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Stefan

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„Stefan, bist du da?“

Elias stand in der spaltbreit geöffneten Haustür, die eben hinuntergedrückte Türklinke immer noch in der Hand haltend.

„Elias, bist du das?“, kam es kaum hörbar von innerhalb des Hauses.

Elias schob einen Fuß zwischen Türblatt und Rahmen, um die schwere Holztür zu öffnen. Sie ächzte und knarrte, als würde sie bald ihren letzten Dienst als Hauseingang ableisten. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe die verrosteten, quietschenden Scharniere die Last der Tür nicht mehr halten konnten.

Staubpartikel flogen durch den Lichtstrahl, der Elias in den Vorraum begleitete. Er ging den ungepflegten Flur entlang Richtung Küche. Ein unangenehm beißender Geruch schlug ihm entgegen. Es roch stechend nach einer Flut von Essig. Stefan stand mit einem Putzeimer in der Küche und versuchte, die alten, verkrusteten Speisereste von den Küchenmöbeln zu kratzen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Du machst sauber?“, rutschte es Elias in ungläubigem Ton heraus.

„Ja, es muss sein. Seit drei Monaten finde ich keine Putzfrau. Schön langsam stinkt hier alles zum Himmel.“

Elias musste grinsen. Dass Stefan einmal einen Putzlappen in die Hand nehmen würde, hätte er nicht gedacht. Hausarbeit war nie sein Ding gewesen. Weder im Haus noch draußen im Garten. Nur fürs Kochen besaß er eine ungebremste Leidenschaft. Er hatte immer genug Geld verdient, um sich die anfallenden, ihm lästigen Arbeiten vom Hals schaffen zu können. Aber in letzter Zeit wurde es immer schwieriger, jemanden zu finden, der die Hausarbeit zu einem angemessenen Preis erledigte. Es war das Zeitalter, in dem sich auch der Gärtner oder das Reinigungspersonal ein sündhaft teures Auto leisten wollte. Nicht zu vergessen waren da auch noch die Kosten für einen Fernseher mit höchster Bildschirmqualität, ein Smartphone und die anderen technischen Spielereien, ohne die heute kaum jemand mehr leben wollte.

„Warum putzt du eigentlich mit Essig?“, wollte Elias wissen.

„Weil ich nichts anderes dahabe. Meine Großmutter machte das auch so, was soll daran schlecht sein?“

„Dass es in der Nase beißt und die Augen zum Tränen bringt.“

Stefan schüttelte den Kopf: „Bist du hier, um mich zu kritisieren?“

„Nein, tut mir leid. Ich bin eigentlich hier, um dich etwas zu fragen.“

Stefan schmiss das Tuch in den Eimer und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Mit dem Küchentuch wischte er sorgfältig das übrige Wasser von der Haut und schaute Elias in die Augen: „Schieß los.“

„Wie haben sich Mama und du eigentlich kennengelernt?“

Stefan wandte den Blick von seinem Stiefsohn ab. Er atmete tief durch. „Ich glaub, ich mach uns zuerst einen Kaffee. Ich hab auch noch ein paar Kekse, die ich gestern gebacken habe. Dann reden wir in Ruhe.“

Elias half ihm beim Herrichten. Auf einem Tablett trug er den dampfenden Kaffee und die Schokoladenkekse in den Garten. Er stellte alles auf dem kleinen, runden, schmiedeeisernen Tisch ab und setzte sich auf einen der dazu passenden Gartenstühle. Die einst sattrote Polsterung war einem sonnengeblichenen Orange gewichen.

Stefan folgte ihm mit einer Karaffe Wasser in der einen und zwei übereinandergestapelten Gläsern in der anderen Hand. Schweigend setzten sie sich und tranken ruhig ihre Tasse Kaffee, aßen die köstlichen Kekse und blickten über das wuchernde Grün des Gartens hinweg, der genauso eine Generalüberholung brauchte wie das Innere des Hauses.

„Kommst du von deiner Mutter?“, wollte Stefan wissen.

„Ja, ich war bei ihr. Sie hat mittlerweile akzeptiert, dass es mit ihr zu Ende geht. Sie weiß die gemeinsame Zeit immer mehr zu schätzen, auch wenn sie das Krankenbett hüten muss“, sagte Elias melancholisch.

„Ist sie mit der Pflegerin zufrieden?“, fragte Stefan ehrlich interessiert.

„Ja, sie verstehen sich gut. Mara ist ein Engel. Ich bin froh, dass wir sie haben. Du weißt doch, dass mit Mutter nicht immer gut Kirschen essen ist. Aber Mara überspielt das, meint, sie sei doch todkrank. Gott sei Dank weiß sie nicht, dass Mama im gesunden Zustand auch oft ungemütlich werden konnte“, bemerkte Elias grinsend.

Stefan lachte. „Das ist wahr, Desiree kann sehr ungehalten sein. Das habe ich mehr als einmal am eigenen Leib erfahren müssen. Aber das weißt du ja. Trotzdem tut es mir von Herzen weh, sie so bald verabschieden zu müssen. Weißt du, trotz all dem, was passiert ist, habe ich sie immer noch sehr gerne.“

Stefan wirkte betrübt. Er starrte in seine Kaffeetasse. Beide Männer legten eine kurze Redepause ein. Keiner wollte über den bevorstehenden Tod von Elias’ Mutter, Desiree Benjamin, sprechen.

„Du weißt, dass ich dich liebe?“, begann Stefan erneut in eindringlichem Ton.

„Natürlich“, antwortete Elias, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Genauso wie deine Schwestern. Ich hab mich immer als dein Vater gesehen. Schließlich warst du ein Teil unserer Familie.“

Elias nickte. Er schluckte – hoffentlich unbemerkt – den Kloß, der in seinem Hals saß, hinunter.

„Es tat mir weh, als du aufhörtest, mich Papa zu nennen.“ Stefans Augen sahen traurig zu der großen Eiche, die in seinem Garten stand. Efeu rankte sich an ihrem Stamm nach oben.

„Das wusste ich nicht“, antwortete Elias ehrlich, ein reumütiger Unterton schwang in seiner Stimme mit.

