Читать книгу Im Bann der Quelle - Karin Spieker - Страница 5

3.

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Das Herz unseres Dorfes, der Ort, an dem das ganze Dorf sich regelmäßig versammelte, war die Quellscheune.

Kein Uneingeweihter würde hinter der funktionalen, dunkelgrünen Holzfassade der Quellscheune mehr vermuten als eine große, landwirtschaftlich genutzte Lagerhalle.

Tatsächlich aber barg die Scheune unser aller Schicksal: Geschützt durch den uralten Quellpavillon und das Quellbecken sprudelte dort seit vielen Jahrhunderten die Gabe aus den Tiefen der Erde.

Jeder Südentaler benetzte seinen Kopf jeden Tag mit dem Wasser der Quelle, das täglich angewandt die Gabe des Gedankenlesens und -lenkens verlieh.

Die Gabe erwachte zwar erst zu Beginn der Pubertät, trotzdem trug man schon Säuglinge und kleine Kinder zur Quelle, um ihre Persönlichkeit zu schützen. Das Wasser der Quelle, täglich auf ihre Stirn gegossen, sorgte dafür, dass ihre Gedanken von Geburt an unlesbar waren.

Natürlich hätte man ihnen auch einfach von dem Geheimnis der Quelle erzählen können, um sie für alle Zeiten unlesbar zu machen, aber man war sich einig, dass das kollektive Geheimnis bei Kindern nicht gut aufgehoben war.

Auch ich war meine ganze Kindheit hindurch täglich mit meinen Eltern zur Quelle gegangen, obwohl ich nie so ganz verstanden hatte, warum. „Das Ritual macht dich zu einer Südentalerin“, sagten meine Eltern nur und ich stellte das nie in Frage, zumal alle, wirklich alle, die ich kannte, ebenfalls täglich zur Quelle pilgerten.

Inzwischen ging ich allein oder mit Sina zur Quellscheune. Wir vollzogen das kurze Ritual – Hand in die Quelle tauchen, Wasser schöpfen, Stirn benetzen – frühmorgens, vor der Fahrt zur Schule.

Nur donnerstags fiel der morgendliche Abstecher weg, denn alle Jugendlichen, bei denen die Gabe schon erwacht war, mussten sich jeden Donnerstagabend zum Gemeinschaftskreis in der Quellscheune einfinden und das Ritual gemeinsam vollziehen. Danach saßen wir auf den Bänken vor dem Quellpavillon und lernten, unsere Gabe vernünftig, verantwortungsbewusst und vor allem diskret einzusetzen. Es gab keinen festen Lehrer, der Kreis wurde von unterschiedlichen Freiwilligen geleitet, überwiegend von Müttern, die nicht arbeiteten - Sinas Mutter stand oft vor uns, Max’ Mutter ebenfalls.

Jede Woche diskutierten wir eine Leitfrage - z. B. „Welche Manipulationen sind genehmigungspflichtig, welche nicht?“ oder „Woran erkenne ich ein leichtes Opfer?“ oder „Wann lohnt sich Gedankenlesen? Wann lohnt es sich nicht?“

Danach tauschten wir persönliche Erfahrungsberichte aus, beratschlagten, was wir hätten anders machen können, wie wir uns verbessern könnten …

Das Ganze hätte auch eine Selbsthilfegruppe sein können, lästerte ich manchmal mit Hanna und Maria: „Mein Name ist Luise und ich habe da ein Problem. Ich kann die Gedanken der Metzgerin im Supermarkt nicht quer über die Ladentheke lenken. Ist das normal?“

Ich mochte die Gemeinschaftskreise nicht, weil ich selten etwas zum Thema „persönliche Erfahrungen“ beisteuern konnte. Außerdem gab es jede Woche eine Hausaufgabe und oft genug hatte ich nicht einmal die erledigt. Diese Woche sollten wir z. B. jemanden über eine Distanz von mindestens zehn Metern dazu bringen, seinen Blick auf ein von uns gewünschtes Ziel zu lenken. „Und seid diskret!“, hatte uns Sinas Mutter eingeschärft. „Es geht hier um kleine Manipulationen! Wenn auch nur eins eurer Opfer längere Zeit verwirrt aussieht, habt ihr zu viel getan!“

Die Schwierigkeit war selbstverständlich nicht die Manipulation der Blickrichtung, so etwas war Anfängerniveau. Gerade dann, wenn jemand seinen Blick sowieso gerade schweifen lässt, braucht man fast keinen Druck, um die Pupillen kurz umzulenken.

Nein, die Schwierigkeit lag in der Entfernung zur Zielperson! Sich auf eine Distanz von über zehn Metern überhaupt in jemanden zu versenken war ziemlich schwierig – zumindest für mich. Sina sah das selbstverständlich anders, zehn Meter Distanz waren für sie normalerweise ein Kinderspiel.

Aber egal, der hohe Schwierigkeitsgrad war nicht der Grund, weshalb ich meine Hausaufgaben noch nicht gemacht hatte, es noch nicht einmal versucht hatte. Nein, der eigentliche Grund war der, dass ich generell einen großen Widerwillen gegen das Gedankenlesen hatte. Und das Lenken von Gedanken empfand ich als nahezu aggressiven Akt.

