Читать книгу Insel der verlorenen Träume - Karin Waldl - Страница 13

Desiree

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„Mama, ich war für dich bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises. Das beste Drehbuch ist dieses Mal von dir. Ich bin so stolz auf dich! Ich durfte mich stellvertretend für dich bedanken.“

Elias’ überschwängliche Euphorie wich einem besorgten Blick. Seine Mutter starrte stumm durch ihn hindurch, in ihren müden, glanzlosen Augen lag ein Anflug von Melancholie. Sie wirkte nicht wie eine Sechzigjährige, sondern sah aus, als wäre sie mindestens zwanzig Jahre älter. Sie bedeutete ihm, sich zu ihr ans Bett zu setzen. Gehorsam ließ er sich auf der Bettkante nieder und beugte sich über die einst starke, nun aber schwerkranke Frau, um ihre schwache Stimme besser hören zu können.

„Elias, das ist schön. Aber es gibt Wichtigeres zu besprechen. Der Tag ist gekommen, an dem du endlich die Wahrheit erfahren sollst.“

Elias war überrascht über diese kaum hörbaren, gehauchten Worte. Woher kam der plötzliche Sinneswandel? Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Er hatte mittlerweile ernsthaft gedacht, seine Mutter würde ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen.

Mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck nahm er ihre von Falten durchzogene, kühle Hand. Es war kaum mehr Leben in ihr. Endlich würde ihn seine Mutter von der quälenden Ungewissheit erlösen. Angespannt schien sein Herz die einzelnen Schläge auseinanderzuziehen wie ein Gummiband, das sachte gedehnt und langsam wieder losgelassen wurde. Er wusste genau, worum es ging, ohne dass sie es erklären musste. Denn es gab nur eine Geschichte, die verschleiert im Schatten des Schweigens zwischen ihnen stand: die Wahrheit über seinen leiblichen Vater.

„Im Nachtkästchen liegt ein Brief. Lies ihn bitte laut vor“, krächzte sie kraftlos. Elias griff nach dem antiken, schmiedeeisernen Schlüssel und drehte ihn einmal nach rechts. Er schob die Lade auf und betrachtete den Inhalt. Er sah darin eine Lesebrille, Taschentücher, ein Buch und ein Lesezeichen verstreut herumliegen, aber definitiv keinen Brief. Fragend sah er seine Mutter an.

„Die Lade hat einen doppelten Boden“, wies sie ihn an.

Elias untersuchte das spröde gewordene Eichenholz und entdeckte eine gut versteckte Kerbe. Er grub seine Fingernägel hinein und löste den Boden. Darunter befand sich ein vergilbter Brief. Auf ihm stand in geschwungenen Lettern Elias.

Elias nahm ihn an sich und runzelte nachdenklich die Stirn. Ein unsicherer Blick fiel auf seine Mutter, die große Desiree Benjamin, erfolgreiche deutsche Drehbuchautorin, Verfasserin unzähliger Theaterstücke, oder besser gesagt auf das, was noch von ihr übrig war in ihrem anhaltenden Elend. „Lies schon, ich habe nicht mehr ewig Zeit“, drängelte sie und lächelte gequält.

„Zumindest deinen Humor hast du noch nicht ganz eingebüßt.“ Elias atmete tief durch. Langsam las er die Anrede vor. „Geliebter Elias!“ Er stockte. „War das mein leiblicher Vater?“ Er hatte Angst vor der Antwort, doch seine Mutter nickte. Eine Träne floss ihm über die Wange. „Ich heiße genauso wie er! Warum hast du mir das nie gesagt?“, fragte er aufgeregt.

Desiree überspielte die Frage mit einer Handbewegung, die „Weiterlesen“ bedeutete.

Elias räusperte sich, ehe er mit unruhiger Stimme fortfuhr:

Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich die Zeit mit dir vermisse. Ich liebe dich immer noch von ganzem Herzen und kann mir nicht vorstellen, dich jemals zu vergessen. Jedes Mal wenn ich unseren Sohn ansehe, muss ich an dich denken. Er ist dir sowohl im Wesen als auch im Aussehen sehr ähnlich. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich so immer einen Teil von dir ganz nah bei mir habe. Und ich darf ihn bedingungslos mit meiner Mutterliebe überschütten. Dafür bin ich jeden Tag sehr dankbar. Nach dem Aufstehen bete ich immer, um mich bei Gott für dieses wunderbare Geschenk zu bedanken.