„Wenn du nach deinem leiblichen Vater suchst, jagst du einem Phantom nach. Deine Mutter wollte nur das Beste für uns alle, als sie entschied, ihn komplett aus deinem Leben zu streichen.“

„Das heißt, du kennst ihn?“ Elias konnte seine Neugierde nicht verbergen.

„Ja und nein. Er kam einmal zu Besuch, um dich und deine Mutter zu sehen. Aber er riss damit nur alte Wunden wieder auf.“

„War das der Mann, der eines Tages einfach so am Gartenzaun stand?“

Stefan überlegte ein paar Sekunden, ehe er sich zu einer Antwort durchrang. „Ich respektiere die Entscheidung deiner Mutter, dir nichts über seine Identität zu verraten. Aber deshalb bist du ja auch nicht gekommen“, würgte Stefan das Gespräch abrupt ab.

„Nein, ich möchte den Beginn eurer gemeinsamen Geschichte erfahren, ich meine die von dir und Mama.“

Stefan räusperte sich. Eine schwere Wehmut lag in seinen alt wirkenden Augen, er rang sichtlich nach den ersten Worten. Elias wartete geduldig, er wusste, wie schwer es seinem Stiefvater fiel, die Vergangenheit auszusprechen.

„Es war ein sonniger Sommertag im August 1978, der Boden flimmerte vor Hitze. Alle versammelten sich zu einem Dorffest. Das war die Gelegenheit, die Arbeit ruhen zu lassen und gemeinsam mit den Nachbarn zu feiern. Jeder war erleichtert, bei dieser Hitze sein Tagwerk niederlegen zu können. Bis auf ein paar Ausnahmen ließ sich das Spektakel keiner entgehen. Vor allem ich nicht, denn ich war verliebt. In deine Mutter Desiree, damals bildhübsche zwanzig Jahre alt. Nur wusste sie nichts davon, denn ich traute mich nicht, es ihr zu sagen. Aber ich nutzte jede noch so kleine Sekunde, in der ich sie ansehen konnte.“ Eine Träne der Freude rann über seine Wange.

„Das sieht dir gar nicht ähnlich. Ich hab dich immer als sehr ehrlich und direkt erlebt“, warf Elias ein.

„Na ja, ich war jung, genauer gesagt achtzehn Jahre. Und es schüchterte mich enorm ein, dass Desiree zwei Jahre älter war als ich.“

Elias musste kichern.

Stefan blickte ihn mahnend an, musste dann aber auch auflachen, ehe er fortfuhr: „Sie war damals mit meiner Schwester Christina befreundet, sie waren beste Freundinnen. Du weißt, wen ich meine? Tante Christina, die nach Texas ausgewandert ist.“

„Klar, aber du weißt, dass ich sie nie persönlich kennengelernt habe.“

„Eigentlich schade. Du hättest sie gemocht, ein herzensguter Mensch. Etwas zu überdreht, aber ansonsten voll in Ordnung. Na ja, ich machte mir den Umstand zunutze und spionierte die beiden so oft aus, wie es ging. Jeder Blick auf deine Mutter genügte mir, um mich eine begrenzte Zeit lang der Schwärmerei hinzugeben. Und so beobachtete ich sie auch an diesem Tag, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln. Es nervte mich, wenn sie mit einem der jungen Männer redete, die Interesse an ihr zeigten. Die hatten auch bemerkt, wie schön deine Mutter war. Ich hatte Angst, nie eine Chance bei ihr zu bekommen, wegen der Blicke, die ihr die Jungs aus dem Dorf zuwarfen.

Aber der absolute Schreckmoment des Tages kam erst zu später Stunde, als fast alle betrunken waren. Es läuft mir heute noch kalt über den Rücken, wenn ich daran denke. Und schuld daran ist mein eigener Vater. Er setzte sich neben Desiree und ich musste zusehen, wie der alte, widerliche Sack seine Hand über ihren Oberschenkel gleiten ließ. Ich wusste, dass er seine Finger nicht von jungen Mädchen lassen konnte. Meine Mutter weinte oft tagelang deswegen, aber nun ging er zu weit. Unfassbare Wut stieg in mir auf. Aber ich war wie gelähmt, genauso wie meine Mutter, die es nicht einmal in Erwägung zog, den Hurenbock vor die Tür zu setzen.

Viel zu lange wartete ich ab, ließ in meiner Handlungsunfähigkeit zu, dass er Desiree nach Hause begleitete. Aber ich folgte ihnen, huschte wie ein Schatten hinter ihnen her. Und es kam, wie es kommen musste. Er führte sie in eine dunkle Ecke. Sie kicherte sogar. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er meine Desiree küsste. Das war so erniedrigend, mein eigener Vater mit seinen vierzig Jahren küsste ein halb so altes Mädchen, in das sein Sohn verliebt und das die beste Freundin seiner Tochter war. Ich fragte mich ernsthaft, wer ihm ins Hirn geschissen hatte.

Erst als Desiree zu schreien begann, weil er sie zu sehr bedrängte, kam ich zur Besinnung. Wenn ich jetzt nicht eingriff, würde er nicht aufhören, ehe er genug hatte. Davon musste ich ihn um jeden Preis abhalten.

Wagemutig erhob ich meine Stimme: ,Lass sie los, du notgeiler Sauhund.‘

Mein Vater wirbelte herum. ,Ah, mein nichtsnutziger Sohn‘, kam sichtlich enttäuscht aus seinem Mund.

,Hilf mir‘, schrie Desiree panisch. Mein Vater hielt sie immer noch an die Wand gedrückt.

,Siehst du nicht, dass sie Angst vor dir hat?‘, fuhr ich ihn brüllend an.

,Das ist mir ein guter Fick allemal wert. Eine frische Muschi ist weitaus leckerer als die verstaubte deiner Mutter.‘

Diese Worte waren der Auslöser, den ich brauchte, um mich endgültig von ihm zu distanzieren. Angewidert beschloss ich genau in diesem Moment, dass er für mich gestorben war. Aber jetzt hieß es kämpfen um meine große Liebe. In meinen Augen zählte nur noch Desiree.

,Ich warne dich‘, entfuhr es mir etwas zu zittrig.

