Читать книгу Im Bann der Quelle - Karin Spieker - Страница 6

4.

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Es war Donnerstag und ich hatte meine „Hausaufgabe“ für den Gemeinschaftskreis schon wieder nicht erledigt. Ich hatte mich die letzten Male gedrückt, als es um die Erfahrungsberichte der Woche ging, es war nahezu sicher, dass ich heute Abend würde berichten müssen.

In der ersten großen Pause standen Sina und ich mit Kim, Johanna und Alina herum, so wie meistens. Die drei waren die einzigen Mädchen in der Klasse, die Sina um sich herum ertragen konnte. Was Alina und Kim betraf, war das kein Wunder: Die beiden waren eher schüchtern und himmelten Sinas überlegene Coolness an. Sina wusste das. Aus erster Hand natürlich, sie hatte in den Gedanken der beiden herumspioniert.

Mit Johanna war es eher das Gegenteil. Sie war sehr selbstbewusst, hatte einen gepiercten Nasenflügel, ein Sonnentattoo auf dem Oberarm, platinblond gebleichte Haare und die schrägsten Klamotten der Stufe. Hier war es Sina, die anhimmelte, und Johanna, die sich darin sonnte.

Insgeheim vermutete ich, dass Sina Johanna nur deshalb so gern mochte, weil es unheimlich schwierig war, in Johannas Gedanken einzudringen. Ich hatte es einmal versucht – natürlich nur wegen einer Hausaufgabe, wir sollten jemanden zum Gähnen bringen. Obwohl ich Johanna angefasst und ihr direkt in die Augen gesehen hatte, hatte ich ihre Gedanken nicht erreichen können.

Sina hatte es schon einmal geschafft, aber selbst sie gab zu, dass Johanna ein hartes Stück Arbeit war. Und sogar für Sina war es unmöglich, Johanna frei, also ohne jede Berührung, zu lenken. Sina und ich vermuteten, dass Johanna ihre Wahrnehmung grundsätzlich stark auf andere Menschen statt nach Innen richtete. Sie wirkte immer sehr wach, fast nervös, und beobachtete ihre Umgebung. Man erwischte sie nie in sich gekehrt in jenem Dämmerzustand, der es uns Gedankenlesern leicht machte.

Ich fand es schon interessant, dass ausgerechnet Johanna – neben mir natürlich - die einzige in der Klasse war, mit der Sina ein wenig befreundet war. Warum gab ihr das eigentlich nicht zu denken?

Ich mochte die meisten meiner Mitschüler, manche vielleicht sogar lieber als Alina, Kim und Johanna. Trotzdem stand ich meist mit Sina in unserem kleinen Trüppchen herum. In gewisser Weise fühlte ich mich am wohlsten dort. An Sinas Seite musste ich mich nicht wie eine Lügnerin fühlen. Und weder Alina und Kim noch Johanna gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen des großen Geheimnisses, das Sina und ich miteinander herum trugen. Die drei standen mir nicht nah genug, ganz einfach.

Gerade drehte sich das Gespräch um ein Video, das Alina irrsinnig lustig fand. Alina schien ganze Nachmittage lang lustige Videos zu sehen. Diesmal war es irgendetwas mit einem Spanisch sprechenden Hund, keine Ahnung, worum es genau ging, ich hörte nur mit einem Ohr zu. „Das müsst ihr euch rein tun! Das ist so geil, wie der abgeht!“, hörte ich sie sagen.

Kim bekam plötzlich einen glasigen Blick und bellte zwei Mal. Alle lachten und Sina lachte aus ihren eigenen Gründen am lautesten.

Ich warf ihr einen strafenden Blick zu. Immer und immer wieder tat sie so etwas! Und zuckte nicht einmal mit der Wimper dabei.

Heute Abend im Gemeinschaftskreis würde sie darüber sicher nicht sprechen, den Erwachsenen gegenüber gab sie sich gern ganz angepasst und zahm. Aber wenn die Clique sich das nächste Mal traf, würde sie mit ihren Heldentaten prahlen.