Gedankenlesen ist beängstigend und merkwürdig:

Du konzentrierst dich auf dein Gegenüber, am besten auf die Augen. Du zwingst dein Opfer, sich dir zu öffnen. Du übst Druck aus, immer mehr, immer stärker.

Und dann ist es plötzlich, als würde etwas aufplatzen und du versinkst in deinem Gegenüber.

Diesen Moment fand ich scheußlich, vielleicht brauchte ich deshalb immer so lange, um ihn herbeizuführen. Es ist, als würde man durch eine Eisschicht schlagartig in kaltes Wasser krachen.

Plötzlich ist alles anders, das ganze Fühlen verändert sich.

Wenn man drin ist, im fremden Kopf, verliert man sich für kurze Zeit im anderen. Wie eine Lawine brechen die Gedanken und Gefühle des Gegenübers auf einen ein und verschwimmen mit dem eigenen Empfinden. Das kann furchtbar sein, man weiß nie vorher, in was man gerät! Es dauert einige Momente, bis man diese Masse neuer Gedanken geordnet und sich selbst wiedergefunden hat.

Und erst dann kann man die Gedanken lesen. Oder eben – was noch mehr Energie und Willenskraft erfordert – lenken, indem man seine eigenen Gedanken in die des anderen hineindrückt.

Ich hatte mich schon oft gefragt, warum ausgerechnet ich so ein Problem mit dem Vorgang hatte.

Die anderen liebten Gedankenlesen, Sina und Max behaupteten immer, es mache sie regelrecht high in den Köpfen von Fremden herumzuwühlen. Und ausgerechnet ich, die ich doch alles andere als menschenscheu war, war davon angewidert?

Einmal hatte ich mich getraut, mit meiner Mutter über mein „Problem“ zu sprechen. Darüber, dass es mir generell falsch vorkam, die Gabe anzuwenden. Darüber, dass ich mir gemein und gewalttätig vorkam, wenn ich es tat. Darüber, wie unangenehm ich es fand, in anderer Menschen Privatsphäre einzudringen.

Meine Mutter hatte mich verwundert angesehen. „Was du dir für Gedanken machst!“, hatte sie gesagt. „Gedankenlesen ist für mich ebenso selbstverständlich wie atmen oder sprechen – es gehört zu meinem Leben. Ich lenke jeden Tag Gedanken, ich merke es nicht mal mehr, es ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Wir können nun einmal mehr als andere Menschen, Luise, es ist nur natürlich, dass wir diesen Vorteil auch nutzen. Vielleicht brauchst du einfach mehr Übung? Damit du nicht über jeden einzelnen Vorgang so viel nachdenkst?“

„Vielleicht …“ Ich hatte mir auf die Lippe gebissen. Irgendwie bezweifelte ich, dass ich je genug Übung haben würde.

„Die Gabe macht unser Leben herrlich bequem, Luise, und wir sollten dankbar dafür sein. Die Menschen sind netter zu uns Südentalern, weil wir die Gabe besitzen. Sie halten uns die Türen auf, lassen uns jederzeit den Vortritt, entschuldigen sich für alles, machen Komplimente und“, ein breites Lächeln hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet, „lassen uns in Diskussionen jederzeit gewinnen! Sei dankbar, Luise! Du wirst schon noch dahinterkommen!“

Abschließend hatte sie mir eingeschärft, meine Zweifel für mich zu behalten. „Die Gabe bedeutet den Südentalern viel! Unser aller Wohlstand, unser aller Erfolg beruht auf ihr! Es wäre sicher nicht gut für uns, wenn du das öffentlich in Frage stellen würdest!“

Dieses Gespräch lag nun schon einige Wochen zurück und ich war immer noch keinen Schritt weitergekommen. Nein, ich fand es weiterhin nicht richtig, Menschen zu manipulieren. Ich wollte, dass man mir die Tür aufhielt, weil man mich mochte, vielleicht auch, weil ich nett lächelte oder meinetwegen auch einfach, weil die Sonne schien. Aber sicher nicht, weil ich Macht ausübte.

Schließlich war ich eine ganze Kindheit lang hervorragend mit meinen Mitmenschen zu Recht gekommen – ganz ohne die Gabe. Ich hatte meine Lehrer und Mitschüler immer gemocht und sie hatten mich gemocht.

Ich fand sogar, dass das Leben mit der Gabe komplizierter geworden war. Da Sina im Unterricht ständig in den anderen herumschnüffelte, stieß sie notgedrungen auch auf negative Gedanken über mich und teilte sie mir empört mit.

So wusste ich leider, dass einige Jungs in unserer Klasse mich zu dick fanden. Ich wusste, dass Kim mich für eine elende Streberin hielt, weil ich mich ständig meldete und auch noch richtige Antworten gab. Ich wusste, dass Niklas und Finn darüber spekulierten, ob ich noch ungeküsst wäre. Sofie fand meine Kleidung entsetzlich langweilig. Alina beneidete mich um meine fröhliche Ausstrahlung und hoffte, dass sie irgendwann einmal eine Leiche in meinem Keller ausgraben konnte. Und so weiter und so weiter.

Lauter nichtige, höchst normale Gedanken, von denen ich nie hätte erfahren sollen.

Im Bann der Quelle

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