So als hätte ich nichts zu sagen, wandte er sich wieder Desiree zu und fing an, seinen Penis an ihr zu reiben.

Sie schrie, so laut sie konnte: ,Stefan, hilf mir.‘

Ungeahnte Stärke erfüllte mich. Wütend packte ich meinen Vater von hinten. Dieser drehte sich um und wollte mir einen Kinnhaken verpassen. Aber aufgrund seines Alkoholpegels war ich schneller. Ich rammte mein Knie in seine Weichteile. Er sackte zusammen und lag, sich den Schritt haltend, mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.

,Du greifst sie nie wieder an und auch kein anderes Mädchen, verstanden?‘

Ahnend, was mir blühen würde, wenn er wieder hochkam, schnappte ich Desirees Hand und wir liefen, so weit uns unsere Beine trugen. Irgendwo am Waldrand verließen uns unsere Kräfte und wir setzten uns ins Gras. Es war immer noch eine angenehm laue Nacht. Der Mond beobachtete unser Gespräch, das wir erleichtert führten.

,Danke, Stefan, das war sehr mutig. Ich wusste gar nicht, wie viel Stärke in Christinas kleinem Bruder steckt‘, schmeichelte sie mir. Anerkennend umfasste sie meinen Oberarm, den ich natürlich sofort angeberisch anspannte.

,Mein Vater ist ein Arschloch, ich schäme mich für das, was er dir angetan hat. Ich bin fertig mit ihm. Das eben hat das Fass zum Überlaufen gebracht‘, erklärte ich Desiree, damit sie wusste, wie sehr ich das Handeln meines Erzeugers verabscheute.

,Wahrscheinlich bin ich selber schuld. Ich fand es irgendwie aufregend, als er mich anbaggerte. Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, den Annäherungsversuchen des Vaters meiner besten Freundin nachzugeben. Ich dachte nicht, dass er so weit gehen würde. Ich hielt es für ein Spiel, an dem ich mir anscheinend gehörig die Finger verbrannt habe.‘ Desiree schaute beschämt zur Seite. Ihre blonden, langen Haare verdeckten ihre wunderbaren blauen Augen.

Zum Trost nahm ich ihre Hand in die meine. ,Du bist nicht schuld. Es war nicht das erste Mal, dass er ein junges Mädchen zum Sex drängen wollte. Und meine Mutter schaut ihm auch noch zu bei seinem kranken, unzüchtigen Treiben. Das kotzt mich an‘, spie ich regelrecht aus.

,Glaubst du, er hätte es gegen meinen Willen mit mir getan?‘ Desirees Augen weiteten sich, als hätte sie erst jetzt begriffen, was ihr alles hätte blühen können, wäre ich nicht dazugekommen.

,Ich weiß nicht genau. Ich hoffe nicht, aber zuzutrauen wäre es ihm.‘

Desiree starrte geradeaus. Der Mond spiegelte sich in dem Schwarz ihrer Augen. Sie schien abwesend zu sein. Ich ließ sie einen Moment so verharren und wartete, bis sie wieder bereit war zu sprechen.

,Wieso bist du so anders als dein Vater?‘, fragte sie, den Blick weiter geradeaus gerichtet.

,Weil er mir immer schon ein schlechtes Vorbild war. Meine Mutter hat sich die meiste Zeit um meine Schwester und mich gekümmert. Eigentlich brauchen wir unseren Vater gar nicht, aber Mama klammert sich krampfhaft an ihn. Es wäre für alle besser, er würde verschwinden, aber das will Mutter nicht einsehen.‘

Desiree nickte, als hätte sie genau diese Antwort von mir erwartet. ,Weißt du, dass du mich auch auf andere Art und Weise heute verblüfft hast?‘

Ich zog meine Augenbrauen nach oben, versuchte erfolglos, etwas in ihrem Blick zu erkennen, und schüttelte den Kopf.

,Ich habe dich heute das erste Mal als Mann wahrgenommen und nicht als den kleinen Bruder meiner besten Freundin. Du bist richtig erwachsen geworden.‘

Mein Herz hüpfte vor Freude. Ihre Worte schmeichelten mir und verliehen mir neuen Mut. Ich nahm ihr bildhübsches Gesicht zwischen meine Hände. Sie lächelte mich an. Ich versank in ihren wunderschönen blauen Augen. Die blonden, langen Haare kitzelten meine Handrücken. Langsam beugte ich mich nach vorne und wartete kurz ab, ob sie mein Vorhaben guthieß. Sie lächelte und so küsste ich sie sanft auf ihre Lippen. Wie ein Blitz durchzuckte es mich. Schlagartig wurde meine Verliebtheit in diesem Augenblick zu Liebe. An einem Tag in fast derselben Stunde führte ich den Bruch mit meinem Vater herbei und beschloss, Desiree als die Liebe meines Lebens in mein Herz zu schließen.“

Stefan machte eine kurze Pause, er atmete mehrfach schwerfällig durch, die folgenden Worte schienen ihm Mühe zu bereiten. „Lange glaubte ich, deiner Mutter ginge es genauso wie mir, aber da irrte ich mich. Ja, sie liebte mich an jenem Tag dafür, dass ich sie gerettet hatte. Sie liebte auch die Vorstellung eines neuen Abenteuers. Sie liebte mich darauffolgend dafür, dass ich immer gut zu ihr war. Aber sie sagte mir nie, dass das Kribbeln in ihrem Bauch fehlte. Sie liebte mich mit ihrem Verstand, aber der entscheidende Funke im Herzen, der Liebe leidenschaftlich macht, fehlte. Er war nicht mit der Zeit erloschen, sondern brannte von Anfang an nicht in ihr. Ich brauchte Jahre, bis ich das begriff.“ Mit leerem Blick, ohne weiterzusprechen, starrte Stefan geradeaus in den verwilderten Garten. Er wirkte alt, die Falten zerfurchten sein sorgenerfülltes Gesicht. Man sah ihm an, dass das Leben es oft nicht gut gemeint hatte mit ihm.

„Aber sie hat dich doch geheiratet. Ihr habt zwei gemeinsame Töchter“, warf Elias ein.