Ich seufzte. Sinas Aktion hatte mich daran erinnert, dass ich meine Hausaufgaben immer noch nicht erledigt hatte. Und allmählich lief mir die Zeit davon. Warum also nicht jetzt mein Glück versuchen? Ich sah mich auf dem Schulhof um. Nun gut. Wer stand ungefähr zehn Meter von mir entfernt? Da, ein paar Fünftklässler. Ach nein, die waren zu lebhaft, auf die Distanz würde ich es nie schaffen, einen von ihnen zu knacken. Rechts von mir standen einige Mädchen aus unserer Klasse, aber in deren Köpfe mochte ich nicht steigen.

Ich drehte mich suchend um. Ah – eine Gruppe von Elftklässlern. Das war besser. Vier Jungs standen im Kreis herum und unterhielten sich. Ein fünfter, den ich noch nie bewusst gesehen hatte, ließ den Blick gelangweilt über den Schulhof schweifen. Perfekt. Er war geistesabwesend, was ihn zum idealen Opfer machte. Vielleicht redeten die anderen auch gerade über lustige Videos und spanische Hunde. Vielleicht war er auch neu an unserer Schule und hatte noch nicht so recht Anschluss gefunden. Ich lächelte und fühlte mich irgendwie solidarisch mit ihm.

Verstohlen beobachtete ich ihn durch ein paar Haarsträhnen hindurch.

Der Typ war süß, keine Frage. Er trug die Uniform der meisten Jungs – lockere Jeans, graues T-Shirt, Turnschuhe. Groß war er – mit Sicherheit größer als ich! – und schlank. Ein bisschen schlaksig sogar. Er sah älter aus als die anderen – vielleicht lag das daran, dass er sehr dunkle, fast schon schwarze Haare hatte und sein Bartschatten deutlich schimmerte. Vielleicht lag es auch an seinen dunklen Augen, die ein wenig umschattet waren und seinem Gesicht etwas Melancholisches verliehen. Er sah sehr ernst und erwachsen aus. Oder wenigstens wie jemand, der schon einiges erlebt hat.

Plötzlich verspürte ich ein aufgeregtes Kribbeln bei dem Gedanken, dass ich schon bald wissen würde, was in diesem Kopf vor sich ging.

Ich durfte ihn doch lesen, oder? Nein, korrigierte ich mich, ich musste ihn sogar lesen. Was ich im Begriff war zu tun, hatte nichts mit Neugier auf einen Fremden zu tun, es war schlicht und einfach eine Hausaufgabe. Kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben.

Außerdem würde ich meine Aufgabe schnell erledigen, versprach ich mir. Rein, Blick lenken, raus. Keine Schnüffelei. Ich würde mich nicht in Sinas Niederungen begeben.

Der Dunkelhaarige starrte auf einen Punkt, der ein gutes Stück neben unserer kleinen Gruppe lag. Ich holte tief Luft. Also dann. Attacke. Gleich würde ich ihn dazu bringen, mir in die Augen zu sehen. Seltsamerweise beschlich mich nicht die übliche Panik, obwohl mein Herz bis zum Hals klopfte. Aber es war eher, nun, aufgeregte Vorfreude, die mich befiel, als säße ich in einer Achterbahn, die kurz vor dem Start war.

Ich senkte den Kopf und ließ meine Haare nach vorn fallen, so dass mein Gesicht einigermaßen bedeckt war. Durch den Haarvorhang hindurch sah ich mein Opfer an und blendete nach und nach alle Geräusche um mich herum aus, bis ich das Gefühl hatte, dass das Gesicht des Dunkelhaarigen und ich allein auf der Welt waren. Langsam baute ich Druck auf so wie ich es gelernt hatte. Und zog an. Und zog an.