Nur du fehlst mir unendlich, jeden Tag aufs Neue. Ich möchte bei dir sein, dich küssen und spüren, so wie damals. Ich schäme mich dafür, weil es unrecht meinem Mann und meinen Töchtern gegenüber ist, aber mein Herz kann nicht anders. Nie hätte ich gedacht, dass es möglich ist, zwei Männer zu lieben, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Und dadurch, dass wir getrennte Wege gehen mussten, ist meine Liebe zerrissen, unvollständig. Die Vernunft sagt mir, dass ich es nicht ändern kann, aber mein Herz will nichts davon wissen.

Deine Desiree.

Elias sah seine Mutter an. Eine einzelne Träne rann über ihr ansonsten ausdrucksloses Gesicht. „Du hast ihn nie abgeschickt, oder?“, wollte Elias wissen.

Desiree nickte kaum merklich.

„Und du fühlst immer noch so, wie du es beschrieben hast? Nach, lass mich überlegen, vierundzwanzig Jahren?“

Wieder stimmte sie lautlos zu.

Elias rückte nun ganz nah an sie heran. Er strich ihr sanft über den Arm. Es fiel ihm schwer, diese heikle Frage zu stellen. „Möchtest du ihn noch einmal sehen, bevor du stirbst?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, er hat auch eine Familie. Aber er soll dich kennenlernen, denn ich bin bald nicht mehr da. Ich hoffe, seine Ehe ist gefestigt genug, um dein Auftauchen zu verkraften.“ Nun konnte Desiree nicht mehr anders, sie brach in Tränen aus.

Elias wartete geduldig, bis sie wieder ruhiger wurde. „Wer ist er?“, wollte er schließlich wissen.

„Alles der Reihe nach. Ich möchte dir die Geschichte von Anfang an erzählen. Aber du musst mir zwei Dinge versprechen.“

So nah am Ziel war Elias bereit, alles zu geben. „Was möchtest du, Mama?“

„Erstens möchte ich, dass du dir alles anhörst, ehe du dir eine Meinung über deinen Vater und mich bildest. Vielleicht verstehst du dann auch deinen Stiefvater besser. Stefan hat sich deine aufrichtige Liebe verdient. Vergiss das nie, auch wenn du Kontakt zu deinem leiblichen Vater aufnimmst.“

„Natürlich“, antwortete er knapp, um ihren Redefluss nicht unnötig zu unterbrechen.

„Und die zweite Bedingung ist, dass du erst Kontakt zu Elias aufnehmen darfst, wenn ich schon tot bin. Ich brauche dich jetzt an meiner Seite und ich möchte seine Ehe nicht aufs Spiel setzen. Tot bin ich keine Gefahr mehr.“

„Okay, das leuchtet mir ein. Ich möchte auch bei dir bleiben, so lange, wie es mir möglich ist.“

„Danke, Elias, du bist ein guter Sohn. Manchmal denke ich, ich habe es gar nicht verdient, dass du mich so sehr in dein Herz geschlossen hast.“

„Doch, Mama, du hast mich gelehrt, dass niemand perfekt ist. Und dass dies kein Grund ist, eine Person deshalb weniger liebenswert zu finden.“

„Ja, da hast du recht. Bist du bereit? Ich zähle auf deine Versprechen“, sagte sie mit Nachdruck.

Elias nickte. „Ich werde dich nicht enttäuschen.“

Als sie den Mund öffnete, um zu sprechen, sprang sein Herz schneller vor Aufregung. „Sein Name ist Elias Faber.“

Der junge Mann bekam große Augen. „Aber nicht der Elias Faber?“

„Doch. Der Schauspieler Elias Faber ist dein Vater.“

„Aber der wohnt doch hier in München“, rief Elias entsetzt.

„Ich weiß.“

„Und du willst mir weismachen, ihn nie wieder gesehen zu haben?“ Erneut stieg Zorn in Elias auf. Es war schrecklich, wie sehr ihn dieses Gefühl momentan beherrschte. Mit aller Gewalt versuchte er, es zu unterdrücken. Er wollte Desiree nicht erschrecken. So sprang er auf und ging im Zimmer auf und ab, verbannte seine überschüssige Energie in seine Beine.

„München ist groß. Es leben zu viele Menschen hier, um sich regelmäßig zu begegnen“, erwiderte Desiree.