„Ja, nicht einmal zwei Jahre später heirateten wir. Es war ein wunderschöner Tag im Frühling, der April war gerade frisch ins Land gezogen. Es war kühl, ein frostiger Reif überzog die Landschaft in den frühen Morgenstunden. Die Sonne ließ das Eis glitzern und langsam schmelzen. Das junge Grün streckte seine zarten Triebe den wärmenden Strahlen der Sonne entgegen und entfaltete sich ganz langsam in dem sanften Licht. Und in dieser malerischen Schönheit der Natur kam deine Mutter in ihrem weißen, bodenlangen Hochzeitskleid auf mich zu. Die Spitze und die Seide umspielten gekonnt ihre rundlichen, weiblichen Formen. Ihre Haare waren hochgesteckt und mit weißen Rosen verziert, die auch ihren Brautstrauß dominierten. Bei diesem einzigartigen Anblick verliebte ich mich noch mehr in sie. Ich hatte nicht geahnt, dass das möglich wäre. Sie war so wunderschön, alles verblasste an diesem Tag neben Desiree. Sie wirkte selbst wie eine weiße Rose, an der in der Sonne glitzernder Tau haftete. Ich weinte vor Glück, weil ich diese atemberaubende Frau ehelichen durfte. Die Verwandten feierten mit uns ein romantisches und zugleich lustiges Fest. Wir gaben uns das Ja-Wort in einem berührenden Gottesdienst. Gottes Segen lachte an diesem Tag wohlwollend auf uns herunter. Die Hochzeitsfeier war einfach aufgrund unseres geringen Budgets. Aber wir hatten dafür gesorgt, dass die einfachen Speisen, der Wein und das Bier nicht ausgingen. Es war so viel da, dass wir am nächsten Tag weiterfeierten. Alle blieben, weil wir den Spaß unseres Lebens hatten. Nie wieder habe ich so viele Verwandte aus dem Stegreif Faxen machen sehen. Wir hielten uns zwei Tage lang den Bauch vor Lachen.

Mein Vater war nicht erschienen, aber darüber war ich zu meinem eigenen Erstaunen sehr froh. Meine Mutter war richtig glücklich an diesem Tag. Und es erleichterte mich noch mehr, sie endlich so zufrieden zu sehen.

Die Flitterwochen verbrachten wir in Österreichs Hauptstadt. Wien war ein aufregendes Erlebnis für uns. Deine Mutter schleppte mich von einem Theaterstück in das nächste. Natürlich konnten wir uns nur die für uns erschwinglichen Vorstellungen ansehen, aber das machte mir persönlich nichts aus. Denn Desiree strahlte, wenn sie den Schauspielern zusah, wie sie den Geschichten Leben einhauchten. Dieses aufrichtige Lächeln in ihrem Gesicht erwärmte mein Herz. Doch eigentlich träumte Desiree von den großen Stücken, die uns mit unserem bescheidenen Geldbeutel verwehrt blieben. Hier erzählte sie mir auch von ihrem Traum, selbst Theaterstücke oder Drehbücher für den Film zu schreiben. Verliebt, wie ich war, sicherte ich ihr meine Unterstützung und meinen felsenfesten Glauben zu, sie würde es eines Tages bestimmt schaffen. Es tat mir selbst weh, als ich merkte, dass ich sie anlog. Denn ich glaubte nicht im Geringsten, dass ihr träumerischer Höhenflug einmal Wirklichkeit werden würde. Aber da hatte ich nicht mit der inneren Größe und der Verbissenheit von Desiree Benjamin gerechnet. Diesen weisen, wohlüberlegten Schritt war sie mir immer schon voraus.

Aber vorher segnete uns Gott mit einem ganz anderen Glück. Desiree wurde ein Jahr nach unserer Hochzeit schwanger. Wir konnten das Wunder kaum fassen, dass gleich zwei Babys in ihrem Bauch wuchsen. Die Schwangerschaft war beschwerlich, sie kämpfte mit dem immer größer werdenden Gewicht um ihre Körpermitte. Außerdem wollten sich die beiden partout nicht in die richtige Lage bringen, um bereit zu sein für ihren Weg auf diese Welt. Eine natürliche Geburt kam somit nicht infrage. Desiree weinte tagelang, ehe ich sie davon überzeugte, dass zwei gesunde Kinder wichtiger seien als die äußeren Umstände der Geburt.

Und so kamen durch einen Kaiserschnitt deine Schwestern zur Welt. Sie waren so winzig und mussten wochenlang im Brutkasten liegen. Aber die Zwillinge waren zuckersüße Püppchen, ich war vom ersten Moment an in sie vernarrt. Deine Mutter bestand darauf, sie Nele und Nala zu nennen. Ich war anfänglich schockiert, das hörte sich für mich nach Zeichentrickfiguren an. Aber ich gab ihr wie immer nach, ich konnte ihr nichts abschlagen. Wenn sie glücklich war, war ich es auch.

Nur einen großen Haken hatte diese Zeit nach der Operation, in der deine Mutter wieder auf die Beine kommen sollte. Die Zwillinge mussten zu Hause, nach drei Monaten Krankenhausaufenthalt, von ihr ohne Hilfe versorgt werden. Es tat mir im Herzen weh, dass ich sie so oft alleine ließ. Ich arbeitete viel, um meine Elektrotechnikfirma aufzubauen, die zu unserem Glück rasch gut lief. Aber es war Knochenarbeit, fast jeden Tag bis tief in die Nacht hinein. Das ging die ersten zwei Jahre so. Deine Mutter war am Ende, die Kleinkinder brachten sie oft an den Rand der Verzweiflung. Sie stellte mir ein Ultimatum: Entweder stellte ich einen Mitarbeiter ein oder sie würde mit den Kindern verschwinden. Der Schock saß mir in den Knochen, schließlich machte ich all das für meine drei Liebsten. Aber ich lernte gerade noch rechtzeitig zu verstehen, was meine Frau meinte, rechnete alles durch und beschloss, den Schritt zu wagen. Peter war mein erster Mitarbeiter, im Laufe der Jahre folgten weitere fünf, wie du ja weißt. Ich war stolz, ich hatte es geschafft, unsere finanzielle Lage zu stabilisieren. Und konnte nun auch endlich Zeit mit meiner Familie verbringen und Desiree entlasten, indem ich mich mehr um die Kinder kümmerte.