Ich fühlte, dass ich anfing zu schwitzen. Trotzdem drückte ich weiter. Ich wollte in seinen Kopf. Unbedingt, auch wenn dieser Kopf vielleicht sogar mehr als zehn Meter weit entfernt war.

Und dann brach die Eisdecke ganz plötzlich ein. Nur, dass es diesmal keine Eisdecke war, eher eine dünne Schicht aus erkalteter Lava, unter der es brodelte.

Ich tauchte ein in ein Meer aus Wut. Ich sah einen Mann in den mittleren Jahren mit einem dunkelgrauen Anzug, mit Hemd und Krawatte, der an einem Schreibtisch saß. Ich fühlte geballte Fäuste und zusammengebissene Zähne. Eine hübsche, dunkelhaarige Frau, die auf einem Sofa lag und weinte. Eine Welle von Traurigkeit.

Ich zappelte mich mühsam aus diesen Emotionen frei. Sobald ich wieder etwas klarer denken konnte, ahnte ich, dass ich gerade Szenen eines Scheidungsdramas gesehen hatte. Mein Opfer war wütend, weil sein Vater seine Mutter verlassen hatte. Deshalb starrte er so düster vor sich hin. Und das erklärte vielleicht auch, warum ich ihn nie zuvor gesehen hatte: Bestimmt war er mit seiner Mutter nach der Trennung umgezogen.

Plötzlich schämte ich mich fürchterlich!

Was tat ich hier? Er wollte ganz bestimmt nicht, dass ich so intime Dinge über ihn wusste - wie sehr die Trennung seiner Eltern ihn mitnahm, wie wütend er war. Genauso gut hätte ich sein Tagebuch klauen oder in seiner Unterwäsche wühlen können. Ich war ein furchtbarer Mensch!

Andererseits: Ich hatte es erstmals geschafft, über eine größere Distanz in einen Kopf einzudringen. Zum ersten Mal würde ich mich im Gemeinschaftskreis nicht wie eine totale Versagerin fühlen, was den Umgang mit der Gabe betraf. Und jetzt, wo ich schon mal im Kopf war, war die eigentliche Hausaufgabe ein Klacks. Der Schaden war angerichtet, ich hatte ziemlich intimes Zeug gelesen, dagegen war ein umgelenkter Blick doch gar nichts, oder? Am besten erledigte ich meinen Kram einfach.

„Sieh mich an! Sieh mich an! Sieh mich an!“, dachte ich langsam und konzentriert in seine Emotionen herein. Und tatsächlich: Sein Blick verschleierte sich noch mehr und er drehte den Kopf und sah mich mit seinen großen, dunklen Augen an.

Geschafft. Die blöde, blöde Aufgabe, endlich erledigt.

Ich wollte nur noch raus aus seinem Kopf, keinen unnötigen Moment länger dort verharren.

Und dann, während ich seine Gedanken verließ, wichen Wut und Traurigkeit zurück. Plötzlich sah ich mich selbst durch seine Augen und wie ein Blitz erschien dazu dieses eine Wort: „Wow!“

Dieses „Wow!“ begleitete mich den ganzen Tag.

Ich holte es nach der Pause ungefähr tausend Mal im Chemieunterricht hervor.

Ich spürte es während der Busfahrt.

Zu Hause lag ich eine geschlagene Stunde damit auf dem Bett.

„Wow!“

Immer wieder spulte ich diesen winzigen Moment auf dem Schulhof vor meinem inneren Auge ab. Ich konnte mich gar nicht genug daran erinnern.

Ich war in seinem Kopf gewesen, ich wusste, dass dieses „Wow!“ bei meinem Anblick durch seinen ganzen Körper gezuckt war, genau, wie es durch meinen gezuckt war.

Was hätte ich gelesen, wenn ich noch länger in seinem Kopf geblieben wäre? Was hatte er nach dem „Wow!“ wohl gedacht? Hatte er mich noch länger angesehen? Hatte er mich weiterhin hübsch und interessant und attraktiv gefunden oder war ihm irgendwann aufgefallen, dass Sina neben mir weit zierlicher und cooler war als ich?