„Aber er spielte in manchen deiner Theaterstücke. Waren da nicht sogar Filme mit ihm, deren Drehbücher du geschrieben hattest?“

„Ja, aber es hat Vorteile, wenn man die Vorarbeit zu einem Projekt leistet. Ich hielt mich einfach, so gut es ging, von den Proben und Dreharbeiten fern. Ich ging nur zu den Premieren, wo wir beide von Tausenden Menschen umgeben waren. Unsere einzigen gemeinsamen Gespräche waren für Interviews vor der Kamera. Ich bat Stefan, mich immer abzuschirmen, damit ich nicht mit ihm reden musste. Und das hat fast immer perfekt geklappt.“

Elias ging noch schneller auf und ab, er rannte schon fast. „Das heißt, ich war oft in seiner Nähe und habe nie gewusst, dass er es war.“

Desiree schaute weg, ihre Antwort war halbherzig. „Ja, wenn du es so siehst.“

„Ich glaube dir das nicht“, sagte er überaus nervös.

„Beruhig dich, Elias. Wir wissen beide, dass das nicht leicht ist.“

Elias blieb stehen. „Ich muss kurz hinaus. Ich komme in fünf Minuten wieder.“

***

Kaum war Elias zur Tür hinaus, rannte er los. Er sprintete um den Häuserblock, so schnell ihn seine Füße trugen. Sein Herz hämmerte, weil er sich so sehr verausgabte. Sein Zorn schien langsam zu schwinden, ehe er ganz verebbte. Er blieb stehen und atmete tief durch, bevor er umkehrte. Er wollte wieder zu seiner Mutter, um mehr zu erfahren.

Doch als er am Krankenbett stand, war sie eingeschlafen. Es strengte sie anscheinend sehr an, mit ihm zu sprechen. Elias wollte sie nicht wecken, aber er musste mit irgendjemandem sprechen. Nur mit wem? Er hatte versprochen, sich die Geschichte erst einmal anzuhören. Die Identität seines Vaters jetzt preiszugeben, wäre mehr als unklug. Er würde seine Mutter verletzen, jetzt da sie ihm endlich alles erzählen wollte. Es erschien ihm zu riskant, jemanden anzurufen, der in München wohnte.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Er schnappte sich sein Smartphone und wählte Michaelas Nummer.

„Hallo Elias. Was gibt es?“, fragte sie höflich.

„Stell dir vor, meine Mutter hat mir endlich verraten, wer mein leiblicher Vater ist“, frohlockte er.

„Oh, das ist ja toll für dich“, gab sie zur Antwort.

„Schatz, mit wem telefonierst du?“, erklang es bei Michaela im Hintergrund.

„Nur jemand, der eine Umfrage starten möchte“, log sie.

„Dann sag, dass du keine Zeit hast. Wir müssen los“, wandte die eindeutig männliche Stimme ein.

„Ja, gleich“, gab Michaela zurück.

Als sie nun endlich wieder mit Elias sprach, krampfte sich dessen Magen vor Eifersucht zusammen. Er hörte sie sagen, als käme es von ganz weit weg: „Elias, bitte, ruf nicht mehr an. Ich wollte nur höflich sein, als ich dir das beim letzten Mal anbot. Du hast keinen Platz mehr in meinem Leben. Ich bin jetzt mit jemand anderem zusammen. Du musst das verstehen. Ich werde nicht mehr abheben, wenn du es versuchst. Auch Nachrichten werde ich ungelesen löschen. Glaub mir, es ist besser so. Leb wohl.“

Elias stammelte ebenfalls ein „Leb wohl“, ehe ihm das Smartphone aus den Fingern glitt. Schnell hob er es auf, aber das Gespräch war beendet. Warum war er nur so dumm gewesen, sie anzurufen? Er wusste, dass sie nie wieder gemeinsame Wege gehen würden. Doch wann würde der Schmerz endlich verebben?

Unbeobachtet ließ er seinen Tränen freien Lauf. Er weinte allen guten und schlechten Erinnerungen an Michaela nach. Die Tränen waren heilsam, sie begannen, seine Seele zu reinigen. Das verkrampfte Gefühl in seinem Herzen wurde eine Spur erträglicher. Vielleicht konnte die Zeit doch Wunden heilen. Er hielt sich an diesem Strohhalm der Hoffnung fest, ehe er selbst kurz einnickte.