Als deine Schwestern fünf Jahre alt waren, nutzte deine Mutter die wiedergewonnenen Freiräume und sagte mir klar und deutlich, dass sie jetzt an der Reihe sei. Verbissen hielt sie an ihren Wünschen für die Zukunft fest. Desiree begann, nebenbei zu studieren, um ihren Traum, Autorin von Filmdrehbüchern und Theaterstücken zu werden, zu verwirklichen. Sie hielt die Balance zwischen Familie und Studium besser als ich. Sie wurde zu einer guten Managerin und Organisatorin ihres Tagesablaufs. Innerlich ärgerte es mich trotzdem, dass sie die Zeit so sinnlos vergeudete. Ich ließ sie zwar gewähren, aber richtig überzeugt war ich nie. Ich war felsenfest der Meinung, sie renne einem Phantom nach. Und der Groll begann sich in mir anzustauen, immer öfter wurde ich ihr gegenüber unfair. So entfernte sich Desiree immer weiter von mir, die Kinder hielten uns zusammen. Sie waren bald unsere einzige Gemeinsamkeit.

Ich besann mich erst wieder meiner Liebe zu ihr, als sie mit fortschreitendem Studienerfolg sichtlich aufblühte. Wir haben uns gefreut wie kleine Kinder, dass es so positiv verlief. Ich lernte, an sie zu glauben. Ich fing wieder an, sie zu küssen und sie in den Arm zu nehmen. Ich liebte sie wieder so wahnsinnig wie an dem Tag unserer Hochzeit. Ich redete mir ein, sie würde auch so fühlen. Aber die Distanz, die ich durch meinen unausgesprochenen Zorn und mangelnden Respekt ihr gegenüber erzeugt hatte, war in ihrem Herzen ungebrochen. Sie wollte mich mehr lieben, konnte es aber nicht. Sicher waren wir nach wie vor die besten Freunde, die sich treu zur Seite standen, aber wir waren streng genommen schon damals kein Ehepaar mehr. Sie stürzte sich so in ihre Arbeit, wie ich es in jungen Ehejahren getan hatte. So wurde dann der lang ersehnte erste Auftrag als Drehbuchautorin zum Fluch für unsere Beziehung. Der einzige Segen, der aus dem Desaster hervorging, bist du, mein Sohn.“

„Aber ich war doch schuld, dass ihr euch getrennt habt, auch wenn es erst Jahre später so weit war“, gab Elias enttäuscht zu bedenken.

Stefan legte seine Hand auf Elias’ Schulter. „So etwas darfst du nicht einmal denken. Ich bin stolz darauf, einen Sohn wie dich zu haben. Deinetwegen habe ich deinem leiblichen Vater verziehen, dass Desiree ihm die Leidenschaft schenkte, die sie mir gegenüber nie empfunden hat.“

„Aber wie konnte das passieren?“ Die alten Tränen der Wut stiegen in Elias auf.

„Tut mir leid, ich habe schon zu viel verraten. Deine Mutter möchte nicht, dass ich dir davon erzähle“, beschwichtigte Stefan ihn.

„Weißt du, wie beschissen es ist, wenn man nicht weiß, wo man herkommt? Warum könnt ihr mir die Geschichte nicht einfach erzählen? Warum ging dir Mama fremd? Warum war sie jahrelang verschwunden? Sie brannte durch mit ihm und ließ dich und meine Schwestern im Stich, nicht wahr?“, brüllte er Stefan aufgebracht an.

„Bitte, geh jetzt“, sagte Stefan gequält freundlich.

„Aber ich möchte doch nur die Wahrheit wissen“, protestierte Elias.

„Und die wirst du von mir nicht erfahren.“

Stefans letzter Satz klang endgültig. Elias wusste, dass er seine Meinung nicht ändern würde.

***

Elias rann der Schweiß über die Stirn. Er wischte sich mit dem Handrücken darüber, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Der Boden dampfte, weil die Morgensonne den Dauerregen der vergangenen Nacht auftrocknen ließ. Die warme, feuchte Luft verwandelte den Park in einen mystischen Ort. Zwischen den Bäumen stieg Nebel auf, der sich wie dicke Strähnen durch die Landschaft zog. Die Lichtstrahlen suchten sich ihren Weg dazwischen hindurch, was zu einem atemberaubenden, wunderschönen Naturschauspiel führte. Doch die Kombination aus Sonnenwärme und der hohen Luftfeuchtigkeit fühlte sich wie in einer Dampfsauna an, warum Elias das Lauftraining auch anstrengender vorkam als sonst. Aber er lief unbeirrt weiter, beobachtete dabei zwei Hunde, die sich zum Missfallen ihrer Besitzer um etwas rauften, das wie eine alte, vergammelte Schuhsohle aussah.

Ein Blick auf die Uhr ließ ihn sein Tempo noch steigern. In einer halben Stunde sollte er frisch geduscht in einem Kaffeehaus zum Frühstück mit Stefan erscheinen. Er wollte noch einmal mit ihm sprechen an diesem Samstagmorgen. Elias hoffte, dass sein Stiefvater seine Meinung geändert hätte und ihm nun doch noch etwas erzählen wollte, das ihm weiterhalf. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass Stefan den Willen seiner Mutter bewusst umging.

Er bog in die letzte Straße zu seiner Wohnung ein. Ein paar Minuten verschnaufte er noch an die Hausmauer gelehnt, um die wichtigsten Muskeln zu dehnen. Dann begab er sich in seine Wohnung, um schnell zu duschen und ein frisches Gewand anzuziehen. Ein Blick in den Spiegel, etwas Stylingwachs in die Haare verteilt und schon war er wieder unterwegs, um Stefan zu sehen.

Dieser saß am Tisch und schaute gelangweilt auf seine Uhr.

„Bin ich zu spät?“, fragte Elias ihn, als er ankam.