Sollte ich morgen einfach wieder in seinen Kopf steigen und es herausfinden? Die Versuchung war groß – dieser Moment, in dem wir uns angesehen hatten war unglaublich schön gewesen. Ich wollte mehr davon, definitiv!

Aber dann erinnerte ich mich auch wieder an die Scham, die ich empfunden hatte, und daran, was ich sowieso über die Gabe dachte, und war wild entschlossen, der Versuchung zu widerstehen. In die Augen sehen konnte ich ihm ja trotzdem morgen. Und mich mit meinem eigenen kleinen „Wow!“ zufrieden geben.

Als ich am frühen Abend zur Quellscheune ging, war mir klar, dass ich im Gemeinschaftskreis nicht die ganze Geschichte erzählen würde. Da hatte ich ein einziges Mal meine Hausaufgaben nicht nur gemacht, sondern die Aufgabe auch noch mit Bravour gemeistert, und schon wieder hoffte ich, dass ich nicht aufgerufen würde.

Ich wäre mir albern vorgekommen, wenn ich allen erzählt hätte, was sich heute zwischen mir und dem fremden Dunkelhaarigen abgespielt hatte. Die Kommentare der anderen konnte ich mir lebhaft vorstellen, sie hätten mein Erlebnis garantiert ins Lächerliche gezogen. Nein, diese kleine, herrliche Sekunde gehörte mir allein.

Und dann war da noch etwas. Etwas, das sich erst nach meiner stundenlangen Schwärmerei in mein Bewusstsein geschlichen hatte und seitdem leise an mir nagte: Ich hegte, nun ja, irgendwie, ziemlich eindeutig romantische Gefühle für diesen rätselhaften, hochinteressanten Unbekannten, oder? Ich wünschte mir brennend, ihn morgen wiederzusehen, vielleicht sogar mit ihm zu reden, mehr über ihn zu erfahren, noch einmal in seine dunklen Augen zu sehen, einfach so, ohne zu wissen, was er dachte, und … Und ich wusste selbstverständlich, dass der Fremde kein Südentaler war!

Leider ließen diese beiden Erkenntnisse zusammen nur einen Schluss zu: Ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen eindeutig verbotenen Pfad begeben.

Schon deshalb durfte ich keinem davon erzählen, was heute wirklich passiert war.

Wir waren zu neunt im Kreis. Paul war erst seit einigen Wochen bei uns, Lukas ebenfalls, obwohl die Gabe bei ihm noch nicht erwacht war. Titus und Ilona würden uns noch ein paar Monate erhalten bleiben. Sie waren zwar strenggenommen beide erwachsen, aber die „echten“ Erwachsenen im Dorf forderten, dass wir den Gemeinschaftskreis wenigstens so lange besuchen sollten, wie wir zur Schule gingen oder noch in der Ausbildung waren.

Titus… Der Gedanke an ihn war auf einmal gar nicht mehr aufregend oder auch nur interessant. Titus war ein netter Junge. Ein guter Kumpel. Ein klasse Typ mit schönen, dunklen Haaren und einem putzigen Grübchen in der rechten Wange. Aber nichts in mir zuckte aufgeregt bei dem Gedanken, dass ich gleich eine ganze Stunde mit ihm im Gemeinschaftskreis sitzen würde. Ich ahnte, dass sich meine kleine Schwärmerei für ihn mit dem heutigen Tag erledigt hatte.

Als ich in der Quellscheune ankam, hatten die anderen schon die Sessel und das rollende Whiteboard hervor geholt. Unsere Scheune sollte an eine Laube im Wald erinnern, ich fand allerdings, dass es eher wie eine Hochzeitskappelle in Las Vegas aussah. Der Raum war einfach zu kitschig: Wie immer war der steinerne Quellpavillon in der Scheunenmitte mit Farbwechsel-LEDs magisch beleuchtet, unter der Decke hatte man künstliche Efeuranken mit kleinen Lichtern daran befestigt. Fehlte nur noch künstliches Vogelgezwitscher.

