dann plötzlich veränderte sich das Gesicht des Fremden. Er bekam den typischen, gelenkten Blick. Ganz leere Augen. Ganz entspannte Gesichtszüge. Und dann murmelte Bernd etwas, mehrere Sätze lang, und es klang nicht nett. Verstanden habe ich nur die Worte: ‚Die Hermanns werden unser Geheimnis nicht verraten‘.“
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Ja sicher, Gerüchte über die Macht des Bürgermeisters waren mir schon öfter zu Ohren gekommen. Aber es war etwas anderes, wenn die eigene Mutter einem die schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Ich schluckte hart. „Und dann?“
„Dann schnippte Bernd vor dem Gesicht des Fremden mit den Fingern und – wupp! – plauderten die beiden weiter, als wäre nie etwas geschehen. Dann betraten die Hermanns die Terrasse und kurz darauf sah Bernd auf die Uhr und verabschiedete sich hektisch.“
„Und du?“
„Ich? Ich hab meine Panik weggeatmet und dann habe ich brav meine Himbeeren gepflückt, so getan, als wäre nichts gewesen, und bin nach Hause gegangen. Am nächsten Morgen erzählten alle, die Hermanns hätten einen Unfall gehabt. Sie waren nachts noch mit dem Auto unterwegs und durch irgendein furchtbares Unglück ist der Wagen von der Straße abgekommen und über die Klippe beim Steinbruch gefahren. Der Fremde hatte am Steuer gesessen. Alle waren tot, der Fremde und die Hermanns.“ Diesen letzten Satz flüsterte meine Mutter nur noch. „Ich habe mich immer gefragt, ob ich das hätte verhindern können!“
„Du glaubst, dass Sinas Vater diesen Unfall geplant hat?“
„Ja.“ Meine Mutter presste wieder ihre Hände gegen den Kopf, als könnte sie ihre bösen Gedanken so daran hindern, sich auszubreiten.
„Sicher hat er das. Ich habe doch gesehen, wie er den Fremden manipuliert hat!“
Ich war so erschüttert, dass sich unser vertrautes Wohnzimmer samt der Couch, auf der ich gerade saß, plötzlich fremd und feindlich anfühlte. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle in meinem Bett unter die dicke Decke gerollt. „Er muss dem Fremden irgendwie Anweisungen eingepflanzt haben“, wisperte ich, zutiefst schockiert darüber, dass die Macht unseres Bürgermeisters – oder auch irgendeines Menschen - so weitreichend sein sollte, „Anweisungen, die über Stunden gehalten haben!“
Meine Mutter sah plötzlich klein aus auf ihrem Stuhl. Sogar jetzt noch, Jahre später, schien sie sich Vorwürfe zu machen.
„Du hättest den Unfall nicht verhindern können!“, sagte ich leise und strich ihr über die Haare. „Selbst wenn du den Hermanns erzählt hättest, was du beobachtet hast, hätten sie doch gar nicht gewusst, wozu der Bürgermeister ihren Gast bringen wollte. Außerdem hättest du wahrscheinlich auch dich und Papa und mich in Gefahr gebracht!“
„Genau das war damals mein erster Gedanke“, seufzte meine Mutter müde.
Wir schwiegen lange. Meine Mutter erging sich vermutlich in Selbstvorwürfen, ich hingegen versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.
Ich verstand, dass meine Mutter Angst vor der Macht des Bürgermeisters hatte. Sicher, wenn Bernd Henke herausfinden würde, dass sie ihn damals beobachtet hatte, wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit das nächste Opfer.
Trotzdem fand ich, dass er für seine Tat büßen sollte. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass meine Mutter mit ihren Beobachtungen und Schlussfolgerungen genau richtig lag: Um die Quelle und damit auch die Gabe zu verteidigen, war Sinas Vater jedes Mittel recht.
Fieberhaft überlegte ich, wie man ihm das Handwerk legen konnte.
Die Polizei fiel flach. Schließlich konnte meine Mutter schlecht in die nächste Polizeistation in Papenbrück marschieren und dort erzählen, was sie gesehen hatte. Man würde sie für verrückt halten!
