Читать книгу Im Bann der Quelle - Karin Spieker - Страница 7

5.

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Am nächsten Morgen konnte ich das Klingeln zur ersten großen Pause kaum erwarten. Mir war ausnahmsweise gleichgültig, worum es in Mathe ging, obwohl das sonst eins meiner Lieblingsfächer war. Ich konnte nur an die fremden Gedanken von gestern Vormittag denken. Wenn ich ehrlich war, dachte ich auch ganz kräftig an den dazugehörigen Jungen und seine dunklen Augen, in denen sich so deutlich seine Gefühle gespiegelt hatten.

Würde er heute wieder da sein? Hatte mich das überhaupt zu interessieren?

Hatte es natürlich nicht.

Sei nicht albern Luise, konzentrier dich auf den Stoff, nächste Woche schreibst du eine Arbeit und wenn du dann keine Gedanken lesen möchtest, solltest du jetzt besser aufpassen!

Aber egal, wie gut ich mir zuredete: Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz bis zum Hals schlug, als es nach der Mathestunde klingelte.

„Geh schon mal runter, ich muss noch schnell für kleine Mädchen!“, behauptete ich Sina gegenüber. Ich war heilfroh, dass sie mir glaubte und mit Johanna, Kim und Alina verschwand. Auf der Toilette rückte ich mein Top gerade, bürstete hektisch meine Haare und trug sogar ein wenig farbloses Lipgloss auf. Sehr, sehr untypische Handlungen für mich, hoffentlich bemerkten die anderen nichts! Dann machte ich mich mit immer noch klopfendem Herzen auf den Weg nach unten.

Ich sah ihn sofort, als ich aus dem Schulgebäude hinaus ins Freie trat. Er stand mit seinen Klassenkameraden unter der alten Kastanie, genau wie gestern. Aber heute sah er kein bisschen düster aus, im Gegenteil, gerade lachte er über irgendetwas, das sein Nebenmann zu ihm gesagt hatte. Lachend sah er fast noch besser aus, stellte ich nervös fest.

Eigentlich hatte ich ihn in Gedanken ja „Der dunkle Fremde“ getauft. Sollte ich das noch mal überdenken? Ihn „Der fröhliche Fremde“ nennen, bis ich endlich seinen Namen herausgekriegt hatte? Nein, „Der dunkle Fremde“ klang eindeutig romantischer, mehr nach Romanheld. Da konnte er lachen, so viel er wollte.

Ich löste mühsam den Blick von meinem romantischen Helden, ging hinüber zu Sina und den anderen und klinkte mich in die Unterhaltung ein. Nach wenigen Sätzen fühlte sich alles ganz normal an, mein Herzschlag beruhigte sich wieder. Kim erzählte von einer Party, auf der sie am Wochenende gewesen war: total viele Leute, total süße Jungs, auch welche aus der Oberstufe, total viel Alkohol, ehrlich. Prompt sah Sina wütend aus, was ich verstand. Wenn andere von Partys erzählten, wallte auch in mir der Neid auf.

Partys waren für die Südentaler Jugend völlig tabu, denn die Kombination aus Alkohol und durchdrehenden Hormonen wurde von den Erwachsenen als äußerste Bedrohung für das kollektive Geheimnis betrachtet.

Sina ließ sich nicht einen Millimeter auf Kims Bericht ein. Stattdessen prahlte sie mit unseren regelmäßigen Südentaler Open-Air-Kinoabenden, sobald Kim verstummte. „Eine riesige Leinwand und jede Menge Sitz- und Kuschelkissen auf dem Rasen. Irre romantisch, das Ganze!“ Alina und Kim machten dann auch prompt „Oh!“ und „Ah!“ und Sina lächelte zufrieden.

Kurz darauf zog Johanna Sina am Ärmel. „Rauchen wir noch eine?“, wollte sie wissen.

Natürlich. Auch das noch. Neuerdings rauchten Johanna und Sina heimlich hinter der Schule und taten so, als wäre Rauchen nicht extrem dämlich und ungesund, sondern cool und erwachsen. Wirklich, manchmal war mir Sina so fern, als wären wir auf verschiedenen Planeten aufgewachsen.

Kaum waren Johanna und Sina abgezogen, erzählte Kim wieder von ihrer Party. Diesmal gab es keine Sina, die ihre Geschichte abblockte, und so kam Kim recht schnell auf das einzig interessante Detail zu sprechen: Sie hatte am Samstag einen Jungen kennengelernt und die beiden hatten ihre Nummern getauscht. Und bisher hatte sie nichts davon erzählen wollen, weil sie sich nicht sicher gewesen war, ob er überhaupt an ihr interessiert war. Aber gestern, da habe er sie angeschrieben und um ein Date gebeten. Eis essen, heute Nachmittag.