Feierlich, weil unter Beobachtung, bremste ich meinen Gang, sobald ich über die Schwelle der Scheune getreten war und schritt zum Pavillon, wo ich um Anmut bemüht meine Hand ins Becken tauchte und langsam zur Stirn führte. Normalerweise rannte ich durch die Scheune und klatschte das Wasser nur schnell ins Gesicht.

Ausnahmsweise leitete Sinas Vater - Herr Henke! Er war einer der wenigen Väter, die wir nicht beim Vornamen nannten - die Runde. Als Bürgermeister ließ er es sich nicht nehmen, von Zeit zu Zeit für die Erziehung der Jugend zu sorgen, wie er gern betonte. Das bedeutete, dass ich mich ausgerechnet heute besonders gut konzentrieren und mich rundum angepasst geben musste.

Sinas Vater mochte mich sowieso nicht besonders. Kein Wunder, er war sehr streng, sehr konservativ, legte größten Wert auf sein stets tadelloses Äußeres und war grundsätzlich mit furchtbar wichtigen Dingen beschäftigt. Von Sina wusste ich, dass er mich für undiszipliniert und schlampig hielt. Wenn er mich überhaupt je ansah, lag in seinem Blick der gleiche Ausdruck, mit dem Sina unsere Biolehrerin Frau Schulte betrachtete. Sicher hielt er mich nicht für den richtigen Umgang für sein kostbares Töchterchen!

Nun, heute kam mir seine Abneigung gelegen, bewog sie ihn doch dazu, nicht allzu lange bei meinen Heldentaten zu verweilen.

Nachdem alle einander begrüßt und Platz genommen hatten, eröffnete Bernd Henke den Gemeinschaftskreis mit der Abfrage der Hausaufgaben.

Irgendwie mogelte ich mich durch meinen Erfahrungsbericht. Erzählte davon, wie schwierig es gewesen war, die Schulhofgeräusche auszublenden, davon, wie ich meine Haare als Versteck genutzt hatte, wie es mir schließlich gelungen war, die Gedanken der Zielperson festzuhalten und den Blick zu lenken. Es klang einfach und unkompliziert, wenn man es so erzählte und alle Emotionen aus der Erzählung herausließ.

Warum sah mich Sinas Vater trotzdem so seltsam an? So missbilligend? Oder bildete ich mir das ein? „Sieht aus, als kämst du langsam dahinter!“, stellte er nüchtern fest, als ich geendet hatte. Er hatte keine weiteren Fragen. Schon wandte Bernd Henke sich von mir ab und dozierte: „Es ist für Anfänger nicht ganz einfach, in einer unruhigen Umgebung überhaupt die nötige Konzentration zu finden. In Luises Fall war es klug, dass sie ihre Haare genutzt hat, um sich von äußeren Reizen abzuschotten. Außerdem hat der Haarvorhang noch einen weiteren Vorteil … Titus, welchen?“

„Niemand wundert sich, warum der Gedankenleser merkwürdig schaut. Niemand stellt eine Verbindung her zwischen dem glasigen Blick der Zielperson und dem Manipulierenden.“

Sinas Vater nickte zufrieden. „Ganz genau. Und das bleibt das Wichtigste! Für euch alle! Benutzt die Gabe unbemerkt!“

Erleichtert stieß ich Luft aus. Mein geheimes „Wow!“ war außer Gefahr. Langsam erlaubte ich meinem Körper, sich zu entspannen.

Thema des heutigen Kreises war – wieder einmal! – „Die Gabe schützen – das kollektive Geheimnis wahren“. Gähn. Ich fragte mich, wie Titus und Ilona das aushielten. Sie hatten ihre Gabe jetzt seit mindestens fünf Jahren. Genauso lange nahmen sie am Gemeinschaftskreis teil.