Und wenn wir im Dorf verbreiteten, was wir wussten? Wenn erst das ganze Dorf eingeweiht wäre, würde das die Macht des Bürgermeisters brechen – schließlich konnte er nicht ganz Südental durch Unfalltode auslöschen lassen. Oder?
Andererseits: Falls wir die falschen Leute einweihten, konnte es sein, dass man uns sofort an Bernd Henke verriet – und dann wären wir in höchster Gefahr, da war ich mir sicher. Viele Leute im Dorf verehrten den Bürgermeister.
Außerdem wussten weder meine Mutter noch ich, inwieweit der Rat in die Morde – denn das waren all diese Todesfälle doch? – verwickelt war. Falls der Rat Bescheid wusste, gab es fünf weitere Männer im Dorf, an deren Ohren unser Geheimnis auf keinen Fall dringen durfte.
Ich überlegte hin und her.
„Anonyme Briefe“, murmelte ich halblaut. „Wir schreiben den Dorfbewohnern anonyme Briefe. Oder – ha! – wir verraten das Geheimnis der Quelle im Radio! Oder im Fernsehen – in einer Talkshow! Wenn jeder von der Quelle weiß, verliert ganz Südental seine Macht – und unser Bürgermeister kann niemanden mehr hier gefangenhalten!“
Geradezu entsetzt sah meine Mutter mich an. „Luise! Bist du verrückt geworden? Hör auf, so etwas auch nur zu denken! Das Geheimnis der Quelle ist die Basis für unser aller Wohl! Für dich ist es vielleicht schwer zu verstehen, weil die Gabe bei dir gerade erst erwacht ist, aber dein Vater und ich können uns ein Leben ohne sie überhaupt nicht vorstellen! Es wäre, als würde jemand uns die Augen ausstechen oder das Gehör abschalten. Undenkbar!“ Ihre Miene verschloss sich. „Ehrlich gesagt, manchmal habe ich schon darüber nachgedacht, ob Bernd nicht im Recht war, damals wie heute. Wenn du es genau wissen möchtest – das ist der Grund, warum ich all die Jahre geschwiegen habe. Er ist der Ortsvorsteher, seit Generationen lenken die Henkes die Geschicke des Dorfes im Sinne der Quelle. Warum glaubst du werden sie wieder und wieder gewählt? Die Gabe war und ist mit ihnen sicher. Und wenn ein Südentaler sich abwenden möchte und damit das kollektive Geheimnis in Gefahr gerät – hat Bernd Henke als Ortsvorsteher da nicht einfach nur getan, was getan werden musste?“
„Das denkst du doch wohl nicht wirklich?!“ Ich konnte nicht glauben, was meine Mutter da von sich gab!
„Ich weiß nicht, was ich denken soll, Luise.“ Meine Mutter stand auf und strich ihre Haare glatt. Ganz plötzlich sah sie wieder aus wie immer, ganz so, als hätten wir in der letzten halben Stunde über das Wetter geplaudert. „Komm jetzt, lass uns den Tisch decken und das Essen aufwärmen, Michael kommt gleich!“
Es war mir völlig egal, ob mein Vater, ein Lieferant oder der Postbote gleich kommen würde, obwohl ich mich sonst immer auf meinen Vater freute. Ich blieb wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa sitzen.
In der Küchentür drehte sich meine Mutter noch mal zu mir um. „Ich finde es wichtig, dass du gewarnt bist. Tu nichts Unbedachtes, was diesen Jungen betrifft. Und pass vor allen Dingen auf, was du Sina erzählst!“
Wir sprachen an diesem Abend nicht mehr über das Thema. Ich spürte deutlich, dass meine Mutter gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen und dass sie nicht willens war, das Gesagte noch weiter mit mir zu diskutieren.