„Oh, nein. Ich war nur viel zu früh da. Ich habe mir die Freiheit genommen, uns ein Frühstück für zwei Personen zu bestellen. Da ist von allem etwas dabei.“ Mit der Hand deutete Stefan auf den freien Stuhl, damit der Neuankömmling Platz nahm.

„Passt schon. Ich habe einen Bärenhunger und brauche dringend einen Kaffee“, sagte Elias, während er sich niedersetzte.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, brachte die Kellnerin zwei Tassen von der schwarzen, koffeinhaltigen Brühe, der Millionen von Menschen jeden Tag positiv zugetan waren. Es roch angenehm nach dem frisch aufgebrühten Kaffee. Elias und Stefan gossen etwas Milch hinein und setzten gleichzeitig die Tassen an ihre Lippen.

Stefan lachte auf. „Du hast ja doch einiges von mir.“

Damit war unbewusst der wunde Punkt angesprochen. Elias wusste nur zu gut, dass Stefan sein eigentlicher Vater war. Er war da gewesen, hatte ihn mit seiner Mutter großgezogen. Aber die Sehnsucht nach seinem leiblichen Vater brannte wie ein unkontrollierbares Buschfeuer in seinem Herzen. Doch niemand, der konnte, wollte es löschen. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.

„Hast du es dir anders überlegt?“, fragte Elias.

Stefan schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte mich nur entschuldigen für meine unwirsche Art, wie ich dich abgespeist habe. Ich kann dir nichts über deinen Vater erzählen. Aber ich kann dir erzählen, wie es war, als deine Mutter zurückkehrte. Mit dir auf dem Arm.“

Enttäuscht nickte Elias. Er war den Tränen nahe. Doch er wollte sich keine Blöße geben. Gott sei Dank brachte die Kellnerin in diesem Moment das üppige Frühstück. So konnte er im Stillen um Fassung ringen, während sie die Platte mit Schinken, Käse, Butter, Aufstrichen und Gemüse vor ihnen platzierte. Dazu stellte sie noch einen Teller, auf dem Obst und Marmeladen in kleinen Schüsseln liebevoll angerichtet waren. Kurz verschwand sie, um mit Gebäck, Tellern und Besteck wieder zu erscheinen. Zu guter Letzt brachte sie noch Orangensaft und gekochte Eier und wünschte „Guten Appetit!“.

Das ließ sich Elias nicht zweimal sagen, das Lauftraining hatte ihn hungrig gemacht. Er drapierte Schinken und Käse auf einem halben Vollkornbrötchen, legte eine Gurkenscheibe und ein Stück Tomate obendrauf. Herzhaft biss er hinein.

Stefan beobachtete ihn stumm, schmierte Aufstrich auf eine halbe Semmel und beschloss, das Gespräch wieder aufzunehmen. „Desiree war zwei Jahre lang weg. Sie beschloss für dich, diese Zeit aus ihrem Leben zu streichen. Ich kann dir nur verraten, dass du neun Monate alt warst, als sie zurückkehrte.“

Elias zog eine Augenbraue hoch. Er fragte sich, ob ihm das schon mal irgendjemand erzählt hatte, dass er noch ein Baby gewesen war. Er konnte sich nur an Fotos erinnern, auf denen er bereits ein Kleinkind gewesen war. Aber vielleicht trog ihn sein eigener Verstand und vernebelte seine Gedanken.

„Was habt ihr meinen Schwestern erzählt, wo Mama war?“, hakte Elias nach.

„Oh, sie wissen, wo sie war. Sie waren schon zwölf, als sie zurückkehrte. Einmal sprach sie mit ihnen darüber und gebot ihnen Verschwiegenheit. Um zu deinem Wohle zu garantieren, dass sie wirklich den Mund hielten, erfüllte sie ihnen ihren größten Traum. Sie kaufte ihnen zwei Pferde.“

Stefan schaute, als wollte er sich mit seinem Blick entschuldigen. Elias hingegen entgleisten die Gesichtszüge. Der Pferdewahn seiner Halbgeschwister gründete also auch auf seiner Existenz. Seine Brust schnürte sich unangenehm zu, nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Schwestern waren in die Verschwörung involviert. Das konnte doch nicht sein. Kein einziges Mitglied seiner Familie war jemals ehrlich zu ihm gewesen.

„Wer weiß es noch?“, schnaubte Elias verärgert.

„Niemand außerhalb der Familie. Wir haben seit damals nicht mehr darüber gesprochen.“

„Oma und Opa?“

„Desirees Eltern wussten es auch, aber wie du weißt, können sie es niemandem mehr erzählen, da sie bereits tot sind“, druckste Stefan herum.

Das wurde ja immer schöner! In welches Lügennetzwerk war er da verstrickt? Welche schrecklichen Umstände mussten bei seiner Geburt geherrscht haben, dass alle beschlossen hatten, ihn konsequent anzulügen? Elias’ Herz verkrampfte sich. Konnte er noch irgendjemandem vertrauen?

„Deine Mutter und deine Schwester?“, legte Elias noch einen drauf, um endlich Gewissheit zu haben, wer von seiner Herkunft wusste.

„Ich habe sie im Dunkeln gelassen. Ich sagte ihnen, Desiree sei tot. Als sie mit dir zurückkehrte, schaute Mutter mich schief an und hielt mich für einen Lügner, wie sie es seit der Ehe mit meinem Vater von jedem Mann dachte. Ich glaube, dass sie meiner Schwester etwas Ähnliches erzählte.“

„Wieso hast du es dann nicht richtig gestellt?“

„Dann hätte ich es erklären müssen. Es war besser, sie denken zu lassen, was sie denken wollten.“

„Und dein Ruf?“

Stefan lachte. „Elias, das musst du erst lernen. Ich selbst weiß, wie es in mir aussieht. Dazu brauche ich keine anderen.“

Elias schüttelte verständnislos den Kopf. „Was hat Mutter dir gegeben, dass du nichts ausplauderst?“

„Das Versprechen ihrer Treue und die Erlaubnis, dir ein guter Vater sein zu dürfen.“

„Weißt du, die meisten Männer hätten sie vor die Tür gesetzt“, rutschte es Elias heraus. Er verstand das Handeln seines Stiefvaters immer weniger.