Dennoch referierte Titus mit einer Engelsgeduld darüber, welche Sicherheitsvorkehrungen man bei Anwendung der Gabe treffen konnte, wenn man nicht über einen Haarvorhang wie ich verfügte. Selbst ich hatte das Gefühl, dass alles schon tausend Mal gehört zu haben:

Zeitung. Ecke. Jemandem den Rücken massieren. Nase putzen. Schal zurechtrücken. Sonnenbrille aufsetzen. Und gähn. Und gähn. Und gähn.

Warum ließ Sinas Vater zu diesem Thema nicht mal seine Tochter zu Wort kommen? Was Sicherheitsvorkehrungen betraf, versagte Sina im echten Leben nämlich total! Andererseits würde kein Fremder Sina je etwas ansehen und hinter ihr Geheimnis kommen – sie war einfach zu gut, wenn sie las oder lenkte.

Sinas Vater nickte Titus zufrieden zu. „Wir sollten jetzt noch einmal darüber sprechen, warum es besser für uns alle ist, wenn wir uns nicht mit Menschen von außerhalb anfreunden“, bestimmte er. „Ich weiß, dass dieses Gebot nicht von allen eingesehen wird, aber es existiert nun einmal. Max, fällt dir etwas dazu ein?“

Sarah Feldmann und ihr toter Freund fielen mir ein. Das war der Grund, warum wir uns besser nicht mit Fremden einließen. Aber ich war mir sicher, dass unser guter Herr Bürgermeister diese Geschichte nicht diskutieren wollen würde. Über die Schattenseiten der Gabe sprach man mit ihm besser nicht.

„Jemandem, der keine Familie in Südental hat, wird man nie hundertprozentig trauen können.“ Max lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Basta. Max glaubte das tatsächlich, merkte ich verärgert.

Der Bürgermeister nickte anerkennend. „Völlig richtig, genau das ist der Punkt. Aber warum ist das so?“ Er legte sein gleichmäßig gebräuntes, scharf geschnittenes Gesicht gekonnt in konzentrierte Falten und ließ seinen Späherblick über uns Nachwuchsbürger wandern. „Hanna?“

Ausgerechnet Hanna. Ich war mir ziemlich sicher, dass ihr gerade ähnliche Dinge wie mir durch den Kopf gingen. Bestimmt dachte sie auch an Sarah.

„Warum das so ist?“, fragte Hanna und setzte sich auf. Ihre Augen funkelten und einen Moment lang dachte ich, sie würde sich mit Sinas Vater anlegen. Dann aber schüttelte sie nur sanft den Kopf. „Entschuldigung. Es fällt mir gerade nicht ein.“

Ich entspannte mich. Gut so, Hanna. Ich sah sie an und schickte ihr ein Lächeln hinüber.

Herr Henke sah jetzt seine Tochter an. „Nun, Sina, dann erklär du es uns bitte.“

„Dafür gibt es vor allem einen Grund“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. So rebellisch sie sich sonst auch verhielt, ihrem Vater gegenüber war sie fromm wie ein Lämmchen. „Jeder, der unser Geheimnis kennt, wird immun gegen die Gabe. Sollte es also je ein Fremder schaffen, eine breite Masse über Südental zu informieren, wäre die Macht der Quelle gebrochen. Wir könnten niemanden mehr lesen oder lenken.“

Feierlich zitierte sie, was uns wieder und wieder eingebläut worden war: „Für das Fortbestehen von Südental ist entscheidend, dass niemals auch nur ein einziger Fremder von der Macht der Quelle erfährt! Denn durch sein Wissen kann ein einziger Fremder uns alle zerstören!“

„Richtig“, nickte der Bürgermeister. „Sehr gut, Sina!“ Ich wunderte mich, dass er ihr nicht Beifall klatschte. „Aber was, wenn euch ein Fremder hoch und heilig verspricht, dass er das Geheimnis für sich behalten wird? Könnt ihr ihm trauen?“