Ich verbrachte den Abend allein in meinen Zimmern und tat so, als würde ich lesen. Eigentlich trafen sich alle Südentaler Jugendlichen heute bei Sina. Sie wohnte in einem riesigen, alten Gutshof, dessen hübsche Fachwerkfassade längst hinter langweiligem, grauem Putz versteckt worden war. Dort versammelten wir uns häufig, weil das Anwesen der Henkes über eine ausgebaute Scheune verfügte, die wie eine richtige Kneipe eingerichtet war – Flipper, Billardtisch, Theke und Tanzfläche waren ebenso vorhanden wie ein unglaubliches Licht- und Soundsystem. Ursprünglich hatte ich mich auf den Abend gefreut, wir hatten immer viel Spaß in Sinas „Spielzimmer“. Aber nach dem Gespräch mit meiner Mutter war mir die Lust auf einen Besuch des Henke-Anwesens gründlich vergangen. Ich hatte Sina angerufen und behauptet, ich hätte üble Kopfschmerzen.
Jetzt lag ich in meinem Schlafzimmer auf dem Bett, mein aufgeschlagenes Buch auf dem Bauch, und starrte an die Decke. Mich schockierte so vieles an dem Gespräch mit meiner Mutter, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
Was war eigentlich schlimmer? Die Tatsache, dass in Südental Menschen umgebracht wurden, oder die Tatsache, dass meine Mutter das in Ordnung fand? Oder vielleicht die Tatsache, dass unser aller hochverehrter Bürgermeister in der Lage war, anderen Menschen seine Gedanken regelrecht einzupflanzen? Er konnte nicht nur für einen Moment ihre Gedanken lenken, nein, er konnte sie für eine unbestimmte Zeit das denken lassen, was er wollte!
Oder sollte ich mich vielleicht lieber um mich selbst sorgen? Und mir Gedanken darum machen, dass ich möglicherweise in Gefahr war, wenn ich mich zu eng mit Leander einließ?
Ich war total neben der Spur und fühlte mich unendlich allein. An diesem Abend wünschte ich mir sehnsüchtig eine Schwester herbei, mit der ich das Gehörte hätte aufarbeiten können. Immer wieder ging ich in Gedanken die Menschen durch, mit denen ich normalerweise meine Probleme besprach. Meine Eltern waren ausnahmsweise einmal Teil des Problems. Wären sie nicht beide so versessen auf die blöde Gabe, könnte man einfach gemeinsam die Macht der Quelle brechen. Naja, mehr oder weniger einfach.
Wen hatte ich sonst? Sina fiel selbstverständlich flach, aber Hanna, Maria und sogar Ilona vertraute ich. Eigentlich. Wenn es nicht gerade um die Existenz meiner Familie ging. Was, wenn Hanna und Max doch wieder zusammen kamen? Max’ Vater saß im Rat. Was, wenn Ilona sich ihrer Mutter anvertraute? Ilonas Mutter und Sinas Mutter waren ganz dicke. Was, wenn Maria sich innerhalb der Clique verplapperte? Dazu neigte sie leider, es tat ihr jedes Mal furchtbar leid, aber es passierte trotzdem immer wieder.
Nein, in Südental konnte ich mich keinem anvertrauen – dieses Dorf war einfach zu klein. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass es bestimmt viele Südentaler gab, die für ihre geliebte Quelle buchstäblich über Leichen gehen würden. Vielleicht sogar über meine Leiche. So viel zu den Vorteilen Südentals und seiner tollen Dorfgemeinschaft.
Leander schob sich wieder und wieder vor mein inneres Auge. Das war selbstverständlich überhaupt keine Option. Ich kannte ihn nicht einmal und wenn ich ihn näher kennen lernen würde, würde das meine Probleme nur vergrößern. Es half alles nichts: Vorerst musste ich alles mit mir selbst ausmachen und mein Wissen für mich behalten.
Das ganze Wochenende lang igelte ich mich ein.
Ich sagte den Ausritt mit Hanna und Maria am Samstag ab und ging auch nicht mit den anderen Kanu fahren. Nachdem ich das Wort „Durchfall“ benutzt hatte, fragte zum Glück keiner weiter nach. Mein schlechtes Gewissen, weil ich eine Magen-Darm-Grippe vortäuschte, hielt sich in Grenzen – immerhin war mir die meiste Zeit tatsächlich übel.