„Nein, so war es nicht. Aber ich kann es dir leider nicht erklären“, erwiderte Stefan, während er auf seine angebissene Aufstrichsemmel schaute.

„Weißt du, was ich glaube? Du bist ein Feigling.“ Erneut stieg Wut in Elias auf.

Stefan starrte ihm in die Augen. „Wie gesagt, du darfst glauben, was du willst. Ich kann dir nur sagen, dass es nicht so ist. Ob du mir vertraust oder nicht, ist deine Entscheidung.“

„Entschuldigung, ich meinte es nicht so“, kühlte sich Elias schnell wieder ab.

Schweigend aßen sie ihr Frühstück. Die Kellnerin räumte die Teller ab und brachte erneut Kaffee.

„Willst du nun wissen, wie es nach eurer Rückkehr war?“, wagte Stefan einen weiteren Versuch.

„Bitte“, gab Elias resigniert zurück.

Stefan holte tief Luft. „Eines Tages, zwei Jahre nachdem deine Mutter weggegangen war, stand sie wieder vor der Tür. Sie sah schrecklich aus, total abgemagert. Es tat mir in der Seele weh, sie so ausgemergelt zu sehen, denn Desirees Rundungen fand ich immer schon attraktiv. Sie wirkte surreal mit ihren ausgewachsenen Haaren und schwarzen Augenringen. Sie murmelte ein leises ,Tut mir leid‘, ehe sie mich zögerlich an der Hand nahm. Ich freute mich riesig, doch sie hatte etwas auf dem Herzen. Und dieses Etwas kam kurz darauf mit einem weiteren Taxi. Nach einigen vorbereitenden Worten drückte mir Desiree ein lebendiges Bündel in die Hand. Ein kleines, nicht sehr gut ernährtes, aber anscheinend zufriedenes Baby. Das warst du, Elias. Ich konnte in dem Augenblick nicht sauer sein, denn dein Lachen traf mich mitten ins Herz. Noch dazu war es die Phase, in der Babys jeden Fremden rigoros ablehnen. Keiner durfte dich in den kommenden Tagen auch nur anschauen, ohne dass du sofort zum Schreien anfingst. Aber mich hast du mit einem Lachen begrüßt, als würden wir uns schon immer kennen. Und als Desiree mir im nächsten Augenblick verriet, dass du ein Junge seist, bekamen meine unerfüllten Träume Flügel. Eine Stimme in mir sagte, du wärst der Sohn, den ich mir immer gewünscht habe. Ich liebe deine Schwestern, aber du machtest unsere Familie komplett. Mit dir hatte ich endlich männliche Unterstützung in der Frauenwelt, die mich bis dahin umgab.

Ich wollte eigentlich gar nicht wissen, wie du gezeugt wurdest, aber es war ein unausweichlicher Schritt, der ungefähr zwei Wochen nach ihrer Rückkehr gegangen werden musste. Ein einziges Mal erzählte Desiree ihre Geschichte vor ihren Eltern, unseren Töchtern und mir. Danach sprach sie nie wieder darüber. Der Schmerz fraß mich fast auf. Ich konnte selbst gar nicht fassen, wie sehr ich sie nach zwei Jahren immer noch liebte. Aber es war gut, damals einen eindeutigen Schlussstrich gezogen zu haben, so konnte ich diesen anderen Mann für mich in deinem Leben ausblenden. Ich war und bin bis heute dein Vater, mit ganzem Herzen.“ Stefan drückte Elias’ Hand.

Dieser schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. So emotional hatte er seinen Stiefvater noch nie erlebt. Er rang sichtlich um Fassung, konnte seine Tränen aber nicht zurückhalten.

„Desiree erholte sich. Sie brauchte viel Nähe und Stille. Stundenlang hielt ich sie schweigend in den Armen. Sie weinte monatelang. Den Grund für ihre Trauer wollte ich nicht erfahren. Ich hatte zu große Angst vor der Wahrheit. Heute weiß ich, dass sie um deinen Vater trauerte. Die Trennung von ihm zerquetschte ihr buchstäblich das Herz. Aber ich wollte das nicht sehen, denn sie war zu mir zurückgekommen. Ich brauchte ihre Nähe, wie ein Verdurstender einen Schluck Wasser braucht. Ich war wieder der wichtigste Mann in ihrem Leben. Ich redete mir ein, dass mir das genügen würde. Schrittweise wurden wir wieder zu einer Familie. Die Zwillinge gewöhnten sich an eure Anwesenheit. Sie hatten ihre Mutter vermisst. Du wurdest ihnen zum liebsten Puppenersatz. Natürlich waren sie vorsichtiger mit dir und sie lernten dadurch, Verantwortung zu übernehmen, was ihnen auch in anderen Lebensbereichen unendlich guttat.

Wir verbrachten jede freie Zeit zu fünft, kapselten uns von Freunden und Familie total ab. Einerseits mussten wir wieder zueinanderfinden, andererseits verstand sowieso keiner, warum ich Desiree mit einem mitgebrachten Baby wieder aufgenommen hatte. Diesen Schmerz der Missbilligung in unserem Umfeld wollte ich ihr und mir ersparen. Es kam zum Bruch mit allen, die wir kannten, außer Desirees Eltern. Meine Mutter ließen wir außen vor, redeten höflich alle heiligen Zeiten mit ihr. Aber mehr wollten und konnten wir nicht geben. Deinen Schwestern war Gott sei Dank die Pubertät zu Kopf gestiegen. Sie waren so sehr mit ihren überschwänglichen und depressiven Gefühlsausbrüchen beschäftigt, dass sich alles nur um sie selbst drehte. Der Einzige, der sie aus der Achterbahn ihrer verrückten Emotionen herausholen konnte, warst du.

Ich redete mir ein, es wäre alles wieder perfekt, die geistige Abwesenheit deiner Mutter verdrängte ich, so gut es ging. Ich entschuldigte ihr Verhalten damit, dass sie noch mehr Zeit brauchte, um innerlich heil zu werden.