„Nein!“ Sina schüttelte energisch den Kopf, so dass ihre dunklen Strähnen flogen. „Das Problem ist nämlich, dass ein Fremder nichts zu verlieren hat, wenn er unser Geheimnis verrät. Nichts, außer unserer Zuneigung. So lange wir also eine wirklich enge Beziehung zu dem Geheimnisträger pflegen, ist das Geheimnis eventuell sicher. Nach einem Streit aber oder sogar nach Beendigung der Beziehung gibt es für den Geheimnisträger überhaupt keinen Grund mehr, dichtzuhalten. Und wir Südentaler haben keine Chance mehr, seine Gedanken zu steuern und ihn damit in Schach zu halten.“

Der Bürgermeister lächelte Sina an. „Völlig richtig, Sina.“

Dann sah er sehr ernst in die Runde. „Ich kann es gar nicht oft genug wiederholen: Eine einzige zu enge Beziehung, ein einziges verratenes Geheimnis könnte uns alle ruinieren! Vergesst das nie!“

Selbst wenn ich wollte, könnte ich das nie vergessen, dachte ich. Woche für Woche hämmerte man es in meinen Schädel: „Lass dich nie mit Fremden ein! Fremde können alles zerstören!“ Es war ein bisschen wie Gehirnwäsche.

Lukas hob die Hand. „Und was ist, wenn ich eine enge Beziehung zu einem Fremden pflege und ihm nie, niemals etwas über die Gabe verrate?“

„Nun“, Herr Henke zuckte die Schultern, „der Rat und ich, wir halten auch das nicht für wünschenswert. Das Risiko ist zu groß, dass du dich doch mal verplapperst. Außerdem: Wenn du eine enge Freundschaft zu einem Fremden eingehst – wie willst du ihn auf Dauer von Südental fernhalten? Wie willst du verhindern, dass er sich Fragen stellt? Früher oder später wirst du ihn manipulieren müssen, ohnehin wirst du stetig lesen, wie weit er dir schon auf die Schliche gekommen ist. Eine echte Freundschaft ist unter diesen Umständen unmöglich, oder?“

„Wahrscheinlich schon“, gab Lukas zu.

Leider musste selbst ich dem Bürgermeister in diesem Punkt Recht geben. Ich hatte mehrfach versucht, gegen die Regeln Freundschaften außerhalb Südentals zu pflegen. Aber wenn man quasi in einer Parallelwelt lebt, ohne dass man je darüber sprechen darf, stellt sich die Vertrautheit, von der Freundschaften leben, nie ein. Alles, was mir Freundschaften mit Ortsfremden bislang gebracht hatten, war das Gefühl, ein verlogenes Aas zu sein. Unwillkürlich dachte ich an mein „Wow!“.

„Aber es gibt doch Ausnahmen“, sagte Ilona ruhig. „Meine Mutter zum Beispiel ist eine Fremde. Pauls Vater auch.“

„Sicher. Es leben viele Leute im Dorf, die nicht in Südental geboren sind. Alle diese Zugezogenen haben aber zwei Dinge gemeinsam: Sie haben außerhalb von Südental keine Familie und sie waren hundertprozentig bereit, sich unserer Dorfgemeinschaft anzuschließen und nach unseren Regeln zu leben. Sie alle sind lange Zeit vom Rat gründlich gelesen worden, bevor die Beziehungen enger wurden. Und das Wichtigste: Sie waren einverstanden, alle Brücken nach außen abzubrechen.“

Immer wieder schob sich die Szene von heute Morgen vor mein inneres Auge. Ja, gestand ich mir ein, gegen alle Regeln wollte ich diesen Fremden näher kennenlernen. Und ich war nicht sicher, ob meine Vernunft auf Dauer gegen diesen Wunsch gewinnen würde.

Im Bann der Quelle

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