„Oh, wie klasse!“, ich lächelte sie warm an. „Wer ist es denn? Ist er hier auf unserer Schule?“

Kim lächelte zurück. Ihre Wangen röteten sich und sie nickte. „Ja. Wartet, ich zeige ihn euch. Seht ihr die Jungs da hinten, beim Baum? Die Elfer?“

Was für eine Frage! Ich war regelrecht fixiert auf die Elfer beim Baum! „Seht ihr den Typen mit dem roten T-Shirt? Den mit der Brille, der ein bisschen aussieht wie Harry Potter?“

Klar sah ich den, er stand direkt neben meinem dunklen Fremden. Ich hatte ihn schon öfter gesehen, er sah wirklich ein bisschen aus wie der berühmte Zauberer mit seiner runden, prägnanten Brille. „Der ist es, das ist Patrick!“ Sie lächelte glücklich. „Süß, oder? Und der Typ daneben, der Dunkelhaarige, mit dem war er auf der Party. Ist auch ganz süß, nicht?“

Ich nickte, vielleicht etwas zu enthusiastisch.

Kim plapperte zum Glück unbeirrt weiter. „Aber er hat einen komischen Namen – Leander heißt er.“

Alina kicherte.

Mein Herz nahm wieder an Fahrt auf, während wir zu den beiden hinüber sahen. Leander also. Ich fand den Namen schön. Leander, das war ein Name aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Romantisch und traurig zugleich. Sehr passend für meinen düsteren Romanhelden.

„Und?“ Ich bemühte mich, einigermaßen gleichgültig zu klingen, dabei interessierte mich brennend, was Kim über Leander wusste. „Dieser Leander – der ist neu an unserer Schule, oder?“

Kim nickte, sah dabei aber nur Harry Potter an. „Glaube schon. Ich hab mich nicht allzu viel mit ihm unterhalten, schließlich stand Patrick direkt daneben!“ Sie kicherte glücklich. „Aber – doch, du hast Recht. Er hat erzählt, dass er gerade erst mit seiner Mutter hergezogen ist. Hat vorher in der Nähe von Köln gewohnt. Seine Eltern haben sich scheiden lassen, glaube ich …“

Hatte ich also richtig gelegen.

Armer Leander. In unserem Alter bildet man sich gerne ein, dass man seine Eltern nicht mehr braucht. Wenn sie dann aber plötzlich nicht mehr beide ständig zur Verfügung stehen, merkt man wahrscheinlich schnell, wie sehr man doch noch an ihnen hängt. Zumindest schien Leander in seiner Stufe schnell Anschluss gefunden zu haben, tröstete ich mich über meine Welle von Mitleid hinweg.

Kim starrte weiterhin hinüber zu den Elfern und endlich bemerkte ihr Patrick sie. Er stieß Leander mit dem Ellbogen an und ich sah die beiden kurz tuscheln. Dann kamen sie zu uns hinüber, Patrick mit einem breiten, Leander mit einem angedeuteten Lächeln im Gesicht, das bei mir sofort nervöses Herzrasen auslöste.

Kim und Patrick begrüßten einander etwas verlegen, aber begeistert. Ich sah konzentriert zu Boden und ließ meine Haare über meine verdächtig warmen Wangen fallen. Normalerweise bin ich überhaupt nicht schüchtern, im Gegenteil, aber über Leander wusste ich schon zu viel, als dass ich ihm unbefangen hätte entgegenstrahlen können. Das „Wow!“ von gestern – war das erst gestern gewesen? – stand laut und bedeutsam zwischen uns. Und er wusste es nicht einmal! Was für eine absurde Situation.

„Das sind Luise und Alina“, drang Kims Stimme durch meine Gedanken. Mühsam hob ich den Blick und sah die Neuankömmlinge an.

„Hi“, brachte ich heiser hervor. Hilfe, die beiden würden mich für minderbemittelt halten, wenn ich mich nicht zusammen riss!

Leander streckte die Hand aus und sah mich an. „Freut mich, dich kennen zu lernen, ich bin Leander“, sagte er schlicht.

Ich ergriff die mir angebotene Hand und starrte ihn wie hypnotisiert an. „Luise“, krächzte ich, ohne mich aus seinem Blick lösen zu können.

Und Zong! Plötzlich brach ich ein und befand mich mitten in Leanders Gedanken: Dich will ich kennen lernen! Endlich mal jemand Interessantes an dieser dämlichen Schule! Ich hab noch nie ein Mädchen gesehen, das so echt wirkt! Und so kluge Augen hat! Oh, Mann, hoffentlich sagt gleich jemand etwas, ich stehe hier wie ein Idiot …

Ruckartig entzog ich ihm meine Hand und sprang dabei förmlich aus seinem Kopf. Das war mir noch nie passiert! Noch nie war ich aus Versehen in einen Kopf eingebrochen! Ausgerechnet ich, die ich doch normalerweise eher Schwierigkeiten hatte, in einen Kopf hineinzukommen!