Unser Grundstück verließ ich lediglich für meinen täglichen Besuch der Quellscheune, seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass ich es mir jetzt nicht leisten konnte, auf die Gabe zu verzichten.
Ich war wie betäubt.
Meine Welt war plötzlich kein sicherer Ort mehr. Und wenigstens das hatte mir Südental immer bieten können: Sicherheit.
Schon lange, seit ich von der Gabe wusste und erkannt hatte, dass Südental sich systematisch abschottete, um die Gabe zu schützen, empfand ich mein Heimatdorf als eng. Oft, wenn ich durch die hässlichen Straßen lief oder zu einer Veranstaltung in die Quellscheune ging und dort auf die immer gleichen Gesichter traf, packte mich ein intensives Fernweh, eine große, schmerzhafte Sehnsucht nach etwas anderem, nach mehr, nach dem Leben. Jetzt aber, seit ich wusste, welcher Methoden sich der Bürgermeister und höchstwahrscheinlich auch der Rat bedienten, um die Südentaler im Dorf zu halten, jetzt empfand ich die hässlichen Gassen als mein höchstpersönliches Gefängnis.
Ich fühlte mich nicht nur von Südental verraten, ich hasste auch meinen Eltern an diesem Wochenende und das ließ ich mir nach Kräften anmerken. Ich sprach wenig mit ihnen und wenn mein Vater oder meine Mutter mich versuchsweise anlächelten, lächelte ich nie zurück sondern drehte mich besonders kühl von ihnen weg. Leider ging es mir nach jeder dieser Begegnungen nur noch schlechter. Ich war so allein, dass es weh tat!
Wäre ich ein mutigerer Mensch oder ein trotzigerer Teenager gewesen, ich glaube, ich hätte an diesem Wochenende meine Sachen gepackt und wäre abgehauen. Egal wohin, Hauptsache, es wäre ein Ort ohne Quelle, ohne Gabe, ohne Morde gewesen. Ich ging in Gedanken wieder und wieder alle Vorbereitungen für diesen Schritt durch, legte eine Liste der Dinge an, die ich mitnehmen würde, verfasste im Geist sogar Abschiedsbriefe an meine Eltern – und blieb dann doch lethargisch, wo ich war.
Ich hasste sogar meine Zimmer an diesem Wochenende – meine herrlich in beruhigenden Grün- und Blautönen gestalteten, geschmackvollen Zimmer mit ihren bequemen Möbeln, dem hochwertigen Klavier, dem riesigen Fernseher samt Spielekonsole und den Bücherwänden. Ja, wie jedes Kind im Dorf hatte ich nahezu alles, was ich mir wünschen konnte. Außer dem, was ich mir am meisten wünschte: Freiheit.
Ein wenig erinnerte mich die Situation an meine Einweihung vor zwei Jahren, nur dass diesmal alles noch tausend Mal schlimmer war. Einweihung nennen wir in Südental das Gespräch, in dem wir von der Gabe erfahren. Meist entscheiden die Eltern, wann ihre Kinder so zuverlässig sind, dass sie das kollektive Geheimnis sicher tragen können. Der Zeitpunkt der Einweihung sollte auf jeden Fall einige Monate vor dem Erwachen der Gabe liegen, damit der betreffende Jugendliche im Gemeinschaftskreis auf seine Fähigkeiten vorbereitet werden kann.
Es ist ein bisschen so, wie wenn „normale“ Kinder erfahren, dass weder der Weihnachtsmann noch der Osterhase existieren. Blöde Eltern!, denken normale Kinder dann, die haben mich all die Jahre belogen. Nun, bei uns ist es noch etwas heftiger: Uns sagt man urplötzlich, dass die Gabe existiert und dass der gesamte Südentaler Wohlstand davon abhängt.
Zong!