Und dann kam der Tag, an dem sie wieder zu schreiben begann. Ihr Herz schien wieder stabil genug zu sein. Ich kümmerte mich währenddessen um meine Firma und um dich. Desiree hängte sich voll rein. Und es war ein unbegreifliches Phänomen. Es wurde immer leichter für sie, Drehbücher und Theaterstücke zu verkaufen. Desiree Benjamin wurde über die Jahre zu einer Marke. Ich war und bin heute noch sehr stolz auf deine Mutter. Der Nachteil war, sie brauchte viel Ruhe. Sie teilte sich die Zeit mit euch Kindern gut ein. Nala und Nele wurden sowieso gerade flügge und du hattest mich. Doch Zeit für mich plante deine Mutter nicht ein. Ich musste sie immer wieder daran erinnern, damit sie auch mal mit mir einen schönen Abend verbrachte. Wenn es so weit war, genoss ich es, wir konnten schon immer gut miteinander reden, wie beste Freunde. Und genau dazu wurden wir im Laufe der Jahre nach eurer Rückkehr, zu einer eingespielten Gemeinschaft.

Am Anfang versuchte ich noch, sie zu verführen. Ich sehnte mich nach ihrer Wärme. Desiree erfüllte auf meinen Wunsch hin auch ihre ehelichen Pflichten, aber sie war nicht wirklich da. Wenn wir gemeinsam im Bett waren, erkannte ich die Frau, die ich so sehr liebte, überhaupt nicht mehr wieder. Sie schaltete mich weg. Leidenschaft war nie ihr Ding gewesen, aber das war noch einmal eine andere Liga. Sie meinte es nicht böse, aber ich konnte ihre Anwesenheit nicht mehr spüren. So versuchte ich immer seltener, mit ihr intim zu werden.

Je mehr Jahre ins Land gingen und ich meinen sexuellen Trieb hintanstellen musste, umso mehr zog ich mich selbst zurück. Sie konnte mir nicht geben, wonach ich mich sehnte. Sie war in meinen Augen keine Ehefrau mehr. Sie war meine beste Freundin und die Mutter meiner Kinder. Ich rang lange mit mir, ob ich nicht überreagierte. Aber meine Seele blutete unaufhörlich. Meine große Liebe Desiree war da, aber ich konnte sie nicht haben. Ich hatte sie verloren. Und so beschloss ich zu gehen, nach vierzehn Jahren der inneren Qual. Du hast mich gehasst genauso wie deine Schwestern. Ihr konntet es nicht verstehen, weil ihr uns immer als Freunde erlebt hattet. Ich war todunglücklich, sah mich in einer ausweglosen Situation. Ich überlegte sogar, ob es noch einen Grund gäbe, um weiterzuleben.“

„Du wolltest dich umbringen?“, fragte Elias entsetzt.

„Nein, zumindest habe ich es nie versucht. Aber der Schmerz über den Verlust war unerträglich. Bis zu dem Tag, als du, damals gerade fünfzehnjährig, zu mir kamst.“

„Was meinst du?“ Elias war neugierig geworden.

„Du kamst mich besuchen, denn du warst damals die Hälfte der Woche bei mir. Aber das weißt du ja. Wir wollten gemeinsam zu einem Fußballspiel vom FC Bayern München fahren. Ich wollte es dir so leicht wie möglich machen, die Trennung zu verkraften. Doch wir kamen nie an. Weißt du das noch?“

„Klar, ein paar Hooligans randalierten an der Straßenbahnhaltestelle und wir waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Einer warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf einen vermeintlichen Rivalen, der ihn provoziert hatte. Du warst hinter ihm. So schnell konnte ich gar nicht schauen, als du schon mit dem Hinterkopf auf dem steinernen Treppenabsatz landetest. An deinem Schädel klaffte eine Platzwunde. Du warst bewusstlos“, beendete Elias die Geschichte.

„Ja, und im Krankenhaus erzählten sie mir, wie souverän du dich verhalten hattest. Du hast dich schützend vor mich gestellt und andere Passanten aufgefordert, mich ebenfalls von der raufenden Meute abzuschirmen. Es funktionierte, Polizei und Rettung erledigten den Rest. Du hast mir das Leben gerettet, mich davor bewahrt, von den flüchtenden Massen, die Angst vor den Schlägern hatten, erdrückt zu werden. Das war so mutig von dir. Du hast selbstlos mein Wohl über deines gestellt.“ Jetzt flossen Stefan endgültig die Tränen über die Wangen.

Elias legte die Hand auf die Schulter seines Stiefvaters. „Das war doch selbstverständlich. Du warst mir immer ein guter Vater – wie oft hast du etwas für mich getan, das andere Väter nicht für ihre Söhne machen?“

„Danke, Elias. Das bedeutet mir sehr viel. Auf jeden Fall war dieses Ereignis der Punkt, an dem ich wieder wusste, dass das Leben lebenswert ist. Ich fühlte mich gebraucht. Ich wollte nie wieder vergessen, dass meine erwachsenen Töchter und mein toller Teenagersohn ein Recht auf ihren Vater hatten.“

Elias schaute betreten seinen Kaffeesatz an und fragte vorsichtig: „Ich bin froh, dass du immer für mich da warst. Aber glaubst du nicht, ich hätte auch ein Recht auf meinen leiblichen Vater?“

Eine lange Pause entstand, Stefan schien seine Worte genau abzuwägen. „Wahrscheinlich ja, aber es ist nicht meine Entscheidung. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Mehr hatte Elias nicht erwartet. Er verstand mittlerweile, in welcher Zwickmühle sich sein Stiefvater befand. Man sah in seinem Gesicht, wie sehr er mit sich rang.

Überrascht, wie ruhig er selbst bleiben konnte, verspürte Elias plötzlich den Drang, Stefan etwas Nettes zu sagen. „Danke, dass du dich auch nach deinem Auszug um mich gekümmert hast. Selbst wenn ich es jetzt erst verstehen kann, warum du gegangen bist. Es tut gut, wenn man etwas erklärt bekommt. Es ist sehr heilsam und lindert Schuldgefühle.“

Stefans gequälte Miene verschlimmerte sich. Elias wurde schlagartig bewusst, dass er seine Worte falsch formuliert hatte. Sie mussten in Stefans Ohren wie ein Vorwurf geklungen haben.

Insel der verlorenen Träume

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