„Entschuldigung!“, rutschte es mir heraus.

Leander sah mich verwirrt an. „Warum denn Entschuldigung?“

Ja, Luise, warum entschuldigst du dich, du dummes Huhn? Denk nach, denk nach, denk nach … „Habe ich dich nicht gekratzt? Ich dachte, ich hätte dich gekratzt, gerade, als ich deine Hand losgelassen habe.“

Leander betrachtete verwundert seine Hand. „Äh – nein, hast du nicht, alles in Ordnung?“

„Gut“, sagte ich und spürte, wie ich rot wurde. Super, innerlich nahm er seinen Gedanken über meine klugen Augen bestimmt gerade schon zurück. Seltendämliche Augen, die hatte ich! „Du bist neu an unserer Schule, oder?“, sagte ich, um endlich eine normale Unterhaltung in Gang zu bringen.

„Hab ich dir doch gerade erzählt!“, mischte sich Kim ein.

Am liebsten hätte ich sie weggeschubst. Die blöde Kuh sollte sich lieber mit ihrem Patrick unterhalten!

Zum Glück sprang mir Leander zur Seite, indem er Kim einfach ignorierte. „Ja, ich bin erst seit ein paar Wochen hier.“

Dankbar lächelte ich ihn an. „Kim hat mir nur erzählt, dass du mit deiner Mutter aus Köln hergezogen bist.“ Außerdem weiß ich, dass du wütend auf deinen Vater bist, dass deine Mutter viel weint und dass du auf mich stehst, zumindest auf den ersten Blick, fügte ich im Stillen hinzu. „Und sonst – wie geht es dir hier?“, fragte ich.

„Wie soll es ihm schon gehen – gut natürlich! Schließlich hat er uns!“ Patrick lachte.

Leander zog eine komische Grimasse in meine Richtung und zuckte die Schultern. „Klar!“, murmelte er. „Wie soll es mir schon gehen? Selbstverständlich gut. Schließlich habe ich ihn!“

Ich kicherte albern und sah schon wieder zu Boden. Was sollte ich jetzt sagen?

Es läutete zur dritten Stunde. Ein bisschen empfand ich dieses Läuten als Befreiung, schließlich unterbrach es mein peinliches Schweigen.

Patrick wandte sich wieder Kim zu: „Wo müsst ihr jetzt hin?“, wollte er wissen.

„A 323“, antwortete Alina für Kim.

„Schade, wir müssen in die andere Richtung, Chemie“, sagte Leander leise und sah mich dabei an.

Patrick und Kim bestätigten noch mal ihre Verabredung und verabschiedeten sich dann.

Leander blieb unschlüssig vor mir stehen. „Ja dann … Bist du Montag in der Pause wieder hier?“

Wäre in diesem Moment eine gute Fee erschienen und hätte mir angeboten, die Quelle von Südental ein für alle Mal versiegen zu lassen, ich hätte begeistert zugegriffen.

Ich wollte diesen Jungen wieder treffen und ihn näher kennen lernen, unbedingt sogar. Ich wollte ihm zeigen, dass ich nicht die Idiotin war, die ihm in der letzten Minute gegenüber gestanden hatte, sondern dass er mit seinen Empfindungen auf den ersten Blick richtiggelegen hatte. Andererseits mochte ich ihn jetzt schon zu gerne, um ein Spielchen mit ihm abzuziehen. Brachte ich es wirklich über mich, mir seine Geschichten und Sorgen und Träume anzuhören und mit freierfundenen Geschichten und Sorgen und Träumen zu beantworten? Und was, wenn ich wieder aus Versehen in seine Gedanken einbrach, so fixiert, wie ich auf seine dunklen Augen war? Wollte ich mir und ihm das wirklich antun?

Leander berührte mich mit den Fingerspitzen am Arm und es fühlte sich an wie ein Stromschlag, der durch meinen ganzen Körper schoss. Ich spürte Gänsehaut auf meinem Rücken.

„Erde an Luise!“, sagte er und lachte warm.

Mir wurde klar, dass ich schon viel zu lange nachgedacht hatte, die anderen hatten bereits ihre Rucksäcke auf den Rücken geschwungen und wollten aufbrechen. „Ich weiß noch nicht, eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Pausen nächste Woche zum Lernen zu nutzen …“, sagte ich, „wir schreiben jede Menge Tests.“ Ich hoffte, dass er nicht merkte, wie unglücklich mich meine Lüge machte.

Leanders Gesicht verdüsterte sich. „Schon gut“, sagte er. „Ganz, wie du möchtest. Man sieht sich.“

Ich sah ihm nach, als er mit Patrick Richtung Neubau ging und biss mir unglücklich auf die Unterlippe.

Alles für die Quelle.

Die Quelle, die ewigen Wohlstand für Südental garantierte.

Scheiß-Quelle!

Im Bann der Quelle

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