Ich hatte ausgerechnet in meinem bislang einzigen Urlaub von der Gabe erfahren. Normalerweise reisten wir Südentaler nie, aber ich hatte meinen Eltern monatelang mit Frankreich in den Ohren gelegen, auf meine Geburtstagsgeschenke verzichtet und ihnen so viele Bildbände vorgelegt, dass sie schließlich selbst ein bisschen neugierig waren. Außerdem waren sie außerordentlich schlecht darin, mir Wünsche abzuschlagen.
Wir fuhren also los – eintausend dreihundert Kilometer weit in den Süden, an die französische Atlantikküste. Vier himmlische Tage lang hatte ich in den riesigen Wellen gespielt und mit meinem Vater Sandburgen gebaut. Ich war im siebten Himmel gewesen!
Die Sonne schien hier viel heller als zu Hause und alles war so weit! Und ich liebte den Geruch des Pinienwaldes, der unser Ferienhaus umgab! Aber meine Eltern wurden von Tag zu Tag nervöser und unglücklicher.
Ich hatte damals nicht begreifen können, warum. Plötzlich mieden sie Menschen, obwohl sie beide in Südental jede Menge Freunde hatten und auch bei ihren Kollegen beliebt waren. Sie blockten alle Versuche anderer Touristen, mit uns ins Gespräch zu kommen, schroff ab. Sie schickten mich vor, wenn es etwas zu fragen oder zu kaufen galt, angeblich, damit ich mein Französisch trainierte. Was natürlich Quatsch war, ich hatte gerade erst die siebte Klasse beendet und mein Französisch war praktisch nicht existent. Kurz: Sie verhielten sich völlig untypisch.
Als ich sie ängstlich darauf ansprach, das war am Abend des fünften Tages – meine Mutter lag seit Stunden auf der Gartenliege, mein Vater trank nervös ein Glas Wein nach dem anderen - erzählten sie mir zum ersten Mal die Wahrheit über die Gabe. Sie mussten es tun, denn sie hielten es fern der Quelle einfach nicht aus und wollten nach Hause.
Das Problem mit der Gabe ist nämlich, dass sie sich nirgendwohin mitnehmen lässt. Sicher, man kann die Quelle in Flaschen füllen und in den Koffer packen. Aber leider entpuppt sich das Quellwasser jenseits von Südental als ganz gewöhnliches Wasser. Spätestens am zweiten Tag fern der Heimat funktioniert die Gabe nicht mehr.
Meine Eltern, die in ihrem ganzen Erwachsenenleben noch keinen Tag ohne die Gabe verbracht hatten, reagierten auf ihre Abwesenheit total verängstigt und verstört.
Was also blieb ihnen? Sie weihten mich ein, es war ohnehin fast an der Zeit für mich. Die Einweihung war ein riesiger Schock für mich: Ich hatte wochenlang Alpträume – wenn man erfährt, dass alle Erwachsenen um einen herum über mächtige magische Fähigkeiten verfügen und diese selbstverständlich auch einsetzen, dann erschüttert das das Weltbild gewaltig. Und egal, wie oft meine Eltern auch beteuerten, dass sie meine Gedanken nicht lesen oder lenken konnten – ich glaubte ihnen nicht hundertprozentig. Tagelang ging ich ihnen aus dem Weg und unser Verhältnis besserte sich nur sehr allmählich wieder. Damals hatten mir die Gespräche mit meinen Freundinnen sehr geholfen: Sina, Hanna und Maria hatten das Gleiche durchgemacht wie ich – inklusive der rasenden Wut auf ihre Eltern – und trösteten mich nach Kräften. Mit ihrer Hilfe kam ich über die Einweihung hinweg.
Auch jetzt hätte ich dringend Trost gebraucht, aber leider gab es diesmal niemanden, der das Gleiche durchmachte wie ich.
Also litt ich vor mich hin und war heilfroh, als der Sonntag endlich vorbei war und die Woche begann. Bloß weg von meinen egoistischen Eltern! Bloß weg aus Südental! Ich würde versuchen, in dieser Woche so wenig Zeit wie möglich im Dorf zu verbringen.