Seine Blase weckte ihn. Er ging Richtung Badezimmer, um sich zu erleichtern. Als er fertig war, streifte er seine Ärmel nach oben. Sorgfältig wusch er mit Flüssigseife und Wasser seine Hände. Er blickte in den Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Seine leicht gewellten braunen Haare versuchte er stets zu bändigen. Es war eine Gratwanderung. Waren sie zu kurz, kräuselten sie sich hässlich zu Locken, die seiner Meinung nach zu weiblich wirkten. Waren sie zu lang, wirkten sie schnell geplättet, wenn er sie zu stylen versuchte. Aber grundsätzlich mochte er seine Haare, sie waren etwas Besonderes, unterschieden ihn von der breiten männlichen Masse.

Seine Augen, die Michaela immer liebevoll als „braun wie Kandiszucker“ beschrieben hatte, besaßen die Eigenschaft, mit dem richtigen Lichteinfall zu funkeln. Diesen Effekt hatte er früher gekonnt bei der Damenwelt eingesetzt. Auch Michaela war dem Glänzen seiner Augen erlegen. Es war sicher nicht zu seinem Nachteil, attraktiver zu sein als der Durchschnitt. Aber seit Michaela fort war, hatte er keine andere angesehen. Er war noch nicht so weit, denn keine Frau konnte momentan seiner Ex-Freundin das Wasser reichen. Hoffentlich war das eines Tages wieder anders, aber zu diesem Zeitpunkt war es Elias unmöglich, endgültig loszulassen.

Er betrachtete sich weiter im Spiegel. Seine Haut hatte einen bräunlich goldenen Ton, zu wenig, um südländisch zu wirken, aber auch nicht so hell wie die meisten Deutschen. Und dieser Punkt unterschied ihn eindeutig von seiner Mutter. Sie war sehr hellhäutig, die Bräune war ein Erbanteil seines Vaters.

Er sah noch einmal genau hin, versuchte sich an das Gesicht von Elias Faber zu erinnern. In Gedanken projizierte er es auf sein Spiegelbild und schrak zurück. Falls ihm seine Erinnerungen an das Äußere des Schauspielers keinen Streich spielten, schaute er ihm wirklich sehr ähnlich. Einmal abgesehen von dem welligen Haar und der Tatsache, dass die Haut und die Augen seines Vaters noch dunkler waren. Ja, seine Mutter hatte anscheinend nicht gelogen, als sie ihm den Namen seines Vaters genannt hatte.

„Elias, kommst du?“, hörte er Desiree leise krächzen.

„Endlich, sie ist aufgewacht“, schoss es ihm durch den Kopf.

Sofort eilte er zu seiner Mutter. Er half ihr, das Kissen zurechtzurücken und Desiree in eine angenehme Position zu bringen. Dann reichte er ihr ein Glas Wasser, an dem sie zaghaft nippte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie ein paar Schlucke getrunken hatte. Elias war dankbar, dass die Pflegerin das Füttern übernahm, denn seiner Mutter war es nicht möglich, schneller zu schlucken. Ihr Magen krampfte sich bei jeglicher Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme schmerzhaft zusammen. Das Thema künstliche Ernährung stand im Raum. Aber Elias wusste, dass Desirees Stolz und Würde es verhinderten, zu schnell zuzustimmen. Gott sei Dank konnte sie noch in einem normalen Tempo sprechen, einmal abgesehen davon, dass ihre Stimme nicht mehr glockenhell war wie angenehme Violinenmusik, sondern eher einer Geige glich, die kratzig und falsch von einem blutigen Anfänger gespielt wurde.

Nachdem Elias das Wasserglas abgestellt hatte, rückte er sich einen Polstersessel zurecht. Er kam nicht umhin zu denken, dass er in dieser Sitzgelegenheit wohl viele Stunden verbringen würde, ehe er sich endgültig von seiner Mutter verabschieden musste. Die Endgültigkeit, dass Desirees Tage unwiederbringlich gezählt waren, schnürte ihm die Kehle zu. „Sei nicht traurig, mein Junge. Wenn ich gehe, gehe ich heim zu unserem Vater im Himmel. Er wird dort sicher einen Platz für mich haben“, erklärte Desiree, die seine Gedanken erraten hatte.

Elias’ Stimme brach. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Die Menschen glauben schon so lange daran, nach ihrem Tod in den Himmel zu kommen. Was kann daran so verkehrt sein? Du weißt, dass ich nicht tiefgläubig bin. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass es Gott gibt. Die Geschichten über Jesus, seine Geburt, sein Leben und seine Auferstehung waren für mich immer tröstlich.“

„Aber beweisen kannst du es nicht!“, erwiderte Elias forsch.

„Nein, Glaube beginnt aber auch im Herzen. Du solltest nicht daran zweifeln, dass ich in den Himmel komme, wenn du mich in Frieden sterben lassen möchtest. Es gibt mir Kraft zu wissen, dass mein Leben nicht endgültig vorbei ist. Ich kann nur gewinnen durch meinen Glauben an Gott. Verstehst du?“

„Oh ... Entschuldigung! Ich weiß nicht, was ich mit meinem Einwand bezwecken wollte. Vergiss es einfach“, antwortete Elias halbherzig.

„Danke. Bist du bereit, damit ich endlich anfangen kann zu erzählen?“

„Ja ... nein, vielleicht sollte ich vorher noch etwas mit dir besprechen.“

Desiree verdrehte die Augen. „Was denn jetzt noch? So scharf scheinst du gar nicht darauf zu sein, von deinem Vater zu erfahren.“

Elias knurrte, so wie er es als Kind getan hatte, wenn ihm die Worte seiner Mutter unrecht oder falsch vorgekommen waren. Desiree musste schmunzeln.

„Darf ich deine Geschichte aufschreiben? Um sie später erneut lesen zu können.“

Elias’ Mutter kniff die Augen zusammen. „Oder um sie teuer zu verkaufen nach meinem Ableben ...“

„Äh ... nein. Daran hatte ich gar nicht gedacht“, erwiderte Elias ehrlich.

„War nur ein Spaß. Du kannst damit machen, was du willst. Ich habe meine Vergangenheit nur deinetwegen geheim gehalten. Aber du musst deinen Vater um Erlaubnis fragen, wenn du den Text wirklich einmal veröffentlichen möchtest. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Natürlich.“ Elias stand auf und holte aus der Garderobe seinen Laptop. Er schaltete ihn im Gehen ein. Wenige Sekunden später saß er wieder auf seinem Platz. „Wie soll ich deine Geschichte nennen?“

„Insel der verlorenen Träume“, kam es etwas zu schnell zurück.

Elias runzelte fragend die Stirn.

„Du wirst es am Ende verstehen“, erklärte ihm seine Mutter.

Viele Tage vergingen, ehe Elias alles aufgeschrieben hatte. Nach seiner Arbeit als Produktionsleiter in einer Firma, die Motorräder baute, kam er stets zu Desiree. Er legte sein gesamtes Privatleben auf Eis, was ihm nicht sonderlich schwerfiel, seitdem Michaela nicht mehr da war. Auch die Wochenenden verbrachte er bei seiner Mutter. Wenn sie vor Erschöpfung einschlief, Essenszeit war oder das Hygieneprogramm anstand, arbeitete Elias von seinem Laptop aus. Das Internet war überaus praktisch, wenn man nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnte.

Als es Desiree schlechter ging und das Reden immer mühsamer wurde, nahm sich Elias frei, um den ganzen Tag bei ihr sein zu können. Stefan und seine Schwestern kamen nun auch täglich, um sie zu sehen. In dieser Zeit versuchte Elias, seinem Chef für die kurzfristige Freistellung zu danken, indem er trotzdem die wichtigsten Arbeiten anging, die keinen Aufschub duldeten.

Doch der ständige Besuch ermüdete Desiree noch mehr, sodass kaum Kraft übrig blieb, um weiterzuerzählen. Elias fürchtete schon, er würde nicht mehr alles erfahren. Der Arzt machte ihnen auch kaum mehr Hoffnung. Es würde bald so weit sein.

Sogar Pater Florian ließ es sich nicht nehmen, Desiree die Krankensalbung zu verabreichen. Sie vertraute dem Priester und es schenkte ihr Trost, dass er sie besuchte. Elias wusste nicht, was sie mit ihm besprach, aber es schien dringend zu sein. Nachdem Pater Florian gegangen war, hatte sich etwas in ihr gelöst. Sie wirkte friedlich, legte ihre letzte Kraft in die Geschichte für ihren Sohn.

Gerade mal zwei Tage bevor Desiree Benjamin dem Krebs erlag und ihren letzten Atemzug machte, tippte Elias das finale Schlusszeichen der Geschichte in seinen Laptop.

Insel der verlorenen